Wir sind jung. Wir sind stark.

Jahr
2014
Laufzeit
128 min
Genre
Release Date
Bewertung
8
8/10
von René Loch / 7. Dezember 2014

Nahezu täglich wird im Deutschland des Jahres 2014 eine Flüchtlingsunterkunft mit Nazisymbolen beschmiert, durch Brandsätze beschädigt oder von einer fremdenfeindlichen Demonstration heimgesucht. Genau wie die Zahl der Asylanträge im Moment so hoch ist wie seit 20 Jahren nicht mehr – bedingt durch die Kriege und Krisen im Nahen Osten und in Nordafrika; nach Deutschland kommen vor allem syrische Flüchtlinge –, nimmt auch das rechtsextreme Aggressionspotential lange nicht mehr gekannte Ausmaße an. Man muss schon zurückdenken an das Jahr 1992, als laut Statistik fast eine halbe Million Menschen Asyl in Deutschland suchten und in einem Stadtteil der Hansestadt Rostock ein wütender Mob tagelang tobte. Auf wundersame Weise kam damals niemand ums Leben. Einen tiefen Einschnitt in die deutsche Nachkriegsgeschichte markierten diese fünf Tage im August dennoch.

Burhan Qurbanis Film „Wir sind jung. Wir sind stark.“ erzählt von dieser Zeit, indem er ganz verschiedene Menschen porträtiert. Da sind beispielsweise Stefan (Jonas Nay) und seine „Freunde“, junge Leute, die nach der Wende ihre Arbeit verloren haben oder keine finden und nun ziellos durch den Tag streifen. Stefans Vater Martin (Devid Striesow) ist Lokalpolitiker. Ihm wird ein hohes Amt in Aussicht gestellt, wenn er sich angemessen verhält. Und schließlich die ehemalige DDR-Vertragsarbeiterin Lien (Trang Le Hong) aus Vietnam, die gemeinsam mit ihrer Familie im „Sonnenblumenhaus“ in Rostock-Lichtenhagen wohnt und – im Gegensatz zu einigen anderen – in Deutschland bleiben möchte. Als es zu ersten gewalttätigen Protesten kommt, gehört sie selbst zu denjenigen, die auf die „Zigeuner“ schimpfen, weil diese – nachdem sie von der zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber abgewiesen wurden – ohne staatliche Hilfe vor dem Haus campieren müssen und im Supermarkt Lebensmittel klauen, um überleben zu können. Dass sich die Wut auch auf die Vietnamesen richten könnte, glaubt sie ebenso wenig wie Politik und Polizei.

Erst am Abend des 24. August realisieren viele, dass der Mob zwischen „guten“ und „bösen“ Ausländern keinen Unterschied macht. Nachdem der erste Molotowcocktail fliegt, kennt der Hass keine Grenzen mehr: Zahlreiche Menschen, vor allem Jugendliche wie Stefan, stürmen das Sonnenblumenhaus, randalieren in den Wohnungen und setzen die Zimmer in Brand. Tausende Schaulustige klatschen Beifall oder beobachten das Geschehen fassungslos.

Qurbani hätte in seinem Film auf viele Dinge den Fokus richten können. Etwa auf das jämmerliche Versagen der Polizei, die das Haus in der entscheidenden Nacht fast eine Stunde lang unbewacht ließ, generell in Sachen Ausrüstung, Ausstattung und Personal vollkommen unkoordiniert und planlos agierte sowie lieber Gegendemonstranten verhaftete als die angegriffenen Bewohner zu beschützen. Oder auf Politiker wie Helmut Kohl und den damaligen CDU-Generalsekretär Peter Hintze, die allen Ernstes behaupteten, die Ausschreitungen seien von der Stasi angezettelt und unter maßgeblicher Mitwirkung von Linksradikalen durchgeführt worden. Oder auch darauf, welche Rolle Neonazis in diesen Tagen spielten und ob sie die treibenden Kräfte waren oder doch nicht einfach nur „ganz normale Bürger“.

Doch um all das geht es Qurbani nicht, zumindest nicht vordergründig. Vielmehr interessieren ihn die psychologischen Feinheiten der unmittelbar Agierenden und Betroffenen. Qurbani will nicht verurteilen oder moralisieren, er will erklären und verstehen, ohne dabei zu verharmlosen oder zu entschuldigen. Dabei soll deutlich werden, dass die Gründe für das Geschehen vielfältig sind. Persönliche Schicksale, Unzufriedenheit und Wut treffen auf gesellschaftliche Umwälzungen und Missstände sowie eine Politik, die Deutsche wie Ausländer im Stich gelassen hat. Manche, wie der Autor Jochen Schmidt, gehen sogar so weit, zu sagen, dass manche Politiker die Krawalle bewusst in Kauf genommen haben, um damit besser für ihre Anliegen – eine Verschärfung des Asylrechts – argumentieren zu können.

Aber Politik ist Personen wie Stefan eigentlich fremd. Er ist fernab jeglicher NS-Ideologie, singt Nazilieder genauso wie die „Internationale“. Er wächst heran, ist orientierungslos, ohne Perspektive, verkehrt mit den falschen Leuten, ist hin und her gerissen in Sachen fragiler Freundschaft und Liebe. So wie er sind auch viele andere in diesem Film angetrieben von den falschen Vorbildern (was im Übrigen auch das sehr schöne Schlussbild zeigt).

Das ist über weite Strecken kraftvolles, hochkonzentriertes, sehr präzises deutsches Kino, wie man es in dieser Kombination selten zu sehen bekommt, und das dank einer ständig unruhig um die Protagonisten herumschwirrenden Kamera und eines pulsierendes Soundtracks auch unglaublich dynamisch daherkommt. Die aufs Gemüt drückenden Schwarz-Weiß-Bilder erhalten erst in der Schlussphase Farbe – eine Entscheidung, die zwiespältige Gefühle hervorruft. Einerseits mag es eine inhaltlich und künstlerisch sinnvolle Maßnahme sein, andererseits entsteht der Eindruck, dass es auch um das Event geht. Gerade dass Qurbani diesen Eindruck mit seiner zurückhaltenden, beobachtenden und distanzierten Erzählweise eben lange Zeit nicht erweckt, zählt zu den großen Stärken von „Wir sind jung. Wir sind stark.“. Aber wenn am Ende die Molotowcocktails fliegen und die eine oder andere etwas konstruiert wirkende Plotentwicklung zu Tage tritt, erhält es leider doch noch den Geschmack des Spektakels. Erfreulicherweise ist das allerdings tatsächlich der einzige nennenswerte Kritikpunkt, der sich finden lässt.

Als Reaktion auf die Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen, die ja kein Einzelfall, sondern lediglich Höhepunkt der damaligen fremdenfeindlichen Übergriffe und Vorbild für weitere Taten waren, beschloss der Bundestag mit den Stimmen von CDU, CSU, FDP und SPD den „Asylkompromiss“, der das Prinzip der (angeblich) sicheren Herkunftsländer einführte und die Bedingungen, unter denen Flüchtlinge in Deutschland leben, deutlich verschlechterte. Auch 22 Jahre danach neigt die Politik noch zu ähnlichen Reaktionen, wenn etwa in Sachsen die Antwort des Innenministers auf Antiasylproteste darin besteht, eine Sondereinheit für straffällige Flüchtlinge einzurichten.

In den Großstädten demonstrierten damals mehrere hunderttausend Menschen gegen Fremdenfeindlichkeit. Das zivilgesellschaftliche, ehrenamtliche Engagement für Asylsuchende ist seitdem gewachsen und drückt sich in zahlreichen Vereinen sowie Initiativen von Gruppen und Einzelpersonen aus. Auch die Art und Weise, wie über die Themen Asyl und Flüchtlinge gesprochen wird, hat sich generell gewandelt, auch wenn es die rechtsradikalen Rattenfänger noch immer gibt. Und sie werden in jüngster Zeit wieder lauter und selbstbewusster. Deshalb ist „Wir sind jung. Wir sind stark.“ nicht nur ein künstlerisch wertvoller Film, sondern vor allem einer, der genau zur richtigen Zeit kommt und als Anschauungsmaterial für zahlreiche Bildungseinrichtungen und Bürger dienen kann. Er kommt ohne den erhobenen Zeigefinger aus und trifft damit – hoffentlich – genau den richtigen Ton.

Bilder: Copyright

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