Intimacy

Originaltitel
Intimacy
Jahr
2000
Laufzeit
108 min
Genre
Release Date
Bewertung
9
9/10
von Simon Staake / 11. Juni 2010

Intimität. Davon ist am Anfang nicht viel zu spüren: Ein heruntergekommenes Reihenhaus in London. Ein Mann räumt in einem dreckigen Raum voller Gerümpel schnell Geschirr und Klamotten weg, als es an der Tür klingelt. "War das vereinbart", fragt er sie. Die Situation ist angespannt, beide sind nervös. Er bietet ihr einen Kaffee an,

Kein 
Martini
Hier geht es schnell, direkt und gefühllos zur Sache: Mark Rylance und
Kerry Fox nach dem Koitus in "Intimacy"

aber der wird unberührt stehenbleiben. Die beiden reißen sich die Sachen vom Leib, es wird nicht geredet, gibt kein Vorspiel, es wird gleich wild drauflos gevögelt. Ohne Abblenden. Ohne Weichzeichner. Ohne Bettdecke, die prüde das Geschehen verhängt.
So beginnt der große Gewinner der Berlinale, Patrice Chereaus Verfilmung von Motiven des englischen Kultautors Hanif Kureishi. Ein Film, der bereits im Vorfeld für Furore sorgte, dank der so effektheischerischen wie obligatorischen Diskussion über das hier Gezeigte. Darf man das? Ist das noch Kunst oder eher doch schon Pornographie? Immerhin gibt es hier die vielzitierte full frontal nudity, für Hollywood Tabuwort Nr. 1, es gibt sein eregiertes Geschlechtsteil zu sehen und, von den meisten über Pornographie klagenden Kritikern meistgehasst, ihre Behandlung desselbigen. Wenn Kerry Fox Mark Rylances bestes Stück in den Mund nimmt, wendet sich so mancher Besucher vielleicht doch peinlich berührt oder angeekelt ab. Weshalb sich dann die Frage stellt, warum ein völlig normaler sexueller Akt derartig heftige Reaktionen nach sich zieht. Vielleicht, weil er so ernsthaft dargestellt ist, so realistisch, bar jeder Schutz bietenden Klischees. Inmitten der Welt des keimfreien Barbiesex, der Stolze-Jungfrau-Britneys und der bereits besprochenen Hollywooddecke, die dem Mann merkwürdigerweise immer knapp über die Hüfte reicht, der Frau jedoch immer knapp über die Brüste, verstört dies. Zu wenig ist der Zuschauer derartige Explizität, derartigen Realismus gewöhnt. Leinwandsex ist de facto immer etwas Abstraktes, ein Kunstprodukt, das gerade ob der Hollywood-üblichen Darstellungsmethoden gemocht wird. Durchbricht ein Film diese falsche Darstellung, das Trugbild des Sex, so wird empört aufgeschrien.
Und das natürlich völlig zu Unrecht. Denn auch wenn die schonungslosen Sexszenen, die hier doch nur einen Bruchteil des Films einnehmen, das Sehverhalten provozieren, so ist das nie Selbstzweck und damit von Pornographie so weit entfernt wie diese von einer Folge der Sesamstrasse. Jeder T&A-Shot in "Baywatch" ist

Kein 
Martini
Seine Neugier bringt das Kartenhaus zum Einstürzen:
Mark Rylance als doch nicht eiskalter Leidenschafter Jay.

insofern pornographischer als das hier gezeigte. "Intimacy" kann und darf das Ganze so darstellen, muss es sogar, denn der Film hat etwas zu sagen: Über Sex, über Liebe und über die Dinge dazwischen. Darum geht es hier, in der Geschichte über zwei Fremde, die sich jeden Mittwoch zum hemmungslosen anonymen Sex treffen. Am Anfang sind sie wie Maschinen, nicht perfekt funktionierend, aber mit der simplen Zielvorgabe des schnellen Ficks versehen. Chereaus Abhandlung ist auch eine Geschichte der Menschwerdung. Von der Anonymität der körperlichen Nähe in die Intimität der seelischen.
Das angestrebte Ideal des anonymen Sex ohne Verpflichtungen fängt an zu bröckeln, als Claire eines Mittwochs nicht auftaucht und Jay anfängt, nachzuforschen. Wer ist diese Frau, was macht sie? Jays stalking ist stümperhaft und befremdlich anzusehen, aber es setzt Ereignisse in Gang, die das nicht ausgesprochene Mittwochsmodell zusammenstürzen lassen wie ein Kartenhaus, ein menschliches Modell eben, gerade daher zum Scheitern verurteilt. Jay verwickelt sich in ein Spiel, in dem es keine Gewinner geben wird. Er trifft Claires Ehemann (Mike Spall), den Gehörnten als dicken und gutmütigen Taxifahrer, und provoziert diesen mit

Kein 
Martini
Regisseur und frisch gebackener Bären-Gewinner Patrice Chereau
während der Dreharbeiten.

Anspielungen über seine Frau. Derweil sich die erfolglos in Schauspielerei versuchende Claire bei einer älteren Schauspielkollegin (Marianne Faithful) Rat sucht und zusehen muss, wie auch auf ihr Betreiben hin das so einfach Scheinende ihrer Kontrolle entgleitet.

Für eben jene Bruchstellen, in den sorgsam aufgebauten menschlichen Konzepten wie dem einer Beziehung, ob sexuelles Abenteuer oder die Apathie einer leidenschaftslosen Ehe, interessiert sich Chereau, so wie er sich eben auch für die Brüche in der Darstellung von Sexualität interessiert. Wie er die Druckstellen der Matratze auf Kerry Fox' Körper nach beendetem Koitus ins Bild rückt, das gibt es normalerweise nirgendwo zu sehen. Überhaupt liebt der offen schwul lebende Chereau den nicht perfekten Körper von Kerry Fox, die für ihre mutige und vollkommen überzeugende Darstellung den Silbernen Bären als Beste Darstellerin gewann. Dem steht Mark Rylance als eigentlicher Protagonist in nichts nach, sein Jay ist die nochmalige Negativablichtung eines Antihelden Hornbyscher Prägung. Wir sehen ihm dabei zu, wie er fremde Ehen gefährdet, wie er seine Freunde vor den Kopf stößt, aber wir wollen, können ihn nicht verurteilen. Zuviel des Jedermanns steckt in ihm, auf der Suche nach dem eigenen Stück vom Glück; getrieben vom nichtgreifbaren Wunsch, das Richtige zu tun, und sei es ganz egoistisch nur das Richtige für ihn.

Kein 
Martini
Kerry Fox und Mark Rylance beeindrucken als ein Paar, dessen
Beziehung zusammenbrechen muß, bevor sie überhaupt beginnt.


"Intimacy" endet so, wie er anfing: Das Paar treibt es miteinander, aber nichts wird mehr so sein wie vorher. Gerade hat Jay in der ergreifendsten und stärksten Szene des Films Claire gebeten, bei ihm zu bleiben. Zum ersten Mal sehen sie sich in die Augen. Erst war da nur Sex. Als sie anfingen zu reden, vermieden sie die Blicke. Als das ewige Phantom, der Hauch von Liebe, oder etwas ähnliches, ausgesprochen ist, zwischen ihnen steht ohne die Möglichkeit des Zurücknehmens, reißen sie sich zum letzten Mal die Klamotten vom Leib. Es ist der Abschiedsfick, mit Tränen in den Augen. Danach scheint im verregneten London zum ersten Mal die Sonne. Aufgang und Eklipse zum selben Moment.

Ein klassisches Sehvergnügen ist "Intimacy" nicht. Aber andererseits sind das die Perlen jenseits des Mainstreamkinos eher selten. Die schiere Intensität des Werkes, der Schmerz, der aus dem Realismus des Films spricht, ist nicht einfach zu konsumieren. "Du weißt nicht einmal, wie Du mich richtig verletzen kannst" schreit Claire ihrem Ehemann zu. Aber wir wissen es. Die schleichend aufgebaute Nähe - Intimität eben - zu den Figuren lässt uns daran teilhaben. Und wir kommen nicht umhin, den Menschen als zerdrückte Blume zu bewundern. Nicht hundertprozentig schön, aber kostbar in jeder Blüte. "Intimacy" ist ähnlich: Brillant, aber auf irgendwie kaputte, abgefuckte Weise. Vielleicht ist die Quersumme aus beidem so etwas wie fuckin' brilliant?


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