Insider

Originaltitel
The Insider
Land
Jahr
1999
Laufzeit
150 min
Regie
Release Date
Bewertung
9
9/10
von Frank-Michael Helmke / 11. Juni 2010
Die Prozesse gegen die amerikanische Tabakindustrie häufen sich. Immer mehr Leute verlangen immer mehr Geld als Schadensersatz für gesundheitliche Schäden, verursacht durch jahrelangen Konsum der beliebten Glimmstengel. Und seit einiger Zeit verliert die Tabakindustrie diese Prozesse auch regelmäßig, die Schadenszahlungen gehen inzwischen stramm auf eine Billion Dollar zu. Aber das war nicht immer so. Vor einigen Jahren hat die Tabakindustrie diese Prozesse mit schöner Regelmäßigkeit gewonnen, immer mit der Ausrede, daß die berauschende Wirkung von Nikotin nicht eindeutig bewiesen sei und sie darauf sowieso keinen Einfluß hätten. Daß sie damit heutzutage nicht mehr davon kommen, daran hat ein Mann namens Dr. Jeffrey Wigand entscheidenden Anteil, und dessen Geschichte widmet sich der neue Film von Michael Mann, sein erstes Werk seit dem legendären Großstadt-Krimi „Heat“ von 1996.

Lowell Bergman ist Producer für „60 Minutes“, das erfolgreichste, beliebteste und beste TV-Nachrichtenmagazin der USA. Bei Nachforschungen für eine Story kommt er eher zufällig in Kontakt mit Dr. Jeffrey Wigand, der vor kurzem von seinem Posten als wissenschaftlicher Abteilungsleiter beim Tabakriesen Brown & Williamson entlassen wurde. Schnell merkt Bergman, daß hier eine ganz andere, wesentlich interessantere Story lauert, doch Wigand ist durch eine Verschwiegenheitserklärung gebunden, bei deren Bruch seine Familie vor dem finanziellen und gesundheitlichen Ruin stände. Bergman versucht, ein Schlupfloch zu finden, daß es Wigand erlaubt, sein brisantes Wissen auszupacken, während die Zigarettenindustrie nicht viel Zeit verliert und Wigand mit allen Mitteln von einer Aussage abzuhalten versucht. Das hat alles andere als den gewünschten Erfolg, doch vor Wigand’s Gang an die Öffentlichkeit stehen plötzlich völlig neue Hindernisse.

Zur Erhaltung der Spannung soll der Plot nicht weiter erläutert werden, und auch Wigand’s explosives Wissen bleibt hier unerwähnt, auch wenn beides andernorts sicherlich ausgiebig wiedergegeben wird. Aber letztendlich ist der Plot hier auch nicht das Entscheidende, da der Ausgang für gut informierte Menschen sowieso bekannt ist. Der Vergleich mit Brian de Palma’s „Die Unbestechlichen“ (über die Watergate-Affäre) ist zwar qualitativ nicht ganz gerechtfertigt, trifft den Nagel aber in anderer Hinsicht auf den Kopf: Obwohl das Endergebnis offensichtlich und bekannt ist, ist der Film höllisch spannend und packt den Zuschauer von Anfang bis Ende.
Das hat verschiedene Gründe. Beispielsweise die Tatsache, daß „Insider“ rein inszenatorrisch betrachtet die Meisterleistung ist, die man bei Michael Mann’s neuem Film nach „Heat“ erwarten konnte. Der ehemalige kreative Kopf hinter „Miami Vice“ hat in den letzten drei Jahren offensichtlich nichts verlernt, wie schon bei „Heat“ trifft er die perfekte Balance zwischen Dramaturgie und Konzentration auf seine Charaktere. Geniale Unterstützung erhält er dabei von seinem Kameramann Dante Spinotti, dessen sehr eigenwilliger, aber enorm wirksamer visueller Stil extrem auffällig ist (dazu sei gesagt, daß eine Kollegin gerade diesen Stil mit zunehmender Spielzeit als eher nervig empfand. Persönlich finde ich es nur legitim, wenn man so etwas auch komplett durchzieht, sonst bleibt die Konsequenz auf der Strecke), und speziell bei der intensiven Studie der Figuren sehr hilfreich ist. Durch die starke Konzentration auf Gesichtszüge, speziell die Augen, wird in „Insider“ wahnsinnig viel gesagt, ohne das es ausgesprochen wird. 
Das ist auch eine besondere Herausforderung an die Schauspieler, und genau das sorgt in diesem Film für eine ganz besondere Überraschung: Russell Crowe’s Darstellung als Jeffrey Wigand ist in ihrer Vielschichtigkeit und verborgenen Tiefe eine der aufregendsten Leistungen, die es in diesem Jahr bisher zu bewundern gab. Was Crowe hier durch eine unglaublich dezente Körpersprache transportiert, läßt sogar die spannenden Wortduelle vergessen, die er sich mit Al Pacino liefert. Der hat es, wohl zum ersten Mal in seiner gesamten Karriere, so richtig schwer, zu bestehen: Pacino ist vor allem ein Mann der großen Monologe, der in bester Form nicht mehr als zwei Minuten ungeteilte Aufmerksamkeit braucht, um das Publikum begeistert aufschreien zu lassen. Diese Szenen werden ihm hier nicht gegeben, und so passiert das Unerwartete: Al Pacino wird an die Wand gespielt. Das hat zuvor noch keiner geschafft, und das ist einer der Gründe, warum dies wohl DAS Jahr des Russell Crowe werden dürfte: Mit „Insider“ gewinnt er die Kritiker, mit „Gladiator“ wird er im Sommer das Publikum gewinnen. Hier kommt der neue Superstar 2000.
Eine andere enorme Stärke von „Insider“ ist die mehrschichtige Aussagekraft: Wir haben es hier nicht nur mit der Geschichte eines Kampfes gegen die Tabakindustrie zu tun. Gleichzeitig gibt es ein detailgetreues Charakterportrait, eine Auseinandersetzung mit journalistischer Ethik, und vor allem eine sehr differentierte Abhandlung über Moral. Dies ist kein Film der einfachen Antworten, denn für (fast) jedes Dilemma gibt es hier zwei vernünftige Lösungen, die ich als innere und äußere Moral bezeichnen würde. Die innere Moral besagt, was das Beste für das persönliche Umfeld ist, für die Familie, die Firma, die Freunde. Die äußere Moral diktiert, was das Beste für die Gesellschaft an sich ist. Wer „Insider“ sieht, versteht, warum diese beiden Möglichkeiten nicht unter einen Hut zu bringen sind. Und muß leider auch einsehen, daß unsere Gesellschaft gerade deshalb vor so vielen Problemen steht, weil zu viele Menschen nur nach der einen Moral handeln. Kant’s kategorischer Imperativ ging mir beim Betrachten nicht mehr aus dem Kopf. Und was dieser Film sagt, ist, daß dieses Konzept in unserer Welt nicht mehr funktioniert: Der Ehrliche ist immer der Dumme. In dieser Hinsicht ist „Insider“ ein sehr pessimistischer, aber gerade deshalb auch sehr ehrlicher Film.

„Insider“ ist deshalb ein Exkurs in grandiosem Filmemachen, weil durch das außergewöhnliche Können der Beteiligten vor und hinter der Kamera eine an sich unspannende weil bekannte Geschichte in eine spannungsgeladene und atmosphärisch dichte Parabel über Moral und Gewissen verwandelt wurde. Seine Oscar-Nominierungen für Film, Regie, Drehbuch, Hauptdarsteller, Kamera und Schnitt hat er auf jeden Fall mehr als verdient. Ein kleines bißchen zu lang geraten, aber ohne Frage ein Film, wie man ihn nicht sehr oft zu sehen bekommt.

P.S.: Die Macher von „Insider“ haben sich einige künstlerische Freiheiten bei der Dramaturgie erlaubt, so daß sich speziell im letzten Drittel des Films ein paar Darstellungen finden, die in der Realität nicht so abgelaufen sind. Wer an Hintergrundinformationen interessiert ist, findet diese hier: www.brillscontent.com/features/Real_1_0899.html

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