Psycho

Originaltitel
Psycho
Land
Jahr
1960
Laufzeit
104 min
Bewertung
von Simon Staake / 20. Juni 2010

 

Anmerkung: Dieser Text enthält Spoiler, ohne die eine adäquate Analyse des Films nicht möglich wäre. Der Autor des Textes geht davon aus, dass die entsprechenden Einzelheiten dem Leser bekannt sind.

Wo fängt man bei Lob für Alfred Hitchcock an? Das Gesamtwerk des britischen Meisters des Spannungsaufbaus ist qualitativ so beeindruckend, dass man schon in Schwierigkeiten kommt, vorerst nur einen Klassiker aus seiner an Klassikern reichen Filmographie herauszusuchen. Zumindest kann man hierbei sein doch recht statisches britisches Frühwerk ebenso vernachlässigen wie sein variierendes Spätwerk, und landet irgendwann zwangsläufig bei der Dekade zwischen 1955 und 1965, Hitchcocks kreativer Hochzeit, in der er die Klassiker nur so aus dem Ärmel schüttelte: "Das Fenster zum Hof", "Der Mann, der zuviel wusste" (sein eigenes Remake), "Vertigo", "Der unsichtbare Dritte", "Die Vögel", "Über den Dächern von Nizza" und "Marnie" fallen ebenso in diese Zeitspanne wie "Psycho". Also zurück zur Ausgangsfrage: Wie also nun einen Film aus diesem Gesamtopus auswählen? Die Antwort: Filmhistorischer Einfluss. Denn von allen Filmen Hitchcocks hat kein Film einen dermaßen dramatischen Einfluss auf die Entwicklung eines ganzen Genres und die allgemeinen Erwartungshaltungen der Filmzuschauer genommen wie eben "Psycho".

Machen wir es kurz: "Psycho" ist der Ursprung des modernen Horrorfilms und dessen erstes Meisterwerk. Ohne die Pionierarbeit dieses Films gäbe es weder ein "Texas Chainsaw Massacre" noch ein "Das Schweigen der Lämmer". Und das sind nur die beiden Filme, die wie "Psycho" die Geschichte vom echten Serienkiller Ed Gein in Motiven verwendeten. Es gäbe wohl auch kein "Rosemary's Baby" oder überhaupt das Subgenre des psychologischen Horrors, und stattdessen würden immer noch Monster oder Vampire durch Spukschlösser schleichen. Schließlich war der gothic horror nach dem Vorbild der 1930er Jahre-Horrorfilme aus dem Hause Universal tatsächlich bis Ende der 1950er Jahre die dominante Form der Gattung.
Bis ein exzentrischer Engländer daherkam und das Genre im Vorbeigehen umkrempelte. Zuerst einmal brachte er den Horror in die wirkliche Welt zurück und damit auch unangenehm näher an den Zuschauer heran. Waren vorher die Orte schon eindeutig als Ort des Horrors zu erkennen (Schlösser, Moore etc.; ständig nebelumwittert), so schlug in "Psycho" der Horror an einem ganz normalen Ort zu. Natürlich war das abseits liegende Motel schon ein wenig unheimlich, aber bis zu jener legendären Szene, in der Janet Leigh alias Marion im Bad ihres Hotelzimmers die letzte Dusche ihres Lebens nimmt, wirkte der Ort fast friedlich.
Damit war bereits die Vorlage für den modernen Horror geschaffen, in dem das Böse zumeist in eine idyllische oder friedliche Atmosphäre einbricht. Das verlassene Bates-Motel irgendwo im Nirgendwo begründete nicht nur die Tradition des Hinterwaldhorrors, seither werden gerade abgelegene Landgemeinden (natürlich aus Budget-Gründen) von Meuchlern, Monstern etc. heimgesucht. Gleichzeitig kann man in der messerschwingenden "Mutter Bates" auch die Anfänge des Slasher-Films entdecken, der nach stilistischer Verfeinerung im italienischen giallo-Format Ende der 1970er Jahre nach dem Sensationserfolg von "Halloween" zur vorherrschenden Form des modernen Horrorfilms wurde.
Der Mord als Ventil eines psychischen Traumas war zwar an sich nichts Neues, wurde hier aber so gut umgesetzt, dass man auch das Subgenre des psychologischen Horrorfilms (Titel!) hier begründet sehen kann. Kurz und gut: Ohne "Psycho" hätte das Horrorgenre nicht im Entferntesten dieselben Richtungen eingeschlagen.

Nicht mal die Zu-Tode-Persiflierung der Duschszene mitsamt den ebenso legendären kakophonischen Streichern unter Leitung von Hitchcocks Stammkomponisten Bernard Herrmann können der Majestät von Hitchcocks Werk etwas anhaben. Gerade jene Duschszene ist dank ihrer fantastischen Montage nicht umsonst eine der meistbewunderten Filmsequenzen der Hollywood-Geschichte, sondern auch ein schockierender Verstoß gegen Zuschauererwartungen, der im besonderen Maß für die Effektivität der Szene verantwortlich ist. Denn zuvor hatte Hitchcock geschickt das Abenteuer seiner vermeintlichen Protagonistin abgeschlossen und für eine trügerische Sicherheit gesorgt: Die betrügerische Marion will nach einem Gespräch mit dem einfühlsamen Betreiber des Bates-Motels, Norman Bates, das von ihr gestohlene Geld zurückbringen und alles wird gut. Nur noch eine erfrischende Dusche und dann geht es Richtung glücklicher Ausgang einer Dummheit.
Nicht. 45 Minuten war der Zuschauer sicher, verfolgte die Flucht Marions und ihre Läuterung - und muss dann völlig unvermutet mit ansehen, wie die Protagonistin des Films abgeschlachtet wird. So wurde der bis dahin laufende Kriminalfilm innerhalb von einer furios geschnittenen Dreiviertel-Minute zum Horrorfilm, in dem nichts und niemand sicher zu sein scheint. Plötzlich ist der Film ohne Held(in), und Hitchcock vollführt denselben Trick nochmals: Auf Betreiben von Marions Geliebtem und ihrer Schwester untersucht ein Privatdetektiv (Martin Balsam) das Verschwinden der jungen Frau und wirkt mit seiner selbstsicheren Art wie der neue Protagonist des Films, der den Fall löst - nur um nach 20 Minuten sein ebenso überraschendes Ende zu finden. Ergebnis ist eine Unvorhersehbarkeit, die das amerikanische Kino seinerzeit in seinen recht gut abgehangenen Sehstrukturen erschütterte. Etwas überspitzt gesagt: Nach "Psycho" war man im Kino nicht mehr sicher, alles konnte passieren.

Apropos Sicherheit: Etwas antiquiert oder merkwürdig mag manch einer das Ende des Films finden, in dem ein Psychologe noch mal haarklein erklärt, was sich mit Norman Bates zugetragen hat. Aber dazu muss man sich nur mal überlegen, wie verstörend der Film wäre, wenn man für das Gesehene gar keine Erklärung bekommen würde. Besonders das ohnehin schon geschockte Publikum des Jahres 1960 war für diesen kleinen Sicherheitsanker sicher sehr dankbar.

Apropos Anker: Wie ein Stück schweres Metall hing Anthony Perkins nach diesem Film seine Rolle des mörderischen Norman Bates am Fuß, die ihn quasi für den Rest seiner Karriere auf die Rolle des Psychopathen festlegte. Dies natürlich, weil seine Darstellung des schüchtern-freundlichen Mannes von Nebenan mit dunklem, mörderischem Geheimnis so hervorragend gelungen war. Glücklich wurde Perkins als ‚Verrückter vom Dienst' trotzdem nicht. Eine zweite Chance erhielt immerhin Vera Miles, die ursprünglich die Hauptrolle im kurz zuvor gedrehten "Vertigo" innehatte, diese aber wegen ihrer Schwangerschaft nicht antreten konnte. Obwohl der unerbittliche Hitchcock ihr diesen ‚Verrat' nie ganz vergab, durfte sie immerhin - wenn auch in einer Nebenrolle - in diesem Klassiker mit dabei sein. Hauptdarstellerin Janet Leigh wurde nicht zuletzt durch die Duschszene zur Ikone. Und Hitchcock selbst hatte mal wieder sein gutes Näschen bewiesen: Ausgerechnet der billig und in Schwarzweiß gedrehte "Psycho" wurde sein größter Hit (und einer der ersten Filme, deren lange Warteschlangen vor der Kinokasse das Wort Blockbuster erschaffen ließen), zudem einer der bedeutendsten Filme der Dekade. Und spannend anzusehen ist dieser exzellent abgefilmte, ländliche Alptraum auch heute noch.

Als kleines P.S. sei erwähnt, dass "Psycho" ähnlich wie Mutter Bates keine friedliche Totenruhe gegönnt wurde, sondern neben Hunderten von ihm inspirierten Filmen auch noch für drei Fortsetzungen und ein Remake herhalten musste. Der beste dieser Filme ist erstaunlicherweise nicht Gus Van Sants sinnlose, das Original (fast) Einstellung für Einstellung abfilmende Neufassung, sondern der von Richard Franklin gedrehte "Psycho 2" (1982). Abseits der Unnötigkeit einer Fortsetzung gelingt Franklin nämlich ein für sich genommen sehr gelungener Film, bevor die Serie dann in Teil Drei und Vier zur Selbstparodie wurde.

 

 

 


10
10/10

Glücklich sollten sich diejenigen schätzen, die diesen Film ohne jegliches Backroundwissen ansehen konnten (so wie ich vor ca 18 Jahren). Den nur dann entfaltet er erst seine volle Wucht! (Was übrgens auch für Alien 1 gilt)

Permalink

10
10/10

Wer glaubt, der Film hätte nach der Duschzene nichts mehr zu bieten, den wird der Film noch nächtelang verfolgen, denn damit fängt die bis zum in den Wahnsinn getriebene Spannung erst an. Psycho ist DER Gruselschocker des vergangenen Jahrhunderts und kann in puncto Spannung, Schockelementen und flauer Magengrube noch locker mit den aktuellen Horror-Filmchen mithalten. Die klaustrophobische Streichermusik untermauert den Film, der in schwarz-weiß weit beklemmender wirkt, als in Farbe.
Und darüber hinaus schafft er es, dass der Zuschauer mit den Charakteren mitfiebert (Ob mit Norman oder seinen Ofpern), denn dieser Film erzeugt Figuren und nicht bloß Stereotypen, die nach zwei Minuten bereits verbraten werden, wie es bei vielen heutigen Horror-Filmen leider der Fall ist. Sie sind weit gewattätiger und blutiger, aber das macht es auch nicht besser, wenn es den Zuschauer gar nicht interssiert, wer da gerade zersägt, gefressen oder dahingemeuchelt wird.
Hitchcock gelang nicht nur ein Meisterwerk, ihm gelang eigentlich der Horror, der wegweisend war, für all das, was man seit jeher mit dem Genre verbindet.

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