Berlinale 2009

von Patrick Wellinski / 4. September 2010

 

Special: Das Filmszene-Tagebuch zu den 59. Internationalen Filmfestspielen von Berlin

Vom 5. bis zum 15. Februar findet die diesjährige Berlinale statt, und macht die deutsche Hauptstadt für diese Zeit auch zum Zentrum der Filmwelt. Unser Redakteur Patrick Wellinski ist mit dabei und berichtet täglich von den neuesten Ereignissen und wichtigsten Filmen des Festivals.

Sonntag, 15.2.2009: Kluge Entscheidung - eine Bilanz

Tilda Swinton und ihre Jury haben nicht enttäuscht. Sie prämierten die würdigsten und wirklich besten Filme eines durchschnittlichen - aber keineswegs schwachen - Wettbewerbs. Ein Jahr vor dem 60. Geburtstag sollte die Berlinale aber neuen Mut schöpfen und sich auf die eigene Tradition besinnen.

Am Ende müssten eigentlich alle zufrieden sein. Als die Jury den Goldenen Bären an Claudia Llosas Film "La teta asustada" vergab, gab es neben Freudentränen und Glücksschreien auch ein kleines musikalisches Ständchen der jungen Hauptdarstellerin in der seltenen Indianersprache 'Ketschua'. Llosa erzählt in ihrem zweiten Spielfilm vordergründig von einem Mädchen, das den Tod ihrer Mutter verkraften muss. Neben den, für westliche Augen, immer wieder exotisch wirkenden Bildern werden hier aber auch sehr schön die sozialen Gegensätze Perus deutlich. "La teta asustada" bringt in seiner Erzählung auch sehr subtil die Folgen der Massenvergewaltigungen an indianischen Frauen durch terroristische Partisanen mit ein. Manche sahen in diesem stillen Film schlichten Ethno-Kitsch, also die Art von Kino, die schon so oft auf der Berlinale gewann. So weit will man nicht gehen. Der diesjährige Siegerfilm wird von einer irrsinnigen mythologischen Spannung gehalten, die sich wohl nie zu 100 Prozent erschließen lassen wird. Es ist ein Film, der ein Geheimnis in sich trägt. 
Tilda Swinton, die Jurypräsidentin, mag diese Art von Kino und sie hat es bereits vor den Filmfestspielen deutlich gesagt. Auch deshalb war die Vergabe des Hauptpreises keine sonderliche Überraschung. Selbst die weiteren Preisträger wurden klug und weise ausgewählt. So gewann der fantastische deutsche Film "Alle Anderen" von Maren Ade neben dem Preis der Jury, auch noch - in der Gestalt von Birgit Minichmayr - den Silbernen Bären für die beste Darstellerin. Es ist ja mittlerweile zu einer Art Tradition geworden, dass deutschsprachige Schauspielerinnen den Silbernen Bären mit nach Hause nehmen (in den letzten Jahren haben u.a. auch Nina Hoss, Julia Jentsch, Nadja Uhl und Sandara Hüller den Preis gewonnen). Dabei fehlte es nicht an starken weiblichen Leistungen im Wettbewerb. Eine Entscheidung zwischen Kerry Fox, Krystyna Janda, Michelle Pfeiffer, Brenda Blethyn, Renee Zellweger oder auch Trine Dyrnholm zu fällen, war sicherlich nicht einfach. 
Dagegen war das Feld der männlichen Leistungen äußerst schmal. Die Entscheidung der Jury, den Preis an den alten und sehr kranken afrikanischen Darsteller Sotigui Kouyate zu geben, ist erfreulich, darf aber auch als eine Art Auszeichnung für sein Lebenswerk verstanden werden. Der von vielen hoch gehandelte Film "The Messenger", darf sich über die Auszeichnung für das beste Drehbuch freuen und selbst der polnische Kinomeister Andrzej Wajda, wurde für seinen aufwühlenden Film "Tatarak" mit dem Alfred Bauer Preis geehrt, der neue Perspektiven in der Filmkunst auszeichnet. Als bester Regisseur wurde der Iraner Asghar Farhadi prämiert, der mit seinem exzellenten Film "Darbareye Elly" für eines der wenigen Highlights im Wettbewerb sorgte. 
Auch der eigentliche Gewinner des Abends kommt - wie der Sieger des Goldenen Bären - aus Südamerika. Andrian Biniez' "Gigante" gewann ganze drei Preise (für den besten Debütfilm, den Alfred Bauer-Preis [geteilt mit "Tatarak"] und den großen Preis der Jury ]geteilt mit "Alle Anderen"]). Die stille, humorige Geschichte über einen großen, trägen Nachtwärter, der sich per Überwachungskamera in eine Putzfrau verliebt, wurde durch die Laudatoren für seine neue Art der Erzählkunst gelobt. Allein diese Begründung verwirrte dann doch. Schließlich steht "Gigante" in einer gar nicht so ungewöhnlichen Reihe von jungen südamerikanischen Filmen, die auf der Berlinale schon seit vielen Jahren Preise gewinnen. Die Verleihung bestätigte indes die Regel, dass die lateinamerikanischen Wettbewerbsfilme unberechenbar sind. Filme wie "El abrazo partido", "El otro" oder auch "Lake Tahoe" bewiesen schon in vergangen Festivaljahrgängen, dass die Kinolandschaft Südamerikas sehr vital und energisch ist.

Zahlen, Fakten und gemischtes Presseecho

Das Presseecho ist, was die Bewertung dieser 59. Berlinale angeht, äußerst verhalten. Viele bemängeln die Schwäche des Wettbewerbs. Tatsächlich muss man an dieser Stelle zugeben, dass dieses Jahr ein Film fehlte, mit dem sich alle hätten messen müssen. Es gab kein Werk, dessen Bilder zum ultimativen Spiegel des Festivals wurden. Man kann wohl nicht jedes Jahr einen "There Will Be Blood" erwarten. Eigentlich hätte Gus Van Sants "Milk" auf der Berlinale laufen sollen. Der achtmalige Oscar-Nominierte hätte dem Wettbewerb sicherlich ganz gut getan. Doch leider geriet der Weltverleih durch die Finanzkrise unter Druck und verschob kurzerhand den internationalen Filmstart. Damit war der Film für den Wettbewerb eines A-Festivals leider nicht mehr zu gebrauchen und wurde nur als Spezial-Premiere im Panorama gezeigt. 
Außerdem bestätigten einige Kollegen die Gerüchte, dass das Festival von Cannes zwei fest eingeplante Wettbewerbsbeiträge Berlins weggeschnappt hat. Solche Nachrichten gibt es seit ein paar Jahren immer häufiger zu hören. Auch sie erschweren es zusätzlich, den aktuellen Seelenzustand der Berliner Filmfestspiele zu verorten. Was war das eigentlich für eine Berlinale dieses Jahr? Eine Frage, auf die es keine eindeutige Antwort gibt. Zum einen liest man die erfreulichen Pressemitteilungen des Festivals selber, und die klingen natürlich wie eine reine Erfolgsgeschichte: "Die Berlinale 2009 zeigte insgesamt 383 Filme in 1238 Vorführungen. Das Interesse seitens der Fachbesucher als auch des Publikums war beeindruckend: Nahezu 20.000 Akkreditierte aus 136 Ländern kamen zum Festival und mit rund 270.000 verkauften Tickets wurde ein neuer Publikumsrekord erzielt." Würde man den Erfolg eines Publikumsfestivals rein an den Einkünften aus dem Kartenverkauf messen (und das sollte man im Fall der Berlinale zu einen gewissen Teil auch tun), dann wäre diese 59. Ausgabe wirklich ein totaler Erfolg. Der "European Film Market" vermeldet gute Geschäfte, doch hier kann von einem fantastischen Erfolg nicht die Rede sein. Gerade an diesem Ort, wo die Finanzen den Ton diktieren, hat sich die Wirtschaftskrise deutlich bemerkbar gemacht.

Ein Festival driftet auseinander

Die Berlinale lässt sich in drei separate Teile gliedern, die seit geraumer Zeit immer weiter auseinander driften. Zum einen ist da der soeben erwähnte Filmmarkt, der ohne Zweifel als der eigentliche Motor des Festivals anzusehen ist, obwohl er in der Öffentlichkeit nicht wirklich präsent ist. Wenn die Deals, die hier geschlossenen werden, im nächsten Schritt zu großen und erfolgreichen Filmen führen, ist das mehr als nur eine Visitenkarte, die viele internationale Gäste, Händler und Künstler in die Stadt kommen lässt. 
Die zweite Ebene ist die Berlinale als Publikumsfestival. Im Gegensatz zu Cannes und Venedig, die kein "normales" Publikum kennen, sind die zehn Festivaltage in Berlin für Jedermann offen. Unter der Leitung des Festivaldirektors Dieter Kosslick wurde dieses Profil immer stärker betont. So gibt es neue Reihen, wie zum Beispiel das "kulinarische Kino", und immer mehr Berliner Kinos werden in den Festivalbetrieb eingebunden. Das garantiert weit verbreitete Begeisterung. Es ist erstaunlich, mit welcher Beharrlichkeit und Leidenschaft die Menschen hier stundenlang an den Ticketschaltern anstehen und in Filme pilgern, von denen sie eigentlich nichts wissen. Es herrscht eine Offenheit dem Kino gegenüber, die man sich auch im restlichen Jahr bei den deutschen Kinogängern wüschen würde. 
Und drittens ist da noch die Berlinale als sich selbst auflösendes Festival, bei dem die klaren Grenzen zwischen den Reihen immer mehr verschwimmen. Bevor Dieter Kosslick kam, tobte phasenweise ein enormer Streit zwischen den einzelnen Festivalsektionen. Besonders stark war diese Auseinandersetzung zwischen dem Forum und dem Wettbewerb. Das Forum, einst als Abspaltung und bewusstes Gegenstück zum Wettbewerb entstanden, versteht sich als mutigste und offenste Sektion der ganzen Filmfestspiele. Doch seit der Kosslick-Ära haben diese Streitigkeiten ein Ende. Alle Sektionsleiter sitzen im Gremium, das über die Filme des Wettbewerbs entscheidet. Die Grenzen verwässern, teilweise lösen sie sich sogar auf. Das kommt besonders der Wettbewerb zu spüren. All zu oft wirken die Filme hier wie Kompromisse. Wirklich herausforderndes und mutiges Kino - welches sehr wohl auf der Berlinale läuft - wird nicht ins Rennen um die Bären geschickt. 
Das kann man nur zum Teil verstehen. Warum nicht mal etwas Extremes wagen und einen Film wie "Love Exposure" in den Wettbewerb hieven? Dieses schräge und mit dem Filmkritikerpreis der FIPRESCI ausgezeichnete Werk stellt neue Ansprüche an das Publikum, denn schließlich muss man die vier Stunden im Kinosessel erstmal aushalten. Auf der anderen Seite muss der Wettbewerb aber auch ein gewisses Promi-Verlangen stillen. Die ganz großen Stars müssen kommen. Sie müssen ihre hübschen Näschen in die Kameras der Fotografen halten, sonst verspielt man schnell den Status eines A-Festivals.

Ein Blick zurück und zwei nach vorn

Die Berlinale hat aber auch Schwierigkeiten, die nicht alle selbstverschuldet sind. Viele werden es nicht wissen, aber als das Festival gegründet worden ist, fand es im Sommer statt. 1978 verlegte der damalige Leiter Wolf Donner das Festival in den Februar und versuchte mit Wollmützen die Journalisten von diesem Schritt zu überzeugen. Der Grund war ein ganz verständlicher: Man wollte eine größere zeitliche Distanz zu den großen Konkurrenten aus Cannes und Venedig schaffen. Das hat auch erstaunlich lange funktioniert. Als die Oscars noch im März bzw. im April verliehen wurden, bekam die Berlinale eine zusätzliche Aufwertung, da hier oft Filme mitkonkurrierten, die auch im Rennen um die Oscars dabei waren. Doch diese Zeiten sind vorbei. Nicht nur, dass die Oscars mittlerweile eine Woche nach den Berliner Filmfestspielen verliehen werden und viele Hollywoodstars lieber im sonnigen Los Angeles bleiben, auch die internationale Filmlandschaft ist expandiert. Im Januar gibt es das renommierte Sundance-Festival und kurz darauf die nicht zu verachtenden Filmfestspiele von Rotterdam. Der Kalender wird immer enger, doch eine Ausweichmöglichkeit gibt es nicht mehr.

Wie könnte eine mögliche Lösung also lauten? Vielleicht sollte man damit anfangen, die Filme des Wettbewerbs nicht nach thematischen Schwerpunkten zusammen zu stellen, sondern rein nach Qualität. Die Leerformel vom politischen Festival sollte auch nicht weiter bemüht werden. Oder ist ein Film, wie "Die Klasse" von Laurent Cantet nicht politisch? Die Entscheidung den Goldenen Bären 2009 an eine junge Filmemacherin zu vergeben, die gerade erst ihren zweiten Film gemacht hat, könnte eine neue Richtung aufzeigen. Wenn schon die ganz großen Autorenfilmer wie Pedro Almodóvar, Ang Lee, Quentin Tarantino, Lars von Trier, Michael Haneke, Jane Campion, die Coen-Brüder, Jim Jarmusch, Fatih Akin und Wong Kar-Wai nur nach Cannes gehen und wenn überhaupt dann in Berlin nur kleine Zweitwerke präsentieren, könnte sich die Berlinale auch gleich ganz programmatisch und offensiv der Jugend widmen. Neue aufregende Stimmen suchen, die den Mut haben etwas zu wagen. Ansätze für diesen Trend zeigen jüngere Siegerfilme wie "La teta asustada", "Grbavica" oder sogar "Gegen die Wand" auf.

Nächstes Jahr wird die Berlinale 60. Es gibt wohl keinen besseren Moment, um zu beweisen, dass man am besten nicht mit dem Strom schwimmt, sondern gegen ihn. Zudem kann man sich dann auch noch auf die eigenen Wurzeln besinnen (die nicht unbedingt im "politischen Film" zu suchen sind) und an die weisen Worte des ehemaligen Festivalleiters Wolf Donner erinnern: "Die internationale Filmwelt braucht die große turbulente Messe von Cannes, träumt aber von einem ambitionierten, dem künstlerischen Film gewidmeten Festival, das Berlin und Venedig einmal waren."

Die komplette Liste der von der Jury ausgezeichneten Gewinner:

Goldener Bär: „La teta asustada“ von Claudia Llosa

Silberner Bär, Großer Preis der Jury: „Gigante“ von Adrián Biniez und „Alle anderen“ von Maren Ade

Silberner Bär für die beste Darstellerin: Birgit Minichmayr in „Alle anderen“

Silberner Bär für den besten Darsteller: Sotigui Kouyaté in „London River“

Silberner Bär für die beste Regie: Asghar Farhadi für „Darbareye Elly“

Silberner Bär für eine herausragende künstlerische Leistung: Gábor Erdélyi und Tamás Székely für das Sounddesign in „Katalin Varga“

Silberner Bär für das beste Drehbuch: Oren Moverman und Alessandro Camon für „The Messenger“

Alfred-Bauer-Preis: „Gigante“ von Adrián Biniez und „Tatarak“ von Andrzej Wajda

Bester Erstlingsfilm: „Gigante“ von Adrián Biniez

Mehr Informationen auf der offiziellen Website www.berlinale.de

 

Freitag, 13.2.2009: Gegen den Strom und Qualität aus Deutschland

Das Festival nähert sich seinem Ende, und der polnische Altmeister Andrzej Wajda rollt den Wettbewerb von hinten auf. Es ist Zeit, die ersten Resumees zu ziehen, und dabei kann man feststellen, dass die Talente des deutschen Kinos durchaus Endruck hinterlassen haben. Und ein paar gewagte Prognosen zu den anstehenden Preisträgern haben wir auch....

Es ist vielleicht das schönste Festivalplakat. Alle anderen Poster wollen die Aufmerksamkeit der Passanten erhaschen, sie blicken einen an, so wie das blauäugige Baby aus François Ozons "Ricky". Auch das Mädchen aus "The Milk of Sorrow" scheint dem Betrachter direkt in die Augen zu sehen. Doch auf diesem einen, ganz besonderen Plakat sucht man nach solchen Signalen vergebens. Man sieht darauf eine Frau, die auf einem Bett sitzt, die Beine leicht angewinkelt. Sie blickt auf einen toten Punkt im Raum, der ansonsten leer und dunkel ist. Der dazugehörige Film stammt vom polnischen Altmeister Andrzej Wajda. "Tatarak" ist vordergründig die Verfilmung des gleichnamigen Romans des polnischen Schriftstellers Jaroslaw Iwaszkiewicz, mit der Grand Dame des polnischen Kinos, Krystyna Janda in der Hauptrolle. Den Dreharbeiten kam aber das Leben dazwischen, denn Jandas Ehemann Edward Klosinski (der als Kameramann auch ein Weggefährte Wajdas war) starb währenddessen an Lungenkrebs. Janda dokumentierte in ihrem Tagebuch den Schmerz, die Verzweiflung und Zerrissenheit dieser Phase, in der sie sich nicht entscheiden konnte, ob sie die Rolle in dem neuen Wajda-Film fallen lassen soll und bei ihrem Ehemann bleiben oder nicht. 
"Tatarak" ist deshalb ein anderer Film geworden als ursprünglich geplant. Wajda lässt Janda in einem Hotelzimmer ihre eigenen Tagebuchaufzeichnungen lesen. Die Kamera ist starr, wenn diese wunderbare Darstellerin in diesem kleinen Zimmer den Schmerz der Trauer vor uns ausbreitet. Dann sehen wir wieder Szenen vom Set und sehen, wie Wajda mit Janda zusammen im Drehbuch blättert. Schließlich gibt es da auch noch die dritte Ebene dieses Films und zwar den Film "Tatarak" selber, in dem Janda eine krebskranke Frau spielt, die nicht weiß, dass sie bald sterben wird und sich auf ihre alten Tage in einen jungen Mann verliebt. 
Es geht um den Tod in diesem brutalen Beitrag, der sicherlich vielen an die Nieren gehen wird. Doch dieses Requiem für einen Freund ist nicht nur der erwachsenste Film des ganzen Wettbewerbs, sondern auch der persönlichste. Eigentlich passt Wajdas Werk nicht auf ein Filmfestival, wo doch der Glamour, das Junge und Schöne erwartet wird. Wie das Plakat mit dem Edward Hopper-Touch will "Tatarak" niemanden begeistern und sich niemandem an den Hals werfen. Er will hier nicht gewinnen, nicht im Blitzlichtgewitter der Fotografen stehen. Er ist durch und durch introvertiert, in sich selbst versunken und will auch nichts anderes sein. Es ist hartes und kompromissloses Kino, das den offiziellen Wettbewerb beschließt. Doch die Elemente des Films: Tod, Vergänglichkeit, Licht und Schatten, veranlassen einen etwas zu tun, was man im hektischen Festivalstress eigentlich selten tut. Man bleibt am Ende des Films sitzen. Für einen kurzen Moment ist man ganz bei sich. Mal allein sein. Stille. Das ist vielleicht das Einzige, was auf einem Festival wirklich zählt.

Die 18 Bärenanwärter sind also durch. Morgen beschließt Costa-Gavras' Film "Eden a l'ouest" das Festival. Die einzige Frage, die hier die Kritiker und auch das Publikum interessiert, lautet: Wer wird gewinnen? Diese Frage kann man nur in drei Schritten beantworten. Fangen wir mit der Festivalstatistik an. Seit nun ziemlich genau 15 Jahren gelten für die Vergabe der Bären folgende Regeln. Erstens: Es gewinnt immer ein Film, der an den ersten fünf Tagen gezeigt wurde (einzige Ausnahme bisher war Fatih Akins "Gegen die Wand", der am letzten Tag gezeigt worden ist). Zweitens: Es gewinnt immer ein Film, der der Presse (und der Jury) um neun Uhr früh gezeigt wurde (hier ist "Intimacy" von 2001 die einzige Ausnahme, der in der zweiten Pressevorstellung des Tages vorgeführt worden ist, aber an den ersten fünf Tagen lief). Wenden wir diese Regeln streng an und schließen mögliche Ausnahmen aus, dann haben "Little Soldier", "About Elly", "Gigante", "Alle Anderen" und "London River" mit Abstand die besten Chancen auf einen Sieg.
Der nächste Schritt beim Wahrsagen führt zu den Kritikerspiegeln, die in zahlreichen Zeitungen geführt werden. Dort liegen, je nach Medium, entweder Rachid Boucharebs sensibles Drama "London River", neben Oren Movermans US-Indie "The Messanger", Maren Ades Beziehungsdrama "Alle Anderen" und Hans Christian Schmids "Storm" vorne. 
Der letzte Schritt - sicherlich der spekulativste - muss sich in die Köpfe der Jury hineinversetzen. Was werden die auserwählten Mitglieder unter der Präsidentin Tilda Swinton auszeichnen? Wird es um vordergründig politische Themen gehen, dann könnte tatsächlich "The Messanger", "London River" oder gar "Storm" siegen (selbst "Little Soldier" dürfte sich hier berechtigte Hoffnungen machen). Vielleicht werden ja eher neue Formen prämiert? Dann nämlich könnte es zur großen Überraschung kommen, wenn nämlich François Ozon (mit "Ricky"), Maren Ade oder sogar der Iraner Asghar Farhadi ("About Elly") den Goldenen Bären gewinnt. Schließlich darf man gewisse Exoten - wie die tollen südamerikanischen Beiträge - nicht aus den Augen lassen. Man sieht: alles reine Spekulation. Da jeder, der hier die Sieger vorhersagen möchte, sich nur blamieren kann, aber jeder, der es nicht wagt, ein Feigling ist, kommen hier unsere Vorschläge:

Goldener Bär für den Besten Film an "About Elly"

Silberner Bär - Großer Preis der Jury an "Alle Anderen"

Silberner Bär - Beste Regie an Claudia Llosa für "La teta asustada"

Silberner Bär - Beste Darstellerin an Brenda Blethyn für "London River"

Silberner Bär - Bester Darsteller an Horacio Camandulle für "Gigante"

Silberner Bär - Herausragende künstlerische Leistung (Bereiche: Kamera, Schnitt, Musik, Kostüm oder Set-Design) an für "Forever Enthralled"

Alfred-Bauer-Preis (in Erinnerung an den Gründer des Festivals, für einen Spielfilm, der neue Perspektiven der Filmkunst eröffnet) an "Ricky"

Made in Germany - Ein filmisches Gütesiegel

Die Aufmerksamkeit von Medien und Filmwelt auf der Berlinale ist für deutsche Produktionen und Künstler eine einmalige Chance, auf dem heimischen Markt von sich reden zu machen, und die Filmfestspiele würdigen den deutschen Nachwuchs seit nunmehr acht Jahren mit der Sektion "Perspektive Deutsches Kino". Hier sind ausnahmslos neue Werke von jungen, aufstrebenden Regisseuren zu sehen, viele von ihnen noch mitten im Studium auf der Filmhochschule. Das gilt auch für die meisten Beiträge des diesjährigen Programms, dessen Großteil aus Kurzfilmen bestand, die von den Studenten als Abschlussarbeiten ihres jeweiligen Studienjahrs angefertigt wurden. Der Regie-Nachwuchs bewies dabei durch die Bank sehr sichere Hand bei der Inszenierung zum Teil auch schwieriger Geschichten, und es sollte nicht wundern, wenn man Namen wie Stefan Schaller, Lars-Gunnar Lotz oder Piotr J. Lewandowski demnächst im Vorspann prestige-trächtiger Fernsehfilme wieder findet. 
Ein besonderes Highlight gelang dabei Elmar Süzcs mit seiner Dokumentation "Wir sind schon mittendrin". Ausgelöst von der Geburt seines ersten Kindes macht sich der Regiestudent kurz vor seinem 30. Geburtstag Gedanken darüber, inwiefern er und seine Generation eigentlich da angekommen sind, wo sie hinkommen wollten. Süzcs trommelte seine drei besten Schulfreunde zusammen und man fuhr zusammen übers Wochenende nach Amrum, um symbolisch die eigene Jugend zu begraben und darüber zu philosophieren, was aus ihnen und ihrer Generation inzwischen geworden ist.
Das klingt vielleicht etwas theoretisch, ist jedoch eine wundervoll eingefangene und nur allzu wahre Bestandsaufnahme, die wohl ein jeder Mensch um die 30 (oder auch schon darüber) zu guten Teilen unterschreiben wird. Alle vier der Freunde stecken immer noch oder aufs Neue im Studium, keiner ist so richtig da, wo er eigentlich hin wollte, und alle haben sich schwer getan in einer Welt, die ihnen nichts vorschrieb und ihnen alle Möglichkeiten offen ließ. Eine Generation, die alles machen konnte, aber letztlich herzlich wenig geleistet hat. Diese Perspektiv- und Identitätslosigkeit bringen Süczs' Freunde in herrlich trockenen, wahren Worten auf den Punkt - selten waren Männergespräche überm Bier derart zitierwürdig. Am Ende des Trips macht Süzcs seinen Kumpels einen Vorschlag: Anstatt wie geplant ihre Jugend zu begraben, an der sie doch noch alle sehr hängen, sollten sie etwas anderes symbolisch zu Grabe tragen - ihre Entscheidungslosigkeit. Die Freunde starren ihn mit offenem Mund und völlig baff an, bis es aus einem begeistert herausplatzt: "… Alter!". Nicht die einzige Szene, die die Journalisten in der Pressevorführung herzhaft auflachen und spontanen Szenenapplaus spenden ließ. Ein kluger, hervorragend arrangierter Film, der sich trotz nur 61 Minuten Laufzeit eine Ausstrahlung auf dem Sendeplatz des "kleinen Fernsehspiels" im ZDF mehr als verdient hätte.
Gute Chancen auf einen regulären Kinolauf hat hingegen "Dorfpunks" von Lars Jessen, der mit seinem Erstling "Der Tag, als Bobby Ewing starb" bereits den Max-Ophüls-Preis gewonnen hat. Jessen bleibt seinem historischen Setting der frühen 80er treu, und nach seiner eigenen Kindheit in einer Späthippie-Kommune von Atomkraftgegnern arbeitet er nun die Jugend von Rocko Schamoni auf, basierend auf dessen autobiographischem Roman. "Dorfpunks" macht keine großen Wellen und ist auch angenehm frei von jedem nostalgischen Pathos. Das ziellose "Rebellieren" der Punker in der Einöde an der Ostseeküste ist liebenswürdig sinnfrei und uninspiriert, die Punk-Uniform mehr eine willkommene Ausrede zum öffentlichen Bierkonsum als ein ernsthaftes Statement. Es ist herrlich komisch, wenn die Jung-Punks versuchen, die politische Aussage ihres Tuns auf den Punkt zu bringen, und sich dabei heillos in großen Vokabeln verheddern. Eine ziemlich verpeilte Truppe, der man über 90 Minuten gerne zuschaut, bis der Bandleader dann (richtigerweise) erkannt hat, dass der wahre Punk woanders abgeht.

Das sehr überzeugende Programm der Perspektive Deutsches Kino hatte allerdings das Pech, ein Opfer des engen Festival-Kalenders zu werden. Wer es als Berichterstattender Journalist pünktlich zu den Pressevorführungen um 14 Uhr schaffen wollte, musste an den meisten Tagen die Mittagsaufführung eines neuen Wettbewerbsfilms vorzeitig verlassen oder ganz streichen. So blieben die Perspektive-Pressevorführungen vergleichsweise dünn besetzt und das mediale Echo dementsprechend gering. 
Gerappelt voll war es dagegen bei den Screenings der "Berlinale Special"-Sektion, wo wettbewerbsfreie Filme die Chance bekommen, von der medialen Aufmerksamkeit auf dem Festival zu profitieren. Die zumeist abends angesetzten Pressevorführungen waren oft der eigentliche "Main Event" des Tages, und gleich drei aufwändige deutsche Produktionen konnten hier nachhaltig überzeugen. Dass Deutschland Historien-Kino im großen Format und mit international absolut konkurrenzfähiger Extraklasse herstellen kann, bewies das Triumvirat aus "John Rabe", "Effi Briest" und der Hildegard Knef-Biographie "Hilde" mit Heike Makatsch auf beeindruckende Weise.

Eine sehr unrühmliche Ausnahme gab es allerdings auch zu betrachten: In "Pink" lässt der Regisseur Rudolf Thome seine Titelheldin, eine "wilde Punk-Poetin" (Dialogzitat) die Wahl zwischen ihren drei glühendsten Verehrern treffen, indem sie deren Eigenschaften und Vorteile mit einer Zehnerskala bewertet und die Ergebnisse addiert.Der Gewinner wird geheiratet. Nach 82 Minuten und zwei Trennungen ist Pink dann bei der Erkenntnis angekommen, dass die richtige Wahl natürlich der Herr mit den wenigsten Punkten gewesen wäre. Dazwischen quält sich der Zuschauer durch einen unsagbar blöden Film, der es trotz seiner Kürze noch schafft, kostbare Minuten an komplett sinnfreie Szenen zu verschwenden, und von vorne bis hinten nicht funktioniert. Warum diese drei Herren überhaupt so unsterblich in Pink verliebt sind, versteht man zu keinem Zeitpunkt. Offenbar versetzt die Dichtkunst dieser jungen Dame ihre Leser in eine entsprechende Ekstase, zumindest lässt ihre Psycho-Therapeutin nach der Lektüre von Pinks Werken gleich in der zweiten Sitzung jede Professionalität sausen und küsst ihre Patientin. Dumm nur, dass sich die wenigen Textfragmente der "Punk-Poetin", die man im Film zu hören bekommt, ungefähr auf dem Niveau eines Lyrik-Workshops für Teenager bewegen. Die angeblich so faszinierende Titelheldin erscheint - trotz des bemühten Spiels von Hannah Herzsprung - von Anfang an wie eine verwöhnte, selbstverliebte Göre, die sich die meiste Zeit aufführt wie ein aufmerksamkeitsgeiles Arschlochkind. Thome bleibt mit seiner Auffassung, dass Pink eine interessante Figur ist, jedenfalls alleine. Ein schlichtweg peinlicher Auswuchs der alteingesessenen Reste des deutschen "Autorenfilms".

Dass es die jüngere Generation weitaus besser kann, haben die beiden deutschen Wettbewerbsbeiträge "Alle Anderen" von Maren Ade und Hans-Christian Schmids "Sturm" eindrucksvoll bewiesen. Schwächeln tut Schmid hingegen mit seinem zweiten auf dem Festival präsenten Film. In der Forum-Sektion lief seine Doku "Die wundersame Welt der Waschkraft", die sich mit einem typischen Phänomen der freien europäischen Wirtschaftsgrenzen beschäftigt: Die Bettwäsche aller führenden Hotels von Berlin wird von einer deutschen Firma in einer Wäscherei gleich hinter der polnischen Grenze gewaschen. Hier verbringt der Film auch seine meiste Zeit und konzentriert sich dabei auf Arbeitsalltag und Leben dreier Frauen aus der polnischen Belegschaft, ohne dabei jedoch sonderlich Tiefgreifendes oder Erhellendes zu Tage zu bringen. Über die beizeiten bizarren Auswüchse einer globalisierenden Wirtschaft hat man sich anderswo schon mehr gewundert, die Essenz von Schmids 90 Minuten-Doku hätte man auch locker in eine 30-minütige Reportage bekommen.
Eine Enttäuschung im Forum war leider auch "Mitte Ende August", der neue Film von Sebastian Schipper, dank seiner bisherigen Werke "Absolute Giganten" und "Ein Freund von mir" eigentlich schon fast ein Kultregisseur. Seine spärlich erzählte Interpretation von Goethes "Wahlverwandtschaften" lässt jedoch nicht nur die besondere Atmosphäre der Vorgänger vermissen, sondern gibt dem Zuschauer auch viel zu wenig an die Hand um zu begreifen, was sich da eigentlich genau abspielt auf der Leinwand. Da macht sich ein glückliches Paar (Marie Bäumer und Milan Peschel) an die Renovierung eines einsamen Landhauses, bevor ungeplant erst der frisch geschiedene Bruder von ihm (André Hennicke) und dann die quirlig-erotische Patentochter von ihr (Anna Brüggemann) hinzukommen. Warum die glückliche Beziehung dadurch ins Wanken kommt und was deswegen passiert, kann man nie so recht nachvollziehen, da sich die spärlichen Dialoge auf noch weniger als das Nötigste beschränken und man einfach nicht genug über diese Menschen weiß, um sie verstehen zu können - bzw. sich überhaupt sonderlich für sie zu interessieren, was das eigentlich schlimmere Urteil für einen Film ist. Die Schauspieler geben ihr Bestes und brillieren, doch hier spielt sich auf emotionalem Level zu komplexes Zeug ab, um einzig durch vorwurfsvolle und verstörte Gesichter transportiert werden zu können.
Im Panorama zu sehen und schon mit einem sicheren Kinostart im Sommer: "Short Cut to Hollywood", der neue Film des Duos Marcus Mittermeier/Jan Henrik Stahlberg, die vor ein paar Jahren mit dem kontroversen Fast-Geniestreich "Muxmäuschenstill" für eine Menge Aufsehen sorgten. Auch ihr neuer Film ist eine zum Teil zynische Satire und beschreibt die Abenteuer eines desillusionierten Versicherungskaufmanns, der sich mithilfe seiner beiden besten Freunde und Bandkollegen sowie eines waghalsigen Plans doch noch unsterblichen Ruhm sichern will - natürlich in Amerika, wo sonst. Und wer schon bereit ist, sich erst einen Finger, dann einen Arm, dann ein Bein abzuschneiden und sich schlussendlich vor laufenden Kameras umbringen möchte, der findet in den USA auch einen Fernsehsender, der ihn ganz groß raus bringt. Mit dünnem Budget aber sehr einfallsreich produziert, ist "Short Cut to Hollywood" oft absurd komisch, meistens ziemlich clever und manchmal so böse, dass einem das Lachen im Hals stecken bleibt. Ob man das insgesamt (gerade aufgrund des diskutablen Schlusses) gut findet, ist auch eine Frage des eigenen Humors. Zu diskutieren gibt's bei Mittermeier und Stahlberg auf jeden Fall wieder einiges.

 

Donnerstag, 12.2.2009: Traurige Mädchen und brennende Pagoden

Der Wettbewerb biegt auf die Zielgerade. Morgen beendet der Pole Andrzej Wajda den offiziellen Kampf um die Bären. Heute gab es noch Filme aus Peru und Großbritannien zu begutachten. Außerdem setzen wir unsere Reihe über das Asiatische Kino fort und begeben uns nach Japan.

"La teta asustada" beginnt mit einem Schwarzbild und einem Todesgesang. Eine Frauenstimme singt von der eigenen Vergewaltigung. Dann sieht man die alte Frau und ihre Tochter. Fausta, die Tochter, ist bei der Mutter, als diese stirbt. Jetzt muss sie allein durchs Leben. Die peruanische Regisseurin Claudia Llosa wirft einen beeindruckenden Blick auf die Mythen ihres Heimatlandes. "La teta asustada" heißt übersetzt "Milch des Leids" und soll eine Art mythische Krankheit sein, die nur durch die Muttermilch übertragen wird. Die Betroffenen sind immer Frauen. Meistens die, die in Peru während der Jahre des politischen Terrors vergewaltigt wurden. 
Der Film ist eine hinreißende Studie über den Moment der Einsamkeit und den Mut, den es erfordert, wieder zurück ins Leben zu kommen. Dabei zeigt Llosa in ihren Bildern eine wundersame Melange zwischen Moderne und Tradition, die in der agrarischen Umgebung Limas wundersam fremd wirkt. Man muss nicht unbedingt in peruanischen Mythen bewandert sein, um festzustellen, dass "La teta asustada" zu den besten Wettbewerbsbeiträgen gehört.

Der ganz große Glamour-Alarm ist auf der Berlinale inzwischen vorbei, nachdem Weltstars wie Clive Owen und Kate Winslet in der ersten Festivalwoche Hallo und Auf Wiedersehen gesagt haben. Der inzwischen vierte US-amerikanische Wettbewerbsbeitrag "My One and Only" kann immerhin noch mit Renee Zellweger aufwarten, und erzählt mit ihr eine zwar nicht sonderlich relevante, aber zumindest hübsch und unterhaltsam inszenierte Geschichte einer unfreiwilligen Emanzipation. Zellweger spielt Anne, nicht mehr ganz taufrische Ehefrau eines New Yorker Swing-Bandleaders in den frühen 50er Jahren, die ihren notorisch fremdgehenden Gatten verlässt. Dessen Hohn, sie werde kaum wissen, wie sie sich und ihre fast erwachsenen Söhne durchbringen soll, ist berechtigt: Anne ist nicht die Hellste und hat sich in ihrem Leben bisher immer auf ihr blendendes Äußeres verlassen können, um sich damit einen Mann zu sichern, der sich schon um alles kümmern wird. In den 50er Jahren noch eine sehr gängige Mentalität, und so bestehen Annes Pläne auch darin, sich so schnell wie möglich einen neuen Ehemann zu suchen. 
So begibt sie sich mit ihren Söhnen (der eine ein schwuler Modejunkie und purer Comic Relief, der andere ein talentierter Jungautor und reflektierender Off-Erzähler der Geschichte) auf eine Odyssee durch die USA, mit einer neuen Erniedrigung für die heiratsfähige Männer jagende Anne auf jeder Etappe. Das Ganze plätschert ziemlich harmlos dahin und das etwas konstruiert wirkende Ende ist in seiner banalen Versöhnlichkeit typischster Hollywood-Quark. Dass das Ganze aber trotzdem Spaß macht und sich in der Pressevorführung verdienten Applaus abholte, ist den cleveren und scharfzüngigen Dialogen zu verdanken, die mit Schlagfertigkeit und Wortwitz für viele gelungene Lacher sorgen. Die ernsthafte Schwere der meisten Wettbewerbsfilme geht "My One and Only" komplett ab, womit er zumindest für ein bisschen Auflockerung gesorgt hat. Preisverdächtig ist hier jedoch nichts.

Wieder Asien - heute: Japan

Funahashi Atsushi gehört sicherlich zu den interessanteren Vertretern des japanischen Kinos. Er ist ein Filmemacher, der gerne ästhetische Grenzgänge vollzieht und häufig mit verschiedenen Stilen spielt. Sein letzter Film "Big River" war ein umwerfend fotografiertes Road Movie, das in den öden Weiten Arizonas spielte. Sein neuer Film heißt "Deep in the Valley" und könnte unterschiedlicher nicht sein. Er beschreitet semi-dokumentarisch das Stadtviertel Yanaka (Tokyo). Hier verknüpft er in strengen Schwarz-Weiß-Bildern die Geschichte einer jungen Romanze und die Bemühungen einiger Menschen, die berühmte fünfstöckige Pagode wieder zu errichten. 
"Deep in the Valley" denkt über unseren Umgang mit der Moderne nach. Er zeigt, wie leicht die Tradition abhanden kommen kann. Einmal sehen wir eine blinde Frau, die sich rührend um die Gräber der Hinterbliebenen kümmert - ein Bild, welches darauf hinweist, dass wir in einer immer schnelleren Welt leben, die uns die Welt der Geister um uns herum vergessen lässt.

Ein anderer Film aus Japan ist "Naked of Defenses". Gleich am Anfang ist man irritiert, denn er gibt sich so seltsam un-japanisch. Zu allererst sind da die grünen Felder und Wiesen aus denen immer mal wieder große weiße Windräder ragen. Es könnte auch Brandenburg sein. Und noch etwas ist hier seltsam. Es gibt keine Menschen. Die Straßen, Kreuzungen, Wege sind leer. Für japanische Filme, die meistens in Städten spielen und die Menschenmassen als Kulisse nutzen, ist das schon sehr ungewöhnlich. 
Doch in Ichii Masahides schönem Film hat das Setting einen Grund. Die junge Ritsuko war einmal schwanger. Sie verliert das Kind durch einen Autounfall. Seit dem hat ihr Leben keinen Sinn mehr. Sie fühlt sich allein und wie der einzige Mensch auf der Welt. Deshalb auch die vordergründig leeren Bilder des Films. Als eines Tages die lebenslustige und schwangere Chinatsu bei Ritsuko in der Fabrik zu arbeiten beginnt, wird sie sehr schnell neidisch auf Chinatsus Glück. "Naked of Defenses" seziert die Einsamkeit durch seine Form, da mag man die etwas konstruierte Geschichte gerne so hinnehmen. Das versöhnliche Ende im Krankenhaus hat trotz Happy-End-Charakters etwas Ergreifendes. Sehr schön.

 

Mittwoch, 11.2.2009: Pekinger (Seifen-)Oper und der beste Film des Festivals

Im Wettbewerb wechseln sich Licht und Schatten ab: Der bislang größte Reinfall wird von zwei gelungenen Filmen aus den USA und China eingerahmt. Die südkoreanischen Filme des Festivals zeigen indes, dass ihr Land auch alleine enorme Qualitätsschwankungen hinbekommt - mit ziemlichen Gurken ebenso wie mit echten Geheimtipps. Der beste Geheimtipp des Festivals verbirgt sich jedoch ausgerechnet bei den ehemaligen Kinderfilmen der Sektion "Generation"…

Peter Stricklands Regiedebüt "Katalin Varga" spielt in Rumänien. Die Titelheldin muss eines Tages ihren Mann verlassen und begibt sich in die Tiefe des Karpatengebirges. Die Vergangenheit hat sie nämlich eingeholt und zwingt sie nun, den wahren Vater ihres kleinen Sohnes zu finden - ihren einstigen Vergewaltiger. 
Man will sich eigentlich mit diesem lächerlichen Plot nicht weiter auseinandersetzen. Strickland schickt einen weiblichen Racheengel auf die Reise, um ihn schön düster scheitern zu lassen. Dabei nutzt er einen pervers lauten und unheilsverkündenden Soundteppich, der von der ersten Sekunde an klar stellt, dass es mit Katalin kein gutes Ende nehmen wird. Es ist ein katastrophaler Film, voller Klischees, Lügen und Peinlichkeiten, der auf einem A-Festival im Wettbewerb eigentlich gar nichts zu suchen hat.

"Happy Tears" heißt Mitchell Lichtensteins neuer Film und ist der dritte US-amerikanische Wettbewerbsbeitrag. Zwei ungleiche Schwestern (gespielt von Demi Moore und Parker Posey) kommen nach langer Zeit wieder zusammen, um über die Zukunft ihres immer dementer werdenden Vaters (Rip Torn) zu entscheiden. 
Was sich im ersten Augenblick wie konventionelle Dutzendware anhört, entwickelt sich im Verlauf der Handlung zu einer Art amoralischem Märchen. Lichtenstein nutzt immer wieder sehr schöne digitale Manipulationen, um seiner Geschichte einen gewissen surrealen Touch zu geben. "Happy Tears" ist kein großartiger Film. Er zerfällt nach und nach in alle Einzelteile, doch diese Entwaffnung und Unbedarftheit ist zugegeben sehr sympathisch. Dazu kommen noch die sehr überzeugenden darstellerischen Leistungen von Rip Torn und Parker Posey, da kann die solide vom Blatt spielende Demi Moore natürlich nicht mithalten.

Mit "Forever Enthralled" verfilmt Chen Kaige das Leben des berühmtesten Opernstars Chinas im frühen 20. Jahrhundert. Mei Lanfang war nicht nur ein Star im Osten, sondern auch in Europa und den USA, machte die eigentümliche Peking-Oper auf der ganzen Welt berühmt und beeinflusste andere Künstler wie Charlie Chaplin, Sergej Eisenstein, Mary Pickford oder auch Bertolt Brecht (der anhand von Mei Lanfangs Performances seine Theorie vom Verfremdungseffekt aufstellte). Doch dies kommt im Film merklich wenig vor. Der Film ist überhaupt kein klassisches Biopic geworden. Zwar ist auch hier die Hauptperson am Anfang klein und am Ende ganz groß, aber Kaige konzentriert sich mehr auf die Menschen, die Lanfang begleiten und umgeben. 
Der mit zweieinhalb Stunden viel zu lang geratene Film gliedert sich in drei Teile. Im ersten wird gezeigt, wie der junge Opernsänger sich gegen die damals gängige Tradition stellt, Gefühle auf der Bühne zu verweigern. Der zweite Teil zeigt die Bemühungen seiner Mentoren und Manager ihn dazu zu bewegen, eine USA-Tour zu machen, und im letzten Drittel des Films geht es um Lanfangs Verweigerung sich in dem durch Japan besetzten China zu Propagandazwecken benutzen zu lassen. 
Nur hier wird Kaige inkonsequent. Bis hierhin hat er es erstaunlicherweise geschafft, den Opernstar nicht zu mythisieren. Mei Lanfang bleibt eine Leerstelle. In seiner Verweigerungshaltung scheint aber das nationale Heldentum unnötig auf. Diese politische Korrektheit nimmt dem Film viel von seiner Stärke. Zudem betreibt er in diesem Moment Geschichtsklitterung, da er verschweigt, dass der wahre Mei Langfang während der Okkupation in Japan sehr wohl private Vorstellungen gab. Ansonsten ist dem Regisseur aber ein sehr ansehnlicher Film gelungen, der nur manchmal statt zur Peking-Oper eher zur Seifenoper mutiert.

Nichts geht mehr

Das asiatische Kino ist gewohnt zahlreich auf der ganzen Berlinale vertreten. Dabei schwankt die Qualität der Filme erheblich. Damit sind enorme Enttäuschungen leider vorprogrammiert. Bei ganzen sechs Filmen aus Südkorea (die allesamt im Forum laufen) wird dies besonders deutlich. Als repräsentativ dürfen da die Filme "Land of Scarecrows" von Roh Gyeong-Tae und "Members of the Funeral" von Schii Masahide gelten. 
"Land of Scarecrows" gibt sich karg und formal äußerst streng. Der ganze Film besteht aus statischen Einstellungen und nur im letzten Bild zoomt die Kamera auf eine der Hauptpersonen. In Gyeong-Tae's Film erkennt eine Frau, dass sie eigentlich ein Mann ist und versucht sich auf einer philippinischen Brautschau eine Ehefrau zu kaufen. Außerdem versucht ein junger Tellerwäscher, der von zu Hause verbannt worden ist, wieder Glück zu finden. Dann gibt es noch allerhand Kurioses zu entdecken, wie Fische mit Menschenköpfen in Formaldehyd, verseuchtes Essen, ausgestopfte Tiere und viele Grenzüberschreitungen. Immer wieder laufen die Menschen über eine Brücke von Südkorea auf die Philippinen und wieder zurück. Alles ist furchtbar bedeutungsschwanger und prätentiös. Irgendwann sagt ein Priester: "Everything fucks everything." Das fasst den Film wunderbar zusammen. 
"Members of the Funeral" erscheint zunächst als heiterer Rückblendenfilm, in dem bei einer Totenfeier die Beziehungen dreier Menschen zu dem verstorbenenTeenager erzählt werden sollen. Der Tote kommentiert dies alles aus dem Off. Die anfängliche Heiterkeit und die ironischen Grundzüge erweisen sich jedoch schnell als Fake und Masahides Films entschließt sich auf triviale und uninteressante Art von Entfremdung und Einsamkeit zu palavern. Ein ziemlich frustrierendes Kinoerlebnis.

Dass man es in Südkorea auch wesentlich besser kann, beweisen dafür zwei andere Filme. Auf "Treeless Mountain" wurde ja bereits gestern verwiesen, das andere Beispiel heißt "My Dear Enemy" von Lee Yoon-Ki. Sein Film ist ein charmantes Roadmovie, welches phasenweise an die Leichtigkeit früher Frank Capra-Filme erinnert. Am Anfang scheint die Kamera rein zufällig eine junge Frau zu fokussieren und folgt ihrem Weg durch ein Wettbüro. Hier trifft Hee-Su ihren Ex-Freund Byung-Woon, der ihr noch viel Geld schuldet. Kaum hat sie ihn vor allen zusammen geschrieen, verspricht ihr das Schlitzohr, die Summe noch am heutigen Tag vollständig zurück zu zahlen. Beide steigen ins Auto und fahren los. 
Ab hier folgt der Film dem Paar durch Seoul. Natürlich hat Byung-Woo so viel Geld nicht auf Anhieb parat, aber seine lockere Lebenseinstellung erlaubt es ihm bei verschiedenen Menschen um Geld zu bitten. Das ist Hee-Su natürlich völlig unangenehm, doch sie will Byung-Woon den Schmerz der Trennung heimzahlen. Die Reise durch Seoul wird so zur Bestandsaufnahme einer Metropole mit all ihren Gegensätzen und wer am Ende meint er wisse, wie der Hase läuft, wird in wirklich liebenswürdiger Manier eines Besseren belehrt. Komödien sind auf der Berlinale leider durch alle Sektionen hinweg Mangelware, daher sollte man gelungene Vertreter dieses Genres - wenn man sie denn gefunden hat - in vollen Zügen genießen.

Der beste Film des Festivals

Die aus dem ehemaligen Kinderfilmfest hervorgegangene Festival-Sektion "Generation" ist seit Jahren ein sicherer Tipp für die heimlichen Highlights des Festivals. Denn während die eine Hälfte der Sektion aus tatsächlichen Kinderfilmen besteht, die auch vornehmlich das entsprechende Publikum ansprechen wollen, spielt die andere Hälfte mit jugendlichen Protagonisten und tut dies auf mutige, einfallsreiche, provokante und nicht selten hervorragende Art. Mit "Kinderkino" hat das überhaupt nichts mehr zu tun. 
Hier gibt es absolut Außergewöhnliches zu sehen, wie die vor schrägem Einfallsreichtum schier platzende Tragikomödie "Mary and Max" von dem australischen Regisseur Adam Eliot. Wie die Hits der englischen Aardman Studios ("Hennen rennen", "Wallace & Gromit") ist der Film im Stop-Motion-Animationsverfahren mit Knetfiguren hergestellt, schafft jedoch mit seiner kargen Farbpalette und der oft tieftraurig-tragischen Story ein sehr düsteres Szenario, das aber mit einem wundervoll eigenwilligen Humor immer wieder aufgehellt wird. Die Geschichte einer zufälligen Brieffreundschaft zwischen einem Problem-geplagten australischen Mädchen mit Trinker-Mutter und einem fettleibigen, psychisch kranken Endvierziger aus New York ist an sich überhaupt nicht komisch (wenn auch wunderschön), doch Elliot gelingt es mit unglaublicher Liebe zum Detail daraus einen der lustigsten Filme des Festivals zu machen.

Der wird jedoch noch bei weitem getoppt von dem vielleicht besten Film der Berlinale. Vielleicht, weil man naturgemäß nicht alles sehen kann, was auf der Berlinale läuft, und die Möglichkeit eines noch brillanteren Geniestreichs in einer anderen Sektion soll nicht ausgeschlossen werden. Das ist jedoch kaum vorstellbar, denn die Schlagkraft, inszenatorische Wucht und überragende Erzählleistung von "My Suicide" (Regie: David Lee Miller) wird nicht nur auf diesem Festival, sondern überhaupt in diesem Filmjahr schwer zu überbieten sein.
"My Suicide" ist ein Film über den Teenager Archie, ein eigenbrötlerischer Filmjunkie mit einer Kamera- und Bearbeitungsausrüstung, die keine Wünsche offen lässt. Archie scheint sein komplettes Leben mit der Kamera festzuhalten, und schockt seine ganze Umgebung, als er in einer Film-AG in der Schule ankündigt, einen Film über seinen eigenen Selbstmord zu drehen - natürlich mit eben jenem Selbstmord als Ausgang. Dieser Film über Archie ist eigentlich aber auch ein Film von Archie, denn "My Suicide" ist genau so inszeniert: Als wäre es Archies eigener Film. Er ist der immer präsente Ich-Erzähler, der sozusagen "live" durch den Film geht, alles kommentiert und den Film nach Lust und Laune durch Trickaufnahmen, visuelle Effekte, Filmzitate und andere Einsprengsel ergänzt. Das Ergebnis ist ein Film, der wahrhaftig die reizüberflutete, von Unterhaltungsmedien und Internet geprägte, ungestüme und zynische Gedankenwelt dieses (oder besser: eines jeden) Teenagers einfängt.
Was sich hier auf der Leinwand abspielt, ist kaum zu beschreiben, einen groben Eindruck vermittelt vielleicht die Tatsache, dass die Schneidearbeiten an dem Film drei Jahre gedauert haben, nachdem der eigentliche Dreh in an sich normalen 20 Tagen erfolgt war. Doch dieses Material wurde immer wieder ergänzt, wenn Hauptdarsteller Gabriel Sunday und Cutter Jordan J. Miller während des Schneidens eine weitere Idee hatten, was Archie mit seinem Film noch machen könnte. In einer Situation will Archie sein Gegenüber irritieren und murmelt kurz starr vor sich hin: "Robert Paulson. His name was Robert Paulson." Man muss "Fight Club" schon echt oft geguckt haben, um auf sowas zu kommen. Ein Filmjunkie eben.

Hier verblüfft einfach alles: Die fast schon monumentale Leistung am Schneidetisch, Sundays vollständiges Eintauchen in seine Figur, um Archies Gedankenwelt derart präzise zu verbildlichen, und die von Green Screen-Tricks bis zu Animationsszenen brillant eingeflochtenen Effekte, die theoretisch alle mit Archies eigenem Equipment in seinem Heim-Filmstudio erzeugt werden könnten. 
Was sich zunächst ausnimmt wie eine wilde, konzeptlose Videocollage, ist in Wahrheit jedoch eine präzise durchdachte Geschichte. Man merkt es keine Sekunde, aber der Film folgt strikt derselben gängigen Dramaturgie wie jeder Hollywood-Film, und was er letztlich über das Thema "Teenager und Selbstmord" zu sagen hat, ist hochintelligent, absolut zutreffend und tief reflektiert. Dabei wird kein Teenie dieser Welt hier glauben, der Film wolle ihn irgendwie hintenrum erziehen oder belehren. Hier werden sich ob der manchmal expliziten Bilder und der sehr direkten Behandlung eines hochsensiblen Themas höchstens verständnislose Eltern beschweren, während ihre Kinder endlich mal das Gefühl haben werden, verstanden worden zu sein. "My Suicide" ist einer der aufregendsten und virtuosesten Filme seit Jahren, und es wäre eine Schande, wenn sich für dieses Meisterwerk kein Verleih finden sollte. Den Filmliebhabern dieser Welt würde einer der größten Schätze dieses Jahrgangs entgehen.

 

Dienstag, 10.2.2009: Liebesrituale am Bosporus

Es ist Halbzeit im Wettbewerb der Berlinale: Die Filme blicken auf den Horror nach den Terroranschlägen von London und Stephen Frears lässt Michel Pfeiffer schöne Kostüme tragen. Außerdem gibt es zwei ausgesprochen großartige Filme, die den eigenen Blick auf die Wirklichkeit schärfen….

Der Name "London River" für seinen Film habe keine große Bedeutung, meint der Regisseur Rachid Bouchareb bei der Pressekonferenz seines Wettbewerbsbeitrags. Ihm war danach, nach seinem Kriegsepos "Die Tage des Ruhms", in dem er bis zu 200 Menschen koordinieren musste, nun mal einen Film zu drehen, in dem er nur zwei im Auge behalten muss. In "London River" sind das Mrs. Sommers (Brenda Blethyn) und Mr. Ousmane (Sotigui Kouyate), die beide nach London kommen, um nach ihren verschwundenen Kindern zu suchen, die möglicherweise bei den Terroranschlägen von 2005 ums Leben kamen. Mrs. Sommers betreibt einen Bauernhof im Norden Englands. Ihre Tochter, die das Landleben nie wirklich gemocht hat, studiert in den Hauptstadt. Mr. Ousmane hingegen hatte seit 15 Jahren keinen Kontakt mit seinem Sohn Ali. Er verließ ihn, seine Frau und seine Heimat Afrika, um in Frankreich als Förster Geld zu verdienen. Die Nachrichtenbilder von den Anschlägen und die drängenden Bitten seiner Frau, veranlassen den großen aber gebrechlichen Mann (Sotigui Kouyate ist jetzt schon das Gesicht der Berlinale) in die Fremde zu reisen und nach Ali zu suchen. 
Rachid Bouchareb legt in seinem Film immer wieder falsche Fährten. So suggeriert die Parallelmontage am Anfang, wo Mrs. Sommers zum Gottesdienst geht und Ousmane in Frankreich gen Mekka betet, einen Film über den aktuellen Konflikt des christlich geprägten Westens mit dem islamisch geprägten Osten. Doch weit gefehlt. "London River" zeigt zwei Menschen, die erst durch die tragischen Vorkommnisse ihre eignen Kinder kennen lernen. Bouchareb macht wenig falsch und sehr viel richtig. Die Stärken von "London River" summieren sich mit dem tollen letzten Bild zu einer ergreifenden Reflexion über "den Anderen". Politischen Pathos sucht man hier vergebens.

Stephen Frears schickt mit "Cheri" einen Kostümfilm in den Wettbewerb. Außerdem gibt er der wunderbaren Michelle Pfeiffer (leider schon länger über die Hollywood-Altersgrenze von 40 hinaus und daher kaum noch im Kino präsent) wieder einmal eine Hauptrolle. Basierend auf einer spätviktorianischen Novelle, beschreibt "Cheri" die Liebe eines jungen Mannes - eben jener Cheri - mit einer reifen Edelprostituierten (Michelle Pfeiffer). Nach einer sechsjährigen Affäre muss Cheri ein gleichaltriges Mädchen heiraten und die Beziehung zu seiner wahren Liebe leider beenden. 
Stephen Frears' Film ist allein deshalb kein absoluter Reinfall, da er einen fantastischen Rhythmus hat, und wäre man ehrlich, könnte der Film durchaus nach der ersten Dreiviertelstunde enden und man hätte nichts zu meckern. Das Drehbuch verlangt leider noch eine längere Landflucht Pfeiffers und einen großen Abschlussdialog bis die Schlusstitel erscheinen. In "Cheri" jedoch ist alles Oberfläche. Es ist wie mit einer Christbaumkugel - man schaut sich das gerne einmal im Jahr an, wohl wissend, dass im Innern gähnende Leere herrscht.

Lone Scherfig hat sich bisher als erstklassige Dogma-Regisseurin hervorgetan. Wie so viele Filmemacher auf dieser Berlinale präsentiert sie hier ihren ersten englischsprachigen Film. "An Education" ist ein Film über ein 16-jähriges Mädchen, welches von ihrem Vater immer wieder vor Augen geführt bekommt, dass es wichtig für sie ist nach Oxford zu gehen und dort zu studieren. Jenny hat auch durchaus Lust dazu und dennoch würde sie am liebsten nach Paris reisen und dort gute Musik hören, gute Filme sehen (keine allzu schlechte Idee in den frühen 60ern) und in netten Cafés über den Sinn des Lebens philosophieren. Als sie dem knapp 20 Jahre älteren David begegnet, werden plötzlich alle diese Träume war. Er begleitet sie zu klassischen Konzerten, zu Auktionen, teil exakt ihren Intellekt, kauft ihr tolle Geschenke und selbst ihre Eltern können seinem Charme nicht widerstehen. 
"An Education" erzählt von dem Moment, wenn alle Träume in Erfüllung gehen und man den Boden unter den Füßen verliert. Natürlich ist die Beziehung - inklusive Heiratsantrag - zu David klar determiniert. Scherfig umgeht das große Drama und lässt auch jegliche Dogma-Ästhetik für diese doch eher Mainstream-leicht aufgezogene Geschichte in der Kiste. Deshalb ist "An Education" zwar sehr nett und manchmal auch sehr lustig (dank der großartigen Dialoge von Erstmals-Drehbuchautor Nick Hornby!), doch leider ist der Film allzu beliebig geraten, trotz einer wirklich großartigen Schauspieltruppe (u.a. Peter Sarsgaard, Alfred Molina, Emma Thompson).

Schule des Sehens

Formal mutiges und wirklich sehenswertes Kino kommt dieses Jahr aus Rumänien und der Türkei. "The Happiest Girl in the World" von Radu Jude gehört zu einer ganzen Gruppe von Filmen, die zurzeit von vielen als "neue rumänische Welle" bezeichnet werden. Spätestens seit dem Sieg von "4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage" in Cannes hat sich die Qualität des jungen rumänischen Kinos unter vielen herumgesprochen. Filme wie "12:08 East of Bucharest", "The Death of Mr. Lazarescu" oder auch "California Dreamin'" feierten Siege auf zahlreichen Festivals. An Radu Judes Film kann man erkennen warum. Er spielt an einem einzigen Tag in Bukarest. Delia hat in einem Gewinnspiel ein Auto gewonnen und soll nun für die Getränkefirma einen Werbespot drehen. Das Mädchen ist etwas rundlich, kommt vom Land und ist sicherlich kein Prototyp eines Fernsehstars. Aber darum geht es wohl den Getränkeproduzenten. Jude zeigt, wie der Werbespot immer wieder wiederholt werden muss, wie eine enorm übergewichtige und rabiate Maskenbildnerin Delia schminkt und vor allem, wie Delias Eltern verzweifelt versuchen sie davon zu überzeugen, dass sie das Auto verkaufen muss. Beide wollen sich nämlich mit dem Geld ein Ferienhaus renovieren und vom Rest und den Einnahmen aus dem Ferienhaus Delias Studium finanzieren. Das hört sich im ersten Augenblick auch gut an, doch Delia will das Auto behalten und endlich mal etwas Luxus in ihr Leben bringen. Es ist ein denkbar ungünstiger Moment für diesen Familienkonflikt, der immer wieder in den Drehpausen hoch kocht. 
In der Alltäglichkeit und scheinbar auch in der Nichtigkeit entwickeln die jungen rumänischen Filme ihre wahre Kraft. Erst hier entwickeln die präzise konstruierten Lücken und Auslassungen in den Dialogen ihre volle Wirkung. Das wird von der klaren Form umrahmt. Die Kamera scheint beiläufig die Handlung einzufangen ohne dabei jedoch den Hintergrund aus den Augen zu lassen. Diese Technik, die ganz klar dem cinema verité entspringt, erlaubt den eigenen Blick frei über die Leinwand wandern zu lassen. Das nahezu völlige Fehlen von Nahaufnahmen erlaubt uns die Handlung immer wieder zu verlassen und uns in den Hintergrund zu vertiefen. 
Natürlich ist "The Happiest Girl ..." auch sehr politisch. Nicht nur durch seine Form, sondern auch durch die schonungslosen Dialoge, die in dem Streit zwischen den Eltern und Delia das Aufkommen des Kapitalismus porträtieren. Die Eltern wollen endlich mal wieder Zeit für sich haben und das Geld aus dem Ferienhaus zum Teil für die eigenen Wünsche und Träume ausgeben. Sie meinen, sie hätten dies verdient für ihre jahrelange Sorge um die Tochter. Nichts anderes wünscht sich Delia, die als Teenager natürlich auch angeben möchte. Paradoxerweise steht dem Glück beider Parteien nur der Hauptgewinn im Weg. 
Man kann hier vielleicht schon erkennen, welch enorme Komplexität in diesem unscheinbaren Filmchen aus Rumänien steckt. Bei der Pressevorstellung von "The Happiest Girl in the World" gab es jedenfalls viel Applaus, was bei der offiziellen Weltpremiere jedoch nicht der Fall war. Das Publikum reagierte eher verhalten und konnte im anschließenden Gespräch zu dem Regisseur keinen Draht finden. Woran kann das liegen? Vielleicht daran, dass Filme aus Rumänien auf unseren Leinwänden praktisch nicht existent sind. Vielleicht muss man ja mehrere dieser Filme sehen, um sich an diese eigenwillige Bildsprache zu gewöhnen. Aber wenn sich die Verleiher quer stellen und diese fantastischen Filme dem Publikum vorenthalten, bleiben sie nur einer erlesenen Schar von Kritikern zugänglich, die mehrmals im Jahr in Cannes, Berlin, Venedig oder Locarno diese Filme sehen und ihre Leistung besser nachvollziehen können.

Ein anderer Film, der eine ähnliche Herausforderung an die konventionellen Sehgewohnheiten stellt, kommt aus der Türkei. "Hayat Var" begibt sich in das Leben der 14-jährigen Hayat, die mit ihrem Vater und dem asthmakranken Großvater in einer kleinen Holzhütte am Wasser in der Nähe von Istanbul lebt. Man kann nicht sagen, dass der Film des Regisseurs Rega Erdem eine Geschichte erzählt - jedenfalls nicht im klassischen Sinn. Mit seinen erlesenen Bildern gibt "Hayat Var" die Rolle des Erzählers zurück an den Zuschauer. Wir müssen den Ellipsen einen Sinn geben, oder uns in den Bilderstrom fallen lassen. Warum wohnt die Mutter jetzt mit einem Polizisten zusammen? Wieso passiert nichts als Hayat vom Kioskhändler vergewaltigt wird? Was passiert mit Hayats Vater als er auf seinem Boot von der Polizei erwischt wird (er beliefert die ankernden Schiffe mit Prostituierten)? Manchmal springt der Film in eine Szene, in der die Handlung vorbei oder bereits im Gang ist. Diese Auslassungen sind ungemein aufregend. Und wer sich aus seiner Passivität nicht herauslocken lassen möchte, der kann sich in "Hayat Var" einfach auf die zarte Liebesgeschichte zwischen Hayat und einem Schuljungen einlassen und damit Zeuge von unvergesslichen Flirtversuchen werden. 
Hayat steht am Hafen an einer Steinmauer. Sie blickt auf ein nebliges Panorama der Bosporus-Metropole. Wie in einem alten Liebesritual kommt der Junge etwas später und setzt sich drei bis vier Meter von Hayat weg. Beide sehen sich nicht an und die Kamera zieht sich zurück. Sie lässt den jungen Liebenden viel Raum. Dann fängt der Junge plötzlich an zu singen. Es ist ein Lied über den bitteren Weg, den das Leben einschlagen kann, aber auch über den lichten Moment der Freude, welche die kleinsten Kleinigkeiten in sich bergen. Das Kino kann viele Funktionen erfüllen. Filme wie "Hayat Var" und "The Happiest Girl In The World" machen in diesem Zusammenhang das Kino zur einzigartigen Schule des Sehens.

 

Montag, 9.2.2009: Deutschland schlägt USA in Unterzahl

Wieder drei neue Wettbewerbsfilme, diesmal alle aus der westlichen Hemisphäre. Tatsächlich geht die deutsche Regisseurin Maren Ade mit ihrem bescheidenen, zweiten Programmkino-Film gleichzeitig mit zwei stark aufgestellten Independent-Recken aus Amerika (inklusive Star-Besetzung) ins Rennen. Doch siehe da: Der Tagessieger kommt klar aus Deutschland - und das am bislang stärksten, weil enttäuschungsfreien Wettbewerbstag.

"Alle Anderen" ist der erst der zweite Film der deutschen Regisseurin Maren Ade. Das ist schwer zu glauben, wenn man den Film sieht, denn aus ihm spricht eine unglaubliche Reife, was die Schauspielführung betrifft. Im Mittelpunkt dieses Beziehungsdramas steht das junge Pärchen Chris und Gitti. Chris ist ein aufstrebender Architekt, der auf Sardinien nach neuen Projekten sucht. Gitti ist PR-Managerin einer großen Musikfirma und ein wenig lockerer als ihr Freund, der sich ständig über alles seine Gedanken macht. Als beide ein anderes Pärchen kennen lernen zeigt sich langsam wie haltlos die Beziehung zwischen Chris und Gitti eigentlich wirklich ist. 
"Alle Anderen" zu sehen kann sehr schmerzhaft sein, wenn man in einigen Momenten seine eigenen Verfehlungen wieder entdeckt. Chris und Gitti sagen sich in den zahlreichen grandiosen Wortgefechten, dass sie sich eigentlich nichts zu sagen haben. Chris hätte lieber eine ruhigere, weniger ausgeflippte Frau an seiner Seite und Gitti einen etwas lässigeren Mann an ihrer. Es geht oft hin und her. In seiner brutalen Präzision in der Beschreibung vonzwischenmenschlicher Befindlichkeit liegt eine Wucht, die man in dieser Form nur aus Ingmar Bergman-Filmen kennt. Natürlich ist dies ein mächtiger Vergleich, aber kein anderer beschreibt "Alle Anderen" besser. Maren Ade inszeniert ihren Film akkurat mit viel Sinn für Einzelheiten. Es ist erstaunlich, wie sie alltägliche Objekte und Gegenstände immer wieder zweckentfremdet und ihnen in dem Beziehungsstreit zwischen den beiden furiosen Hautdarstellern eine neue Bedeutung verleiht. Das erinnert stark an die Filme der so genannten "Berliner Schule" und tatsächlich standen Ade ihre Kollegen Valeska Griesebach und Ulrich Köhler helfend und unterstützend zu Seite. 
"Alle Anderen" ist virtuos, weil er dem Moment des Scheiterns einer Beziehung näher kommt als der überwiegende Teil der Filme, die vorgeben dieses Thema zu behandeln. Der Film ist jetzt schon ein heißer Bärenkandidat und einer der aufregendsten deutschen Filme des Jahres.

Oren Moverman lässt in seinem Wettbewerbsbeitrag "The Messenger" Woody Harrelson und Ben Foster einen der schlimmsten Jobs der Army machen. Beide müssen amerikanischen Familien die Nachricht vom Tod ihrer Söhne und Töchter beibringen. Dabei müssen beide Soldaten einiges ertragen. Will (Ben Foster) ist neu in diesem Job und kann sich mit den strikten Regeln (kein Körperkontakt mit den Hinterbliebenen und bloß nichts sagen, was nicht vorgeschrieben ist) nur sehr schwer anfreunden. Schließlich verliebt sich der einsame Will in eine Soldatenwitwe (Samatha Morton). 
Die Grundidee von "The Messenger" ist eine äußerst verführerische, schließlich wird die Botschaft über den Tod der Soldaten in den meisten Filmen nicht in den Mittelpunkt gerückt. Die unfreiwilligen Kollegen kommen sich während des Films näher, was hier heißen soll, dass sie sich darauf hinarbeiten, die traumatischen Wunden ihrer Vergangenheit einzugestehen. Die Figur, die Woody Harrelson verkörpert, ist Anonymer Alkoholiker und hat beim ersten Irakkrieg mitgemacht, auch das unterscheidet ihn fundamental von der Verfassungslage des jungen Will, der gerade erst aus dem Irak gekommen ist. In dieser Konstellation spürt man eine verzweifelte Verlorenheit. Es geht um das angekratzte Heldenbild und die Perspektivlosigkeit vieler US-Soldaten, die nicht in der Wirklichkeit ihrer Heimat ankommen können. Die Freundin hat Will verlassen und heiratet einen Kriegsgegner und so sitzt er allein in seinem Zimmer und hört laute Rockmusik. 
"The Messenger" hat Momente voller Stärke. Vor allem Ben Foster überzeugt auf ganzer Linie. Obwohl er das Starke, Maskuline eines Soldaten mühelos transportiert, hat seine gesamte Körperhaltung immer etwas enorm Zerbrechliches an sich - eine wirklich beeindruckende Leistung. Doch man bekommt in diesem Film immer wieder das Gefühl vermittelt, als ob der Regisseur nicht wirklich wüsste was er aus seinen ganzen Handlungsebenen machen soll. Leider ist auch die - zugegebenermaßen subtil inszenierte - Liebesgeschichte zwischen Will und der Witwe ein extrem reaktionärer Zug. Nur in den Armen einer Frau, findet Will die Erlösung, die er sucht. Doch so macht es sich der Film leider ein bisschen zu einfach.

Der zweite amerikanische Film neu im Wettbewerb heute war "The Private Lives of Pippa Lee" von der Regisseurin Rebecca Miller. Das erstaunliche Star-Aufgebot in einem augenscheinlich doch eher unspektakulären Arthouse-Film lässt zunächst aufhorchen, ist so etwas doch oft ein Indikator für einen echten Geheimtipp - wissen die berühmten Nasen doch meist die wirklich guten Drehbücher aus dem Indie-Sammelsurium herauszuschnüffeln. Hier bewiesen Robin Wright Penn, Alan Arkin, Keanu Reeves, Maria Bello, Monica Bellucci, Julianne Moore und Winona Ryder (jupp, die sind wirklich alle dabei) indes nur eine halbwegs gute Nase. Millers Film porträtiert die "perfekte Ehefrau" Pippa Lee (Wright Penn), die mit ihrem Ehemann, einem mit dem Eintritt in den Ruhestand ringenden Verleger (Arkin), in ein kleineres Haus zieht und angesichts dieses vermutlich letzten Lebensabschnitts ihres Mannes auch über ihr eigenes Leben nachzudenken beginnt. 
Das ist von daher noch relativ interessant, da Pippa eine krasse Mutter-Tochter-Kiste mit einer tablettenabhängigen Erzeugerin (Bello) hinter sich hat, gefolgt von einer wilden, dem Absturz zugewandten Zeit in der Künstlerszene von New York. Bis sie eben auf jenen wesentlich älteren Verleger traf, sich in ihn verliebte und für ihn ein neuer Mensch wurde, eben jene "perfekte Ehefrau".
Hier geht es in Großbuchstaben um die Selbstfindung einer Frau, die sich schließlich für die Erfüllung eines Rollenbilds entschieden hat, sich nun aber langsam zu beginnen fragt, wer sie eigentlich ohne ihren Ehemann ist (der liegt zwar nicht im Sterben, aber soviel sei gesagt: Am Ende des Films ist man nicht mehr gemeinsam unterwegs, wobei wiederum Keanu Reeves und Winona Ryder eine gewisse Rolle spielen). Das ist zwar alles ganz nett umgesetzt und überrascht stellenweise mit aufblitzendem, gelungenen Humor. Trotzdem wirken die behandelten Motive in Pippas Leben - die ungesunde Hassliebe zur abhängigen Mutter, die lesbische Tante, die ersten sexuellen Experimente, die wilde Drogenzeit und schließlich die Hinwendung zu einer klassischen Vaterfigur als Mann fürs Leben - in ihrer Aneinanderreihung eher wie eine Strichliste üblicher, wohlbekannter und letztlich ziemlich brav abgehakter Archetypen, der die Note des Überraschenden oder Außergewöhnlichen fehlt. Pippa Lee bleibt als Charakter insgesamt zu uninteressant, als dass sie wirklich die Aufmerksamkeit eines ganzen Films verdient hätte.

Südkoreanische Sehnsuchtsorte

Vor drei Jahren konnte man auf der Berlinale eine ganz große Entdeckung machen. Da lief So Yong Kims Debüt "In Between Dreams" im Forum und gewann den FIPRESCI Preis der internationalen Filmkritik. Kim, die in den USA aufgewachsen ist und dort heute noch lebt und auch arbeitet, zählt zu einer neuen, sehr aufregenden Regiegeneration. Ihr neuer Film "Treeless Mountain" spielt in ihrer ursprünglichen Heimat Südkorea und beobachtet die drei- und fünfjährigen Mädchen Bin und Jin, wie sie aus Seoul von ihrer Mutter plötzlich zu einer Tante in einen Vorort gebracht werden. Die Mutter sagt den beiden Mädchen, dass sie bald zurückkommen wird, und verlässt ihre Töchter. Das Verhältnis der Mädchen zu ihrer Tante ist leider kein Freundliches und so verbringen die beiden Kinder die Zeit um nach ihrer Mutter Ausschau zu halten. 
Kims Film erinnert stark an den japanischen Film "Nobody Knows" von Hirokazu Kore-Eda. Auch bei ihm werden Kinder von der Mutter allein gelassen. Natürlich tauchen in beiden Fällen die Mütter nicht auf. Wir wissen nicht warum sie gehen und wieso sie nicht zurückkommen. Darum geht es auch nicht. "Treeless Mountain" begibt sich ganz auf die Ebene der Kinder. Die Kamera zeigt die Welt aus ihrer Perspektive. Dieser bittersüße Film erforscht mit großer Hingabe und mit einer kindlichen Gelassenheit verschiedene Sehnsuchtsorte. Ein Schutthaufen, ein rotes Sparschwein, ein Essen bei der Nachbarin mit ihrem kranken Sohn oder auch ein alter Bauernhof - hier versuchen die beiden Mädchen (deren wahnsinnige Leistung mit dem Wort Schauspielerei nur unzulänglich beschrieben wäre) noch Kinder zu sein. Ihre Situation erlaubt das leider viel zu selten.

 

Sonntag, 8.2.2009: Große Titel mit großen Enttäuschungen

Die Filme des Wettbewerbs der 59. Berlinale kommen am vierten Tag der Festspiele aus Uruguay, Schweden und Großbritannien. Dabei hagelt es fast durch die Bank Enttäuschungen. Das führt sogar zum ersten Pfeifkonzert der Kritiker. Außerdem gibt es stilles aus den USA und schmutziges aus Hongkong.

Die Welt rückt näher zusammen. Große Distanzen sind dank neuster Technik kein Problem mehr. Das hat natürlich auch Einfluss auf die Filme. In der Presselounge im Berlinalepalast versammeln sich die Technikbesessenen Kollegen nach jeder Pressevorstellung des Wettbewerbs und holen ihre Laptops und Blueberrys heraus. Ein Kollege aus den USA telefoniert per Skype mit seiner Frau und seiner kleinen Tochter. Auf seinem Bildschirm sieht man die beiden, wie sie Papa zuwinken. Hinten im Fenster erkennt man die groben Umrisse New Yorks. Eigentlich ist das ja nichts Besonderes und doch ist es ein wunderbarer Anblick.

Still, ruhig und ziemlich unaufgeregt ist das Spielfilmdebüt des Regisseurs Adrian Biniez. Schon der Titel ist ironisch zu verstehen. Es ist eine äußerst sympathische Selbstironie, die den Film von Anfang bis zum Ende durchzieht. In "Gigante" verliebt sich der etwas tollpatschige, übergewichtige, Heavy Metal-Musik liebende aber durch und durch sympathische Wachmann eines Supermarktes in eine junge Putzfrau, die er zunächst nur über den Bildschirm seines Überwachungsmonitors verfolgt. Doch schon bald verlässt er den schützenden Überwachungsraum und fängt an seiner großen Liebe nachzulaufen. 
"Gigante" weiß von der ersten Minute an, wo er hin möchte. Er gibt nie vor, eventuelle Überraschungen oder verblüffende Wendungen auf Lager zu haben. Das ehrt ihn ungemein, Diese kleine Komödie erweist seinen Figuren gegenüber Hochachtung und beutet sie nie aus. Wird der Wachmann sich endlich trauen und die Putzfrau ansprechen? Diese Frage bleibt eine rein rhetorische, schließlich will man für diesen super netten Wachmann nur das Beste. Warum sollte man ihm das verwehren? Am Ende wird nicht alles gut aber vieles besser und "Gigante" ist trotz lateinamerikanischer Kargheit und Tristesse einer der hoffnungsvollsten Beiträge der diesjährigen Berlinale.

Das schwedische Regiewunderkind Lukas Moodysson ("Fucking Amal" (1998), "Lilya 4-ever" (2002)) hat mit "Mammoth" seinen ersten englischsprachigen Film gedreht. Im Mittelpunkt dieses Familiendramas steht das junge New Yorker Ehepaar Leo (Gabriel Garcia Bernal) und Ellen (Michelle Williams). Als Leo nach Bangkok reist um einen großen Deal zu machen, bekommt er plötzlich Sehnsucht nach seiner Hippie-Zeit und reist ans Meer. Zur gleichen Zeit merkt Ellen, dass ihr philippinisches Kindermädchen eine viel bessere Beziehung zu ihrer Tochter hat als sie selber. Das Kindermädchen wiederum quält sich in den USA, da sie zwei junge Söhne in der Heimat gelassen hat. 
Machen wir es kurz: "Mammoth" wurde mit dem ersten Buh- und Pfeifkonzert der Berlinale-Pressevorstellungen bedacht. Völlig zurecht. Der Film ist von vorne bis hinten uninteressant. Es geht nicht darum, ob die Motive der einzelnen Figuren nachvollziehbar sind oder nicht; sie interessieren einfach nicht. Ganz schlimm wird es dann, wenn "Mammoth" das Thema der Kinderprostitution benutzt, um billiges Mitleid zu erhaschen. Dafür ist das Thema aber viel zu ernst. Hinzu kommt die schlicht und einfach lächerliche "Mammut"-Metapher, die gerne existentialistisch sein möchte, in Wahrheit aber nur öde Langeweile versprüht. Das ist die erste wirkliche Niete im Wettbewerb.

Neben der ersten Niete gibt es auch die erste gewaschene Kontroverse im Wettbewerb. Der lang erwartete Sally Potter-Film "Rage" ist nicht kontrovers aufgrund seines Inhalts, sondern allein wegen seiner radikalen Form. "Rage" beginnt mit einer schwarzen Leinwand auf der plötzlich jemand mit einer Tastatur zu schreiben scheint. Ein Schüler mit dem Namen Michelangelo (den wir nie sehen werden, nur einmal kurz aus dem Off hören) interviewt für ein Schulprojekt verschiedene Beteiligte der New Yorker Modeszene. Dafür filmt er sie frontal mit seiner Handykamera. Das war's im Grunde, denn nun ist die Bühne frei: Für Dame Judi Dench als bissige Kritikerin; für Jude Law als Drag-Queen-Model Minx, der immer in der dritten Person von sich selber spricht; für einen Praktikanten, der ganz hoch hinaus will; für einen PR Agenten, einen Fotografen (Steve Buscemi), einen Polizisten, einen Bodyguard und noch einige mehr. 
Sie alle sitzen vor dem Blue Screen, der immer wieder in verschiedenen grellen Farben erstrahlt, und beichten vor dem Kameraauge. Das ändert sich auch dann nicht, als während einer Modenschau ein Model erschossen wird. Das im Internet veröffentlichte Schulprojekt bringt die Öffentlichkeit auf den Plan und Michelangelo ist kein gern gesehener Gast mehr. All das (der Mord, der Skandal etc.) muss man sich als Zuschauer selber vorstellen, denn nur auf der Tonspur kann man vereinzelte Atmosphären mitbekommen. "Rage" hat aber nichts zu sagen über die immer größer werdende Rolle des Internets. Und auch der Blick hinter die Kulissen der amerikanischen Modebranche fällt ziemlich flach aus. Die Figuren, die Sally Potter erschaffen hat, wirken oft viel zu extrem und überzeichnet. Sie interessiert sich nicht für Feinheiten, sie will nur das menschliche Gesicht in den Mittelpunkt drängen. 
Es ist etwas Bewundernswertes an dem Mut der Regisseurin (die sich selten um Konventionen schert) zu einer recht abstrakten und wirklich herausfordernden Form. Viele behaupten jetzt "Rage" wäre weniger ein Film und viel mehr eine Videoinstallation. Da ist was dran. Doch der Film ist ab der Hälfte ziemlich ermüdend, so dass man auch beim besten Willen dieses überambitionierte Projekt nicht mehr verteidigen möchte. Und machen wir uns nichts vor: Wenn in diesem Film nicht die ganzen Hollywoodstars auftreten würden, würde "Rage" im Forum laufen und von so gut wie niemandem bemerkt werden.

Auf der anderen Seite: Kino aus den USA und Hongkong, und Diskussionsstoff aus Frankreich

Im Forum läuft "Beeswax" des amerikanischen Indie-Regisseurs Andrew Bujalski. Der handelt in erster Linie von zwei Zwillingsschwestern (von denen eine im Rollstuhl sitzt), die sich um die Zukunft des gemeinsamen Second-Hand-Ladens streiten. Das führt so weit, dass die eine Schwester droht den eigenen Zwilling zu verklagen. 
"Beeswax" verdient Beachtung, da er eine neue Bewegung im US-Independent-Kino repräsentiert, die als "Mumblecore" (mumble = nuscheln) bezeichnet wird. "Mumblecore"-Filme sind vor allem Ultra Low-Budget-Produktionen, in denen die Figuren im Besonderen die Stille, die eigene Langweile und die Freiheit des Nichtstuns zelebrieren. Besonders das Regie-Triumvirat Andrew Bujalski, Joe Swanberg und Aaron Katz haben dieses Genre mit ihren Werken geprägt, von denen die meisten in Deutschland noch nicht zu sehen waren. Einige behaupten, dass Richard Linklaters Film "Slacker" den eigentlichen Ursprung des Genres darstellt. Bisweilen kreisen die Filme um kaum mehr als die Begegnung zweier Menschen, die nichts von einander wissen und eine gewisse Zeit mit einander herumhängen. Bujalskis "Beeswax" erweitert dieses Spektrum um einen familiären Konflikt, der in reizender Konsequenz die lauten Höhepunkte auslässt.

Wer vom vielen Schweigen und Ausharren in den Filmen auf der Berlinale genug hat, der pilgert so schnell wie möglich in den Film "The Beast Stalker". Hinter diesem Titel verbirgt sich ein genialer, kleiner, schmutziger und fieser Hongkong-Thriller der Extraklasse. Nach einem missglückten Polizeieinsatz kommt es zwischen zwei Polizisten und den Gangstern zu einem spektakulären Autounfall in den unschuldigerweise ein kleines Mädchen verwickelt wird. Einige Zeit später kommt der Fall mit den durch den Unfall gefassten Gangstern vor Gericht. Doch der Mafioso bezahlt einen Killer, um das Kind der Staatsanwältin zu entführen. Damit will er die Frau erpressen und ein Beweismittel erlangen, ohne das er einen Freispruch bekommen würde. 
"The Beast Stalker" ist ein filmischer Energiedrink. Hier gibt es kein Blabla, keine psychologische Exposition, sondern nur Bewegung und Aktion. Der Film genügt sich selbst und macht einfach nur Spaß.

Auch zu empfehlen, spätestens bei der sicher in absehbarer Zeit folgenden TV-Ausstrahlung: Der von Arte produzierte französische Film "La journee de la jupe" ("Skirt Day") in der Panorama-Sektion, in dem Isabelle Adjani eine Lehrerin in einem Pariser Problembezirk spielt, die unter den ständigen Drangsalierungen ihrer Schüler mit den Nerven am Ende ist. Als sie im Unterricht bei einem ihrer Schüler zufällig eine Waffe findet, gerät die Situation blitzschnell außer Kontrolle, und auf einmal steht die Lehrerin hinter verriegelten Türen in einem fensterlosen Raum mit einer Waffe in der Hand als Geiselnehmerin da. 
In den nächsten 80 Minuten kommt die volle Bandbreite an Themen und Konflikten auf den Tisch, welche die Integrationsproblematik der allesamt aus den islamischen, französischen Ex-Kolonien in Nordafrika stammenden Schüler bereithält. Und es geht ruppig zur Sache. Die Lehrerin hat endlich ein überzeugendes Argument in der Hand, ihren Schülern Aufmerksamkeit und eine vernünftige Ausdrucksweise abzuverlangen, und nicht zuletzt, um mächtig Druck abzulassen. Und sie nutzt diese Chance. Doch hier geht es nicht um den Zorn einer reaktionären Alt-Pädagogin, sondern um die tief frustrierten Ideale einer Überzeugungstäterin. 
"Skirt Day" zeigt eindringlich und überzeugend einen tradierten Konfliktteppich auf, den man in ganz ähnlicher Form auch hierzulande vorfindet, und dokumentiert ungeschönt die hilflose Verzweiflung zahlloser Pädagogen. Quasi ein zynisches Gegenstück zum hoffnungsvollen "Die Klasse". Über den Weg, den der Film schließlich aus seiner Geschichte heraus sucht, kann man geteilter Meinung sein, er unterstreicht jedoch, dass es hier nicht darum geht, eine Lösung zu behaupten, sondern für die Probleme wachzurütteln.

Und in der wettbewerbsfreien Special-Sektion lief nach "John Rabe" gleich der nächste deutsche Film, der sich auch im Wettbewerb sehr gut gemacht hätte. Dafür startet der exzellente "Effi Briest" schon diese Woche in den deutschen Kinos. Mehr dazu in unserer ausführlichen >>> Rezension.

 

Samstag, 7.2.2009: Das Kino der Eindringlinge

In den Filmen des Wettbewerbs fangen die Menschen an zu verschwinden. Manchmal tauchen sie wieder auf, sind dann aber meist tot. Der Tod spielt in den Filmen der Generation-Sektion zwar auch eine Rolle, doch wieso soll man sich viele Gedanken übers Sterben machen, wenn man sich intensiv verlieben kann?

"In the Electric Mist" heißt der neue Film des Franzosen Bertrand Travernier. Es ist ein nahezu klassischer "Whodunnit-Thriller der deutliche Anleihen an den Film Noir macht. Nicht von ungefähr, basiert der Film doch auf einer bekannten "Hard Boiled Detective"-Krimibuchreihe, wie sie für die Galionsfiguren der schwarzen Serie wie Philip Marlowe oder Mike Hammer Pate standen. Den knarzigen Gesetzeshüter Dave Robicheaux spielt Tommy Lee Jones, der diese Rolle in all ihren Facetten bereits gefühlte 100 mal gegeben hat. Er ermittelt an einer Reihe von Morden im heutigen Süden der USA. Als ihm der Schauspieler Elrod T. Sykes (Peter Sarsgaard) begegnet, der in der Nähe einen neuen Film mit dem Geld eines bekannten örtlichen Kriminellen dreht (John Goodman), wird ein weiterer Fall aufgerollt, der Robicheaux zurück in seine Vergangenheit führt. 
"In the Electric Mist" ist zwar klassisch inszeniert und umgeht eigentlich die meisten blöden Fehler, die man bei einem solchen Projekt machen kann, doch darüber hinaus bleibt er vollkommen im Durchschnitt stecken. Surreale Traumsequenzen, in denen Jones mit dem Geist eines Generals aus dem amerikanischen Bürgerkrieg spricht, verweisen unauffällig auf eine andere Vision des Regisseurs, die er dann in einem Streit mit den Produzenten über die finale Schnittfassung nicht hat durchsetzen können. So lässt dieser schwüle Südstaaten-Thriller - trotz seines Potentials - am Ende doch ziemlich kalt.

Das erste wahre Highlight des Wettbewerbs kommt aus dem Iran und heißt "About Elly". Der Regisseur Asghar Farhadi wird wohl den wenigsten deutschen Kinogängern bekannt sein, obwohl sein letzter Film "Fireworks Wednesdays" auf vielen Festivals (auch in Deutschland) zu sehen war. Beachtung verdient die Arbeit dieses Mannes, da er kein typischer Vertreter des iranischen Kinos ist. Iranisches Kino kann man grundsätzlich in zwei unterschiedliche Tendenzen einteilen. Das eine, das ist die kontemplative Schule eines Abbas Kiarostami, die sich besonders der lyrischen Erzählweise und der poetischen Grundstimmung verschrieben hat. Das andere Kaliber beschreiben die harten dokumentarisch-realistischen Filme, die sich besonders mit den sozialen und politischen Missständen des Landes auseinandersetzen. Filmische Beispiele gibt es z.B. von Jafar Panahi, obwohl er sich ab und zu durchaus der Stilmittel aus der ersten Gruppe bedient. Die Filme von Farhadi sind da deshalb anders, da sie sich der iranischen Mittelschicht widmen, die rein demographisch betrachtet im Land immer mehr die Oberhand gewinnt (übrigens eine Entwicklung, die auch in der Türkei vor sich geht und sich im dortigen Kino ähnlich niederschlägt). 
"About Elly" macht genau das. Die ersten Bilder sind bereits hinreißend. Die Kamera scheint im Innern eines Briefkastens zu sein. Wir sehen nur Schwarz und den kleinen lichten Schlitz. Nach mehreren Minuten fährt die Kamera auf den Schlitz zu und ohne einen Schnitt oder eine Blende wird der Schlitz zur Ausfahrt eines Tunnels. Wir sehen junge Menschen in westlichen Autos, die sich aus dem Fenster lehnen und laut schreien. Es ist eine Gruppe von Freunden, teilweise mit Kindern, die sich drei Tage lang am Kaspischen Meer vergnügen wollen. Anlass hierfür ist der Besuch von Ahmed, der lange Zeit in Deutschland lebte und sich dort von seiner deutschen Frau trennte. Nun wollen ihn seine Freunde mit Elly verkuppeln, einer Bekannten eines Kollegen. Eigentlich kennt sie aber nur eine Frau, was die Sache später noch verkomplizieren wird. Der erste Tag am Meer verläuft noch ganz gut. Doch dann hilft Elly den Kindern beim Drachensteigen. Es ist ein glücksseliger Augenblick. Ein wahrer Kinomoment. Dann sagt Elly: "Ich muss weg", und der zweite Teil des Films beginnt. 
Eines der Kinder wird beim Baden zu weit rausgetragen und droht zu ertrinken. Die Erwachsenen retten den Jungen in letzter Minute. Aber wo ist Elly? Ist sie dem Jungen hinterher gesprungen und dabei selbst ertrunken? Auf der Suche nach Elly kommt langsam ihre Vergangenheit ans Licht. "About Elly" ist ein Kino der genauen Beobachtung, in dem die genau kalkulierten Dialoge viel über die soziale Wirklichkeit im Iran aussagen. Das wird besonders in der Konfrontation beider Geschlechter deutlich, die sich nicht in platten Stereotypen erstreckt. Phasenweise mutet der Film an, wie Michelangelo Antonionis "L'Avventura". Auch dort wird das Verschwinden einer Person zum Auslöser für eine völlig andere Geschichte. Am Ende zeigt "About Elly" ganz deutlich, was mit Elly passiert ist. Vielleicht macht er das sogar ein wenig zu deutlich, aber das sind nur kleine Aussetzer in einem ansonsten äußerst überzeugenden Film.

Alles was Tom Tykwer mit "The International" nicht konnte, kann Hans Christian Schmid besser. Sein neuer Film heißt "Sturm" und katapultierte sich rasant in die Herzen vieler Kritiker. Dieser äußerst befriedigende Justizthriller nimmt sich einer ziemlich aktuellen Thematik an. In "Sturm" versucht eine Anklägerin beim Kriegsverbrechertribunal in Den Haag einen Prozess gegen einen serbischen General zu führen, der sich während des Bosnienkriegs an zahlreichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht hat. Gespielt wird diese Anwältin von Kerry Fox (Die für ihre mutige Rolle in "Intimacy" bereits 2001 den silbernen Bären gewann), die mit ihren knallharten blauen Augen eine extreme darstellerische Leistung abfeuert. 
An filmischen Vorbildern hat es Schmid dieses Mal wirklich nicht gemangelt. Phasenweise wirkt "Sturm" wie eine direkte Hommage an die besten Filme von Sidney Pollack und Sidney Lumet. Der Diskurs, den "Sturm" eröffnet, verursacht dennoch einige Sorgenfalten. Hier und da fallen viele Dialoge ziemlich didaktisch aus. Es gibt Zeilen, die die Komplexität von Recht und Gerechtigkeit nur vortäuschen. Das macht aber nichts, denn dem Regisseur gelingt es immer wieder das Ruder herumzureißen. Kurz und gut: "Sturm" ist ein durchaus befriedigender deutscher Wettbewerbsbeitrag.

Juveniler Broken Hearts Club

Am Freitag wurde mit einer Gala das 32 Generation-Programm eröffnet. Zum zweiten Mal fand diese Veranstaltung im traditionellen Kino Babylon in Berlin Mitte statt. Und wie immer bei dieser Veranstaltung war sie restlos ausverkauft. Da im Babylon gerne improvisiert wird, wurden kurzerhand aus Holzstühlen zwei Extra-Reihen gezaubert, damit auch jeder einen guten Blick auf den Eröffnungsfilm haben konnte. Nach der kurzen Eröffnungsreden der Sektionsleiterin und ihres Stellvertreters konnte es dann - in Anwesenheit des jungen Regisseurs Alexis Dos Santos - losgehen. 
Sein Film "Unmade Beds" erzählt von jungen Bewohnern einer WG mitten in London. Da ist zum Beispiel Alex, der aus Spanien hergekommen ist, um vielleicht seinen Vater zu finden, oder die junge Französin Vera, die gerade erst mit ihrem langjährigen Freund Lou Schluss gemacht hat und sich in den Studenten Mike verliebt. "Unmade Beds" muss man sich so vorstellen, als hätte der junge Gus van Sant "L'auberge Espagnol" gedreht. "Unmed Beds" erzählt vom langsamen Erwachsenwerden und von einer Zeit, in der man sich nur Gedanken darum macht in welchem Bett man nächste Nacht schlafen wird. Die Bilder des Films sind grobkörnig, es springt und knackt auf der Tonspur. Immer mal wieder gibt es eine Slow-Motion, Super-8-Aufnahmen und laute Indierock-Musik. 
Wir wissen wenig über die genauen Umstände der einzelnen Teens und Twens. Womit verdienen sie ihr Geld? Studieren sie, oder nicht? Es bleibt aber genug Zeit für ausgelassene Partys, wilden Sex und verträumte Verliebtheit. "Unmade Beds" erzählt auch von dem Gefühl der Freundschaft, das so stark werden kann, dass man es irrtümlicherweise mit Liebe verwechseln kann. Die besten Coming of Age-Filme zeigen das (z.B. "Y tu Mama tambien"). Dos Santos' Film ist nicht immer gelungen, besonders die letzten Minuten, die alle Stricke auf ein gutes und glückliches Ende hinauslaufen lassen, stören den Gesamteindruck ein wenig. Alles wird gut ist in diesem Falle ein bisschen zu einfach.

Vielleicht ist es aber genau diese Botschaft, die man als junger Mensch braucht. Dem Publikum der Generation-Eröffnung hat es sehr gut gefallen. Wie überhaupt das Publikum in der Generation-Sektion etwas ganz Besonderes ist. Nur hier sind die Zuschauer im Durchschnitt genau so alt wie die Figuren in den Filmen. Das führt oft zu einer starken und unwiderstehlichen Symbiose und man wünscht sich, dass viel mehr junge Menschen ins Kino strömen und nicht vor ihren Laptops zu Hause die DVDs im Minutentakt wechseln.

 

Freitag, 6.2.2009: Seltsame Babys und verrückte Japaner

Heute starteten die ersten Wettbewerbsbeiträge. Neben dänischem Realismus gab sich der neue Film von François Ozon seltsam mystisch und unzugänglich. Außerdem gibt es zwei vierstündige Filme im Forum des internationalen Films zu bestaunen.

Das Heimkehren hat sie sich sicherlich anders vorgestellt. In "Lille Soldat", dem Wettbewerbsbeitrag der dänischen Regisseurin Annette K. Olesen (bereits drei mal im Wettbewerb), muss sich die Soldatin Lotte (Trine Dyrholm) nach ihrem Einsatz im Irak als Fahrerin im Geschäft ihres Vaters verdingen. Der unterhält ein Bordell mit illegalen Einwanderinnen aus Afrika. Eine von ihnen, Lily (Lorna Brown), hält er sich als Ehefrau. Lotte und Lilly kommen sich während ihrer Fahrten zu den Freiern immer näher. 
Im ersten Wettbewerbsfilm geht es gewohnt düster zur Sache. Drogen, Prostitution, Vater-Tochter-Konflikt, Krankheit, Tod und natürlich auch der Irakkrieg. Auch der beste Film muss sich einer solchen Themenlast irgendwann beugen. Und deswegen zerfällt "Lille Soldat" in viele kleine Einzelteile, von denen einige durchaus schön anzusehen sind, aber leider nur selten einen bleibenden Eindruck hinterlassen.

François Ozon kämpft auch um den Goldenen Bären und zwar mit seinem Science-Fiction-Sozialdrama "Ricky". Katie (Alexandra Lamy) und Paco (Sergi Lopez) treffen sich in einer Fabrik. Zwei Geschlechtsakte später wird Katie schwanger und sie, Paco und Katies 7-jährige Tochter (Mélusine Mayance) werden eine Familie. So weit so gut. Doch plötzlich entdeckt Katie am Rücken des Babys, das den Namen Ricky bekommt, blaue Flecken. Sie verdächtigt sofort ihren Lebensgefährten des Kindesmissbrauchs und trennt sich auf der Stelle von ihm. Doch dann wachsen dem Baby aus den blauen Flecken kleine Flügel. Ein Wunder? Ein Traum? Vielleicht sogar eine Verdrängungsphantasie? 
Ozon, dieser junge französische Kinomeister, dreht Filme, die sich immer jenseits der Genrekategorisierung bewegen. Kein Film gleicht dem anderen. "Ricky" erinnert phasenweise an das Schaffen eines Benicio Del Toro, Ken Loach, R.W. Fassbinder und dann wieder an den harten Sozialrealismus der Gebrüder Dardenne. Was sich wirklich hinter diesem fliegenden Baby verbirgt, das wird nicht erklärt. Aber diese wundersame Familiengeschichte ist durchströmt von kleinen und großen Mythen und Mysterien. Das kann man sehr doof und einfältig finden und tatsächlich trägt die Idee von "Ricky" nicht jeden Augenblick der Geschichte. Aber diese Vision ist im Nachhinein viel zu interessant, um sie so leichtsinnig links liegen zu lassen.

Lange Filme im jungen Forum

Das internationale Forum des jungen Films eröffnete dieses Jahr mit dem neuen Werk des japanischen Regisseurs Sono Sion. Sion war vor zwei Jahren schon mal mit seinem Film "Strange Circus" im Forum vertreten. Damals hatte er eine sehr krude Inzestgeschichte erzählt, die merklich Anleihen an den japanischen Horrorfilm der 80er Jahre machte und dann im Endeffekt extrem blutig endete. Sein neuer Film "Love Exposure" dauert knapp über vier Stunden (was den Geschmack eines Kurzfilms bekommt, wenn man die 10 bis 12 Stunden Filme eines Lav Diaz kennt) und lässt sich wohl von niemandem sinnvoll zusammenfassen. Hier ein Versuch: Als die Mutter von Yu (Nishijma Takahiro) stirbt, wird sein Vater zum katholischen Priester und verstößt kurz darauf seinen eigenen Sohn. Um die Liebe seines Vaters wiederzugewinnen, geht Yu jeden Tag beichten. Da er aber bisher ein ziemlich beschauliches Leben geführt hat, fängt er an absichtlich zu sündigen, um etwas zum Beichten zu haben. Das ist der Inhalt der ersten halben Stunde. Später kommt noch eine Queere und Identitätsüberschreitende Liebesgeschichte mit einem Penis abschneidenden Mädchen hinzu. 
"Love Exposure" zerlegt jegliche Kinokonvention. Hier wird geprügelt, gevögelt, gewitzelt und gebetet was das Zeug hält. Nichts wird ernst genommen. Alles ist erlaubt. Man muss so etwas nicht mögen. Doch wer sich darauf einlässt, bekommt ein filmisches All-You-Can-Eat Buffet serviert, welches kurzweiliger (trotz seiner überirdischen Länge) nicht sein kann. Nur auf der Berlinale schafft es so ein Film am Ende vereinzelte Standing Ovations zu bekommen.

Die Langzeitdokumentation "Dr. Ma's Country Clinic" ist nur 15 Minuten kürzer als "Love Exposure". Cong Fengs Film fokussiert sich dabei nicht auf Dr. Ma selber (der eigentlich kein herkömmlicher Arzt ist, sondern sich der traditionellen chinesischen Heilmedizin verschrieben hat), sondern bleibt - wie es der Titel andeutet - in der Klinik. Hier kommen die Menschen hin und warten auf den zwei Holzbänken, die mitten in der Praxis stehen und dennoch als Wartezimmer bezeichnet werden. Der chinesische Regisseur Feng hört den Menschen dabei zu, wenn sie sich über ihre schweren Arbeitsbedingungen beklagen, wie sie sich Sorgen über ihre Kinder machen (die immer noch nicht verheiratet sind), wie sie sich über korrupte lokale Politiker beschweren und natürlich auch über ihr schweres Leben. Der Film zeigt auch die vielen Wanderarbeiter, die heute nicht wissen, wo sie oder ob sie überhaupt morgen irgendwo arbeiten werden. 
Zuhören ist auch Dr. Ma's erste Behandlungsmaßnahme. Dabei legt er immer zwei Finger auf das Handgelenk des Patienten, bevor er ihn fragt, was ihm denn fehlt. Nach der Hälfte des Films verliert man sich in dieser Umgebung. Die harten Bilder der DV-Kamera sind schonungslos direkt. Die Menschen hier ertragen ihren schweren Alltag mit genau der gleichen oberflächlichen Lässigkeit, wie sie auch ihre schweren und leichten Krankheiten ertragen. Ein alter Mann der immer wieder für eine Infusion kommt, sieht hier eher aus wie 110, ist aber knappe 70. Das Leben in den chinesischen Provinzen eröffnet sich in diesem Film in all seiner Schonungslosigkeit. Vielleicht ist "Dr. Ma's Country Clinic" nicht so virtuos und stilsicher wie die Dokumentarfilme von Jia Zhangke, und trotzdem hat man nach den 215 Minuten Kinozeit etwas erlebt, was wohl eine lange Zeit im Gedächtnis bleiben wird. So nahe wie hier wird man den vielen Chinesen in den Provinzen der Volksrepublik wohl nie kommen. Allein hierfür lohnt es sich, die kostbare Festivalzeit zu investieren.

Dass man auch nur ein Drittel so lang, aber dabei dreimal langatmiger sein kann, bewies dagegen der schwedische Forumsbeitrag "Burrowing". Der läuft zwar lediglich 76 Minuten, präsentiert dabei aber nur unzusammenhängende und größtenteils dialoglose Momentaufnahmen aus einer Reihenhaus-Siedlung, die pseudo-bedeutungsschwangeren Tiefsinn versprühen, sich aber zu nichts weiter als einer grandiosen Schnarchgranate summieren. Sowas gibt's leider auch auf einem so großen Festival.

Auch ein deutscher Film machte heute erstmals von sich reden: Florian Gallenbergers Weltkriegs-Drama "John Rabe" läuft in der konkurrenzfreien Special-Sektion, wäre tatsächlich aber ein lohnender Wettbewerbskandidat gewesen. Vielleicht war er der Festival-Leitung auch schon zu Mainstream. Aber als das, was er ist, ist er großartig. Mehr zu diesem Film, der Anfang April in den deutschen Kinos anläuft, in unserer ausführlichen >>> Rezension.

 

Donnerstag, 5.2.2009: Die Welt ist ein einziger Kinofilm

Am Tag der offiziellen Eröffnung stellte sich die Jury des Wettbewerbs den Fragen der Presse und präsentierte ihre Festival-Agenda. Und Tom Tykwer verweist mit seinem Eröffnungsfilm auf erste filmübergreifende Tendenzen und Themen.

Wer im Vorhinein an der Kompetenz der diesjährigen Jury zweifelte, der wurde bei der heutigen Pressekonferenz eines Besseren belehrt. Als Tilda Swinton nach dem Besten gefragt wird, was ihr je im Kino passiert sei, antwortet sie: "In einer Vorführung von Andrej Tarkowskijs Film ‚Stalker' und während Apichatpong Weerasethakuls ‚Tropical Malady' dachte ich wirklich, ich träume." Spätestens hier wird klar, welche Art von Kino in dieser Jury - hoffentlich - die Oberhand gewinnen wird. Überhaupt ist es unglaublich inspirierend einer filmverrückten Frau wie Tilda Swinton dabei zu zuhören, wie sie von ihrer großen Leidenschaft schwärmt. Sie spricht von "Berlins Kinohunger und Kinobildung" und vom "Geist der Weite und Entdeckungslust", die nur ein Gang ins Kino in ihr wecken kann. Es ist das erste Mal seit langem, dass man sich keine großen Sorgen über eventuelle Fehlentscheidungen seitens der Jury machen muss. Sehr beruhigend.

Weniger ruhig, dafür umso actionreicher geht es in Tom Tykwers Film "The International" zu. Tykwer erzählt von korrupten Banken, Geldwäscherei, illegalem Waffenhandel und einer globalen Ausbeutungsindustrie (unsere ausführliche Rezension gibt es>>>hier). Clive Owen und Naomi Watts stehen im Mittelpunkt dieser deutsch-amerikanisch-dänisch-italienischen Koproduktion. Und selbst Armin Müller-Stahl, als Ex-Stasiagent (klar, was sonst), darf in dieser ziemlich kantig konstruierten Story auftreten. Innerhalb der 118 Spielminuten begibt sich Tykwer einmal quer durch die westliche Welt des Kapitalismus. Die Reise führt ihn von Berlin über Luxemburg, London, New York, Mailand bis nach Istanbul. Das ist alles sehr schön fotografiert und darf als handwerklich wohl bester Tom Tykwer-Film gelten, aber die erzählte Geschichte versinkt irgendwann in schierer Belanglosigkeit. 
Natürlich wird jetzt in jeder Kritik darauf verwiesen werden, dass der Film als eine Art Kommentar auf die aktuelle Finanzkrise gelesen werden kann. Doch solche Interpretationen führen nicht weit. Die Welt, von der "The International" erzählt, mag uns im ersten Augenblick bekannt vorkommen, aber sie fundiert auf einer einzigen Verschwörung. Jede Regierung, jedes System ist einzig und allein darauf aus Profit aus dem Leid und den Schulden anderer zu schlagen. Wenn es zur Zeit auch so scheint - ganz so düster sollte man die Welt in der wir leben dann doch nicht sehen, auch wenn diese spezielle Sichtweise der Thrillerkonvention geschuldet sein mag. 
An einer Stelle sagt Armin Müller Stahl: "Der Unterschied zwischen Fiktion und Realität ist der, dass in der Fiktion immer alles logisch sein muss." Mit seinem fast schon zwanghaften Wahn, die Realität abbilden zu wollen, versucht "The International" uns von einer Welt zu erzählen in dem alles mit allem zusammenhängt und nicht isoliert und getrennt voneinander zu betrachten ist. Das ist eine Kinoidee, die durchaus seinen Reiz haben kann. Das bewies Alejandro Gonzales Innaritu mit "Babel", wo er zwar keine "realistische" Geschichte erzählte, aber immerhin unvergessliche Bilder schuf, die sich nicht im platten Agitprop ergossen. Tykwer findet diese Bilder leider viel zu selten.

Und dennoch weist "The International" einen Weg, den viele Filme des Wettbewerbs gegangen sind. Ein deutscher Regisseur dreht mit einer internationalen Besetzung eine eng verzweigte Geschichte mit Geldern aus diversen Ländern. Fast jeder Film auf der Berlinale verdankt seine Entstehung einer internationalen Koproduktion. So drehte Lukas Moodysson mit Gael Garcia Bernal in New York, den Philippinen und Thailand. Hans Christian Schmid drehte mit der rumänischen Darstellerin Anamaria Marnica und der Engländerin Kerry Fox seinen ersten englischsprachigen Film und der englische Regisseur Peter Strickland hat sein Debüt gleich vollkommen auf rumänisch gedreht (natürlich in Rumänien). Das Besondere daran ist nicht, dass die Filmfinanzierung zunehmend internationaler wird (das ist keine neue Entwicklung), sondern dass auch die Drehbücher immer häufiger vernetzte Geschichten erzählen. Ob das nun der Einzug der Globalisierung in die Welt des Kinos ist, wird sich zeigen. Tykwers Film wird deswegen wohl trotzdem nicht großartig in Erinnerung bleiben, und auch als Eröffnungsfilm bedient er - rein qualitativ betrachtet - eher das untere Mittelmaß.

 

Mittwoch, 4.2.2009: Eine Stadt wird zum Festival

Morgen wird die 59. Berlinale mit Tom Tykwers Finanzthriller "The International" eröffnet. Vorab ein paar Gedanken über die Filmauswahl, die Jury, die Festivalatmosphäre und die Stadt Berlin ...

Noch ist nichts fertig. Die roten Teppiche müssen noch zugeschnitten und die Absperrgitter im richtigen Abstand justiert werden. Nur die großen Fernsehanstalten haben ihre Übertragungswagen am Potsdamer Platz bereits platziert. Einen Tag vor der feierlichen Eröffnung herrscht emsiges Treiben rund um den Berlinale Palast, dem Zentrum der 59. Berliner Filmfestspiele. Im Palast knien zwei Gärtner mit ihren grünen Overalls tief in schwarzer Blumenerde und pflanzen in aller Ruhe glänzend weiße Tulpen. Ein Teppichausleger, der die dünnen Teppichrollen ausmisst, brüllt die vorbeiflitzenden Journalisten und Akkreditierten mit italienischem Akzent an: "Ey, nicht über den roten Teppich!". Obwohl die Arbeiten an der Dekoration noch voll im Gange sind, muss man sich keine Sorgen darüber machen, dass morgen, wenn fasst die gesamte nationale Filmprominenz über den Marlene Dietrich Platz schreitet, der Festival Palast nicht fertig geschmückt sein wird. Die Berlinale ist schließlich nicht die Mostra in Venedig, wo oft noch lange nach der offiziellen Eröffnung die Bauarbeiter werkeln und die italienische Gelassenheit vielen die Laune am Festival vermiest. Auf die deutsche Pünktlichkeit ist eben immer noch Verlass.

Ob auf eine flächendeckende hohe Qualität der Filme im internationalen Wettbewerb Verlass sein wird, muss sich noch zeigen. Das was man vorab sieht, liest und hört, verleiht einem eher gemischte Gefühle. Die ganz große Hoffnung, dass vielleicht der neue Jarmush, Almodovar oder Chan-Wook auf dem Festival Premiere feiern würde, starb spätestens bei der großen Pressekonferenz, als das Team um Festivalleiter Dieter Kosslick den letzten Wettbewerbsfilm - "My One and Only" von Richard Loncraine (der vor ein paar Jahren auf der Berlinale den Regiepreis gewann, weil er Shakespeares Hamlet im dritten Reich spielen ließ) - vorstellte. Der genauere Blick auf das komplette Wettbewerbsprogramm will die zwiespältigen Gefühle nicht ganz eliminieren. So ist mit Chen Kaiges opulentem Biopic über den berühmtesten chinesischen Opernsänger Mei Lanfang nur ein einziger asiatischer Beitrag zu verorten. Dabei ist das asiatische Kino traditionell immer äußerst stark vertreten. 
Ein Lob geht an dieser Stelle an die Festivalkommission, weil sie dieses Jahr auf sogenannte Quotenfilme weitgehend verzichtet hat. So findet sich kein Film aus Italien (den man sonst immer im Wettbewerb ertragen musste, da man seine Hoffnungen auf einen deutschen Film in Venedig nicht schmälern wollte). Was auffällt sind auch die wenigen französischen Beiträge. So hat Altmeister Bertrand Travernier mit "In the Electric Mist" seinen ersten komplett englischsprachigen Film gedreht. In den Hauptrollen dieses Polizeithrillers, der in den Südstaaten der USA angesiedelt ist, werden wir Tommy Lee Jones und John Goodman sehen können. "In the Electric Mist" - wie vor kurzem bekannt wurde - kam nach einem großen Streit zwischen Produzenten und Regisseur über die finale Schnittfassung als DVD-Premiere bereits in den USA auf den Markt und erlebt trotzdem auf der Berlinale seine Kino-Weltpremiere. 
Ansonsten darf man sich auf die neuen Filme von Stephen Frears, Lukas Moodysson, François Ozon und Sally Potter freuen. Zudem gibt es zwei noch völlig unkalkulierbare kleine Filme aus Südamerika (der Überraschungskontinent der letzten Festivalausgaben) zu bewundern. Ärgerlich wird es jedoch, wenn man sieht, dass die Berlinale wieder einmal das osteuropäische Kino völlig links liegen lässt. Auch wenn mit "Tatarak", dem neusten Film des polnischen Regiemeisters Andrzej Wajda, ein Vertreter aus Osteuropa dabei ist, kann man über das Fehlen von Filmen aus diesem sehr aktuellen, aufregenden, vitalen undoftmals sogar visionären Teil der Kinowelt nur bedauernd den Kopf schütteln. Dabei kann die Auswahl nicht so spärlich gewesen sein, denn schließlich wurden dieses Jahr mit 6.000 Einreichungen mehr Filme an die Berlinale-Leitung geschickt als in allen Jahren zu vor. 
Mit Maren Ades Beziehungsdrama "Alle Anderen" und Hans Christian Schmids Justizdrama "Sturm", haben es immerhin zwei äußerst interessante und talentierte Stimmen des deutschen Kinos in das Rennen um den Goldenen Bären geschafft. Besonders für Ade darf man sich freuen, schließlich hat sie mit ihrem Debütfilm "Der Wald vor lauter Bäumen" vor knapp sechs Jahren die Herzen (von Sundance bis Rio) von vielen Kinogängern erobert. Dass ihr zweiter Film es in den internationalen Wettbewerb geschafft hat, deuten viele als bewusstes Anknüpfen an die Tradition kleines, sparsames deutsches Autorenkino auf einer großen Bühne einem Weltpublikum zu präsentieren. Dasselbe geschah vor drei Jahren mit Valeska Grisebachs "Sehnsucht", der zwar keinen Preis ergattern konnte, aber von der ausländischen und nationalen Kritik frenetisch gefeiert worden ist.

Das Kino aus den USA ist zwar rar gesät - die großen Blockbuster werden außerhalb der Konkurrenz gezeigt - verspricht aber zumindest mit "The Messenger", der gerade erst in Sundance lief und dort einiges an Aufmerksamkeit gewonnen hat, ein Highlight hervorzubringen. In Oren Movermans Film beobachten wir Woody Harrelson und Ben Foster, wie sie den "schlimmsten Job der Army" ausüben. Sie teilen Hinterbliebenen im Irak gefallener US-Soldaten den Tod ihrer Töchter und Söhne mit. 
Mitchell Lichtenstein war vor ein paar Jahren mit seinem letzten Film "Teeth" in der Panorama-Sektion zu sehen, wo er auf sehr unterhaltsame Weise den populären "Vagina-Dentata" Mythos als Highschool-Horror-Movie inszenierte. Sein neuer Film heißt "Happy Tears" und zeigt, wie sich zwei Schwestern (gespielt von Indie-Queen Parker Posey und Demi Moore) bei der Pflege ihres immer dementer werdenden Vaters (gespielt von niemand geringerem als Rip Torn, der lustigerweise im offiziellen Berlinale Programmheft als "Rip Zom" angepriesen wird) über ihr nicht ganz so perfektes Leben bewusst werden.

Mit 18 Teilnehmern kämpfen 2009 besonders wenige Filme um den goldenen und die silbernen Bären. Dafür gibt es ganze sieben Werke, die außerhalb der Konkurrenz gezeigt werden, darunter die neuen Filme von Theo Angelopoulos, Rebecca Miller, Costa Gavras und Stephen Daldrys Oscar-Kandidat "Der Vorleser". In der oft kritisierten, Wettbewerbs-freien Berlinale Special-Sektion gibt es außerdem neues von Claude Chabrol, Manoel de Oliveira, Paul Schrader, Ermanno Olmi und Lone Scherfig zu sehen. Außerdem feiern hier große deutsche Produktionen, wie "Hilde", "Effi Briest" und "John Rabe" ihre Premiere.

Die Jury um Präsidentin und Oscar-Gewinnerin Tilda Swinton wird es wieder mal schwer haben den Sieger zu küren. Doch nach welchen Kriterien werden sie entscheiden? Nachdem letztes Jahr Costa Gavras seine Vision vom "politischen" Kino mit der Kür des brasilianischen Films "Tropa De Elite" demonstrierte und damit für viel Unmut unter den Festivalgängern sorgte, kann man dieses Jahr nur hoffen, dass endlich mal ästhetisch-visionäre Aspekte auf der Agenda der Jury stehen werden. Mutige, extreme, manchmal auch schwer zu konsumierende Werke dürfen nicht immer außen vor bleiben, und was nützt der Sieg bei der Berlinale, wenn der Film dann in Europa keine Kinoauswertung bekommt (siehe "Tropa De Elite")? 
Mit dem enfant terrible der deutschen Kino-, Theater- und Opernszene Christoph Schlingensief, den Regisseuren Isabelle Croixet, Wayne Wang und Gaston Kaboré, dem Schriftsteller Henning Mankell und der Foodaktivistin (!) Alice Waters hat Festivalleiter Kosslick eine wirklich illustre Truppe zusammengestellt, die dann am 15. Februar die Bären vergeben wird. Bis jetzt hat auch niemand abgesagt und das Fiasko vom letzten Jahr (wie erinnern uns: zwei Juroren sprangen kurz vor dem Festival ab und ließen Kosslick im Regen stehen) wird wohl zum Glück nur eine einmalige peinliche Episode bleiben.

Man könnte jetzt fortsetzen und anfangen über die Filmauswahl des Forums (über 100 Filme), des Panoramas (feiert sein 30-jähriges Bestehen mit u.a. Gus van Sants "Milk" und einer kleinen Hommage an die letzten Sektions-Sieger), des Generation-Programms, der Retrospektive, der Hommage, des kulinarischen Kinos und natürlich auch der Perspektive deutsches Kino zu schreiben, aber dazu wird in den nächsten zehn Tagen noch viel Zeit sein.

Ein Jahr vor ihrem 60sten Geburtstag hat die Berlinale es geschafft noch weiter zu expandieren. Es sind drei neue Kinos dazugekommen, die Filme aus dem Festival zeigen. Darunter auch der altehrwürdige Friedrichstadtpalast. Das ist zwar eine Entwicklung, die nicht von vielen gutgeheißen wird. Besonders Journalisten meckern, dass das Festival ziemlich unübersichtlich geworden ist. Doch man kann erkennen, dass die Berliner Filmfestspiele und die Stadt Berlin eins geworden sind. Nord und Süd, Ost und West - überall geht es um die Berlinale. Das unterscheidet das Festival von seinen Konkurrenten in Cannes und Venedig. Die Berliner stehen schon seit zwei Tagen mutig und ausdauernd in langen Schlangen an, um sich die begehrten Tickets zu sichern. Die Berlinale ist ein einzigartiges Publikumsfestival. Das macht seinen unwiderstehlichen Reiz aus, und das macht es besonders und einzigartig. Ein Fest des Kinos und der Filmkunst.

 


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