Filmszene-Festival Tagebuch: Cannes 2012

von Margarete Prowe / 16. Mai 2012

Vom 16. bis zum 27. Mai findet in Cannes an der Cote d'Azur zum 65. Mal das bedeutendste Filmfestival der Welt statt. Zum ersten Mal ist dieses Jahr auch Filmszene.de live vor Ort dabei. Unsere Redakteurin Margarete Semenowicz berichtet täglich von den interessantesten Filmen im Programm und den Impressionen rund um den roten Teppich.

Cannes 2012

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Montag, 28. Mai: Der Tag danach – und die Goldene Palme geht an…

Mit einem langen Applaus wurde gestern die von allen erwartete Vergabe des Hauptpreises des Filmfestivals an Michael Hanekes „Amour“ (siehe Sonntag, 20. Mai, weiter unten im Text) von Gästen und Presse gewürdigt. Schon vor drei Jahren fuhr der österreichische Regisseur mit einer Goldenen Palme für das düstere, preußisch-protestantische Drama „Das weiße Band“ heim und so ist Haneke 2012 der Regisseur mit dem geringsten zeitlichen Abstand zwischen zwei Goldenen Palmen. „Das weiße Band“ wurde nach seiner Auszeichnung in Cannes im Vorjahr 2010 als deutscher Beitrag für den fremdsprachigen Oscar nominiert, verlor aber das Rennen gegen den argentinischen Film „In ihren Augen“. 2012 war Hanekes leiser Film über das Sterben, „Amour“, im Wettbewerb des Filmfestivals von Cannes auch tatsächlich der einzige, bei dem sich die internationale Presse vor Ort einig war, dass er den Hauptpreis verdiente. Es darf somit (erneut) vermutet werden, dass Haneke mit diesem Kritikerliebling tatsächlich nächstes Jahr verdient auch seinen ersten Oscar bekommen könnte.

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Doch die Vergabe der Palme an Hanekes „Amour“ bedeutete in der komplexen Vergaberegelung der Preise leider, dass die französischen Schauspielerlegenden, die darin mitspielen, Jean-Louis Trintignant und Emmanuelle Riva (die das letzte Mal 1959 (!) in einem Wettbewerbsfilm, „Hiroshima Mon Amour“ von Alain Resnais in  Cannes mitgespielt hatte) den Schauspielpreis nicht mehr gewinnen konnten. Die Regeln besagen, dass wenn ein Film einen der großen Preise, also die Goldene Palme, den Grand Prix oder den Jurypreis bekommt, dieser Film keinen weiteren Preis mehr bekommen kann. Somit ging der Preis für den besten Schauspieler statt an Trintignant an den Dänen Mads Mikkelsen, dessen Darstellung eines Mannes, dessen Leben von einem Gerücht zerstört wird, in Vinterbergs „Jagten“ diese Auszeichnung jedoch ebenfalls verdient hatte (siehe Dienstag, 22. Mai).

Da die Ein-Preis-Regelung nur die Hauptpreise betrifft, konnte Mungius rumänisches Werk “Dupa Dealuri/Beyond the Hills” (siehe Samstag, 19. Mai) sogar zwei Preise einheimsen, den Preis für das beste Drehbuch und Preise für die beiden Hauptdarstellerinnen. Besonders Letzteres sorgte unter den Kritikern für Erstaunen, da in der Kategorie der besten Schauspielerin Riva, Kidman oder Cotillard als Favoriten gesehen worden waren, aber überhaupt nicht die Gewinnerinnen Cosmina Stratan und Cristina Flutur. So stellt die Vergabe von gleich zwei Preisen an „Dupa Dealuri“ eher eine deutlichere Herausstellung von Mungiu dar, denn schauspielerisch waren beide Mädchen hier nicht besonders bemerkenswert.

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Wie sich auch die Kritiker vor Ort über fast jeden Film stritten, da viele der Werke polarisierten oder in ihrem künstlerischen Ausdruck wirklich reine Geschmackssache waren, so stritt auch die Jury lange über mehrere der Filme wie zum Beispiel über den Sugar-Mama-Film von Ulrich Seidl, „Paradies: Liebe“ und den futuristischen Kritikerliebling „Holy Motors“ von Leos Carax, dem wohl enttäuschtesten Regisseur des Abends, da er aufgrund des Medienechos sehr auf einen Preis gehofft hatte. Beide Werke gingen schließlich leer aus.
Unter dem italienischen Jurypräsidenten Nanni Moretti schaffte es auch der von den Kritikern eher belächelte „Reality“ von Matteo Garrone in die Reihe der Preisträger und wurde unerwartet mit dem Grand Prix (dem Großen Preis der Jury) ausgezeichnet, was einer Silbermedaille entspricht. Ebenso unverständlich war  die Vergabe des Preises für die beste Regie an den Mexikaner Carlos Reygadas, dessen Film “Post Tenebras Lux” die meisten Buhruhe einer Pressevorführung erhalten hatte. Auch überraschend kam die Vergabe des Jurypreises an Ken Loachs „The Angel’s Share“ (siehe Mittwoch, 23. Mai), der zwar ansprechend war, aber wahrlich nicht unter den Favoriten.

Der einzige amerikanische Film hingegen, der es überhaupt schaffte, dieses Jahr in Cannes etwas zu gewinnen, war Benh Zeitlins in der Reihe „Un Certain Regard“ gezeigter „Beasts of the Southern Wild“, der beim Sundance Filmfestival schon den Hauptpreis gewonnen hatte. „Beasts“ wurde mit der „Caméra d’Or ausgezeichnet als bester Debütlangfilm aus irgendeiner Reihe in Cannes, nachdem er zuvor schon von der Internationalen Journalistenvereinigung FIPRESCI als bester Film der Nebenreihe ausgezeichnet worden war (den Preis für den besten Film des Wettbewerbs hatte FIPRESCI an Loznitsas „V Tumane“ vergeben). Der surreal angehauchte „Beasts of the Southern Wild“ handelt vom Mädchen Hushpuppy, das mit ihrem Vater Wink im Delta des Mississippis aufwächst. Als Wink krank wird, beginnt die Temperatur um sie herum zu steigen, die Pole schmelzen und prähistorische Kreaturen tauchen auf.
Die Vereinigung der Regisseure vergab den Hauptpreis der „Quinzaine de Réalisateurs“ an den Film „No“ des chilenischen Regisseurs Pablo Larraín über einen Werber (Gael García Bernal), der mit einer Werbekampagne den Diktator Pinochet absetzen will.

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Die Goldene Palme für den besten Kurzfilm ging an den türkischen Beitrag „Sessiz/Be Deng“ (Silent) von L. Rezan Yesilbas, den zweiten Kurzfilm aus einer Trilogie über Frauen. Im Jahr 1984 möchte Zeyneb ihren Ehemann im Gefängnis besuchen. Sie spricht nur Kurdisch, doch diese Sprache ist im Gefängnis verboten. Sie möchte ihrem Ehemann ein neues Paar Schuhe bringen, doch dürfen Gäste den Gefangenen nichts mitbringen und so sitzt sich das Pärchen schweigend gegenüber. Das Gefängnis von Diyarbakir, in dem die Geschichte stattfindet, ist bekannt als Symbol der Folter nach dem Staatsstreich von 1980. Doch der Film zeigt nicht die Folter, sondern die Geschichte der Frauen dahinter und hüllt diese in beeindruckende Bilder privaten Lebens. Die Kurzfilmauswahl im Wettbewerb bot einige hervorragende Werke wie den neuseeländischen Beitrag "Night Shift" von Zia Mandviwalla über eine Aborigine, die als Reinigungskraft am Flughafen arbeitet, sowie das visuell beeindruckende amerikanische Werk "The Chair" von Grainger David, das von einem geheimnisvollen, tödlichen Schimmelpilzbefall in einer Kleinstadt erzählt, und die wunderliche Geschichte eines einsamen Mädchen mit telekinetischen Fähigkeiten aus Australien, "Yardbird", von Michael Spiccia.

Der Große Preis der Kritikerwoche in Cannes (51. Semaine de la Critique) ging an den mexikanisch-amerikanischen “Aquí y Allá/Here and There” des in Spanien geborenen Regisseurs Antonio Méndez Esparza. “Aquí y Allá” handelt von einem Mexikaner, der aus den USA nach Mexiko zurückkehrt.

Am Ende lässt sich resümieren, dass Cannes auch 2012 ein Club ist, in den man lebenslang aufgenommen wird: Sowohl Haneke als auch Garrone, Loach (bislang elfmal im Wettbewerb vertreten) und Mungiu wurden beim Filmfestival von Cannes schon zum zweiten Mal ausgezeichnet. Fürs nächste Jahr erhoffen wir uns daher Filme auch von Regisseurinnen und mehr Mut in der Preisvergabe auch an untypischere Werke. Dieses Jahr waren stilistische Experimente schlecht angekommen. Der Jurypräsident Moretti äußerte dazu gestern: „Ich bemerkte bei vielen Regisseuren, dass sie mehr in ihren Stil als in ihre Charakter verliebt sind.“ Das muss vielen wehgetan haben und so wünschen wir uns an dieser Stelle, dass im nächsten Jahr auch stilistisch unkonventioneller arbeitende Regisseure einen Preis heimtragen dürfen – oder die Goldene Palme nach der einzigen Vergabe an Jane Campion 1993 vielleicht sogar eine Frau gewinnen kann. 

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Sonntag, 27. Mai: Schweiß in Havanna und Frost in Serbien

In Cannes wird es langsam ruhiger, doch die Koffermenge der vor der Heimreise stehenden Akkreditierten steigt rund um den Festivalpalast stetig an. Vor der Preisvergabe am Abend werden alle Wettbewerbsbeiträge noch einmal wiederholt für all diejenigen, die entweder in die regulären Screenings nicht hineingekommen waren, gleichzeitig Interviews geführt hatten oder Filme einfach nach all dem Schlafmangel verschlafen hatten. Unter den durchträumten Filmen von Cannes befand sich auch der folgende, bei dem die Müdigkeit trotz der Güte des Films im Saal viele Opfer forderte: Das in der Reihe „Un Certain Regard“ gezeigte Gemeinschaftsprojekt „7 Días en la Habana“ von Benicio del Toro (zweite Kurzfilmregie des bekannten Schauspielers), Pablo Trapero, Julio Medem, Elia Suleiman, Gaspar Noé, Juan Carlos Tabio und Laurent Cantet ist eine der kleinen Perlen von Cannes. Raffiniert werden hier die gleichen Figuren und Motive in unterschiedlichen Geschichten verwebt. Jede Episode ist stilistisch, musikalisch und atmosphärisch vom jeweiligen Regisseur unterschiedlich angelegt und so werden verschiedene Facetten des Lebens in Havanna gezeigt, die von amüsant bis traurig reichen.

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„7 Días en la Habana“ wird in Cannes auch deswegen sehr positiv aufgenommen, da das Werk die sieben Tage des Internationalen Filmfestivals von Havanna zeigt und Einblicke hinter die Kulissen eines solchen Festivals gibt. In der besonders für ihre hervorragend montierten Club-Szenen zu lobenden Geschichte „El Yuma“ (Yuma ist der Ausdruck für Amerikaner) von Benicio del Toro will ein amerikanischer Filmstudent in seiner ersten Nacht in Havanna unbedingt ein Mädchen finden und scheitert dabei ganz köstlich.
Am witzigsten ist jedoch die Episode „Jam Session“ von Pablo Trapero (der in „Un Certain Regard“ zusätzlich mit dem leider nicht überzeugenden „Elefante Blanco“ vertreten war), in der der sturzbetrunkene serbische Regisseur Emir Kusturica, der sich selbst spielt, auf dem Filmfestival in Havanna als Ehrengast mit einem Filmpreis ausgezeichnet werden soll. In Julio Medems „Cecilia’s Temptation“ spielt Daniel Brühl einen Musikproduzenten aus Madrid, der eine junge Sängerin mit nach Spanien nehmen und vorher noch schnell ins Bett bekommen will. Herrlich gefilmt sind die Landschaften mit statisch herumstehenden leicht schrägen Figuren in Elia Suleimans „Diary of a Beginner“, in dem der Regisseur selbst seine absurdeste Figur darstellt.

Ebenso lichtdurchflutet und in warmen Farbtönen leuchtend wie „7 Días en la Habana“ ist Jeff Nichols Wettbewerbsbeitrag „Mud“. Nichols wurde im letzten Jahr in Cannes gefeiert für sein Apocalypse-Drama „Take Shelter“, mit dem er den Großen Kritikerpreis und den FIPRESCI-Preis gewann, so dass 2012 Größeres von ihm erwartet wurde. Doch „Mud“ ist zwar ein hübsch anzuschauender und liebevoll gefilmter Coming-of-Age-Film im Stile der Huck-Finn-Geschichten von Mark Twain, kann sich aber durch konventionelle Erzählung und seine Formelhaftigkeit nicht zu einem großen Werk entwickeln. So ist „Mud“ am Ende kein Film für die Kritiker, aber immerhin ein Film für das Publikum, welches sich auf eine kleine Geschichte am Fluss Mississippi mit Matthew McConaughey und zwei zauberhaften Jungs freuen kann.

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Das im Wettbewerb laufende russischsprachige, düstere Zweiter-Weltkriegs-Drama „V Tumane“ (Im Nebel) von Sergei Loznitsa zeigt an Hand weniger Figuren die Folgen einer vermeintlichen Kollaboration eines Dorfbewohners für ihn und seine Familie. Das Buch basiert auf dem Buch des Weißrussen Vassily Bykov, in dem der Hauptdarsteller Sushenya mit anderen verhaftet, doch im Gegensatz zu ihnen nicht von den Deutschen hingerichtet, sondern wieder freigelassen wird. Von nun an traut ihm keiner mehr. Nach einer Weile kommt sein ehemaliger Jugendfreund, ein Partisane, in sein Haus, um Sushenya in den Wald mitzunehmen und dort als Kollaborateur zu erschießen. Doch als das Gewehr schon auf ihn gerichtet ist, schießt die Polizei auf seinen Freund und verletzt diesen schwer.


„V Tumane“ ist ein Film, der sich so entwickelt, wie man es annimmt und dabei wie ein Verwandter von „Warten auf Godot“ wirkt. In Schnee und Frost wird gefroren und gestorben, der Feind lauert überall in Form entweder der deutschen Besetzer oder der eigenen Partisanen, die überall Kollaborateure vermuten. Die Kameraarbeit ist jedoch herausragend und die eisige Ausweglosigkeit der Situation atmosphärisch dicht umgesetzt, so dass „V Tumane“ eine Welt zeigt, die so düster ist, dass sie in der Finsternis hinter Loznitsas Nebel fast versinkt.

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Solcher Nebel herrscht in Cannes zwar nicht, doch findet die Vergabe der Goldenen Palme im Unwetter, das so viel des Festivals begleitet, statt. Die Spannung steigt im Saal langsam an, während es draußen stürmt.

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Samstag, 26. Mai: Pattinson in der Stretchlimousine und Preisvergabe in der Reihe „Un Certain Regard“

„Cosmopolis“ ist ein Monster. Bei David Cronenbergs neuem Film im Wettbewerb von Cannes über den Multi-Milliardär Packer auf der Fahrt in einer Stretchlimousine durch ein langsam im Chaos versinkendes Manhattan, nur um auf der anderen Seite der Insel einen Haarschnitt zu bekommen, handelt es sich um die Reinform ästhetischen Ausdrucks ohne Rücksicht auf Zuschauer oder Kritiker. Das Werk wurde in Cannes von den Kritikern gelobt oder verdammt und somit entweder als eiskalter Kristall der Kapitalismuskritik oder als sinnfreies Monologisieren ohne Sinn und Verstand beschrieben. Sogar der Hauptdarsteller Robert Pattinson (aus den „Twilight“-Filmen) gab zu, dass er auch nach dem Dreh immer noch keine Ahnung hatte, wovon der Film handelt oder was seine Figur eigentlich darstellen soll.

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Für Pattinsons Rolle in „Cosmopolis“ war eigentlich Colin Farrell vorgesehen, der die Rolle sicher mit mehr als schmollenden Lippen und unterkühltem Schlafzimmerblick hätte füllen können als der derzeitig berühmteste Kieferknochen der Welt, doch war Farrell nicht verfügbar, weil er gleichzeitig die ehemalige Schwarzenegger-Rolle in der Neuverfilmung von „Total Recall“ spielte. Doch die Kälte der Hauptfigur kann auch Pattinson in Blässe und Ausdruck sinnlich verkörpern. Emotional ist seine Figur zum Glück so weit von komplexen Gefühlen entfernt, dass er den Großteil des Films in seiner Rolle gut aussieht, bis er schließlich in einer Szene auf Paul Giamatti („Sideways“) trifft, der ihn hier mit Wucht an die Wand spielt – Pattinson ist zwar schön anzusehen, doch ein überaus talentierter Schauspieler wie Giamatti ist er zum jetzigen Zeitpunkt nicht.
Die Vater-Sohn-Kombination aus David und Brandon Cronenberg (der hier mit seinem Debüt „Antiviral“ reüssierte, siehe unten) geht dieses Jahr in Cannes übrigens so weit, dass beide nicht nur stilisierte und in ähnlichen Farbspektren gehaltene Filme einreichten, sondern sich auch noch die gleiche Darstellerin, Sarah Gadon (hier als Ehefrau von Packer) teilten.


Ein wenig biblisch (Gott schuf die Welt in sechs Tagen) anmutend schrieb Cronenberg zudem das Drehbuch zu „Cosmopolis“ in sechs Tagen und übernahm Dialogzeilen direkt aus der gleichnamigen Buchvorlage von Don DeLillo. Heraus kam ein Text, der wie eine Mischung aus einem Eintages-Streifzug durch eine Stadt wie in James Joyces „Ulysses“ und aus den schwer durchschaubaren Werken von Thomas Pynchon wirkt: Der 28-jährige Multi-Milliardär Packer (Pattinson) will einen Haarschnitt bei seinem Friseur. Trotz der Warnung seines Sicherheitschefs will er dafür mit der Limousine quer durch Manhattan fahren. Während dieser Fahrt drohen ihm bald der absolute finanzielle Crash, ein Attentat auf den Präsidenten der USA, aber vielleicht auch auf ihn selbst, es begegnen ihm Experten und sexuelle Abenteuer (zum Beispiel mit Juliette Binoche) und zu allem Überfluss wird Pattinsons Figur auch noch die Prostata abgetastet, was mit Kidmans Urinierszene in „The Paperboy“ eindeutig zu den schrägsten Szenen aus Cannes-Filmen im Jahr 2012 gehört.

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Don DeLillo schrieb „Cosmopolis“ 2003 und somit lange vor der Finanzkrise. Die dystopische Welt, in der die Bewegung von Geldströmen für den Verstand nicht mehr nachvollziehbar ist und die Superreichen sich nur noch in Limousinen bewegen, während draußen eine von DeLillo ausgedachte, Quasi-Occupy-Bewegung auf den Straßen protestiert, ist von Cronenberg in gestelzte Dialoge und Monologe, stilisierte Bilder mit extremen Kameraeinstellungen und bedrohliche Klänge gehüllt worden, so dass das Werk eher an Cronenbergs „eXistenZ“ von 1999 erinnert als an jüngere Werke wie „Eine dunkle Begierde“ oder „The History of Violence“. In seiner extremen Überhöhung und Artifizialität ist „Cosmopolis“ gegen den eher konventionell umgesetzten Film zum Bankencrash „Margin Call“ eindeutig ein visuelles und akustisches Erlebnis und wird auch das Publikum polarisieren.

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In der Reihe „Un Certain Regard“ vergab Jurypräsident Tim Roth heute überaus charmant die Preise. Während in den Wettbewerb kein einziger Film einer Regisseurin aufgenommen wurde, entschied sich die Jury von „Un Certain Regard“ dafür, zwei beste Schauspielerinnen (Suzanne Clement und Emilie Dequenne) auszuzeichnen statt einen Schauspieler und eine Schauspielerin, sowie dem Film „Djeca“ der Regisseurin Aida Begic aus Bosnien eine „Besondere Erwähnung“ zu geben.
Der Hauptpreis der Jury ging in dieser Reihe an den vor Mobbing-Grausamkeit kaum auszuhaltenden mexikanischen Film „Después de Lucía“ von Michel Franco, in dem Alejandra (Tessa Ia) nach dem Unfalltod ihrer Mutter in einer neuen Stadt an eine neue Schule kommt, wo sie bald darauf gemobbt wird und dies (visuell herausragend umgesetzt) so entsetzliche Formen annimmt, dass der Zuschauer (und auch Jury-Präsident Roth) es kaum ertragen konnten. Der Jurypreis ging an den französischen Punkrocker-Film “Le Grand Soir” von Benoit Delepine und Gustave Kervern.
Tim Roth fasste das Festival sehr schön zusammen, als er sagte, dass der Grund in Cannes zu sein sei, dass man in der Reihe „Un Certain Regard“ bei der Geburt von etwas Großem dabei ist, wenn es noch ganz klein ist.  Des Weiteren bedankte er sich beim Festivalleiter dafür, dass in seiner Auswahl in der Reihe so viele Komödien waren und dass er sogar noch mehr davon begrüßen würde. Als Roth die Treppe im Zuschauerraum nach der Preisverleihung wieder hochging, lächelte er selig, drückte den Festivalchef Thierry Frémaux noch einmal an sich und sagte „Und jetzt ein Bier!“. Na dann Prost.

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Freitag, 25. Mai: Jeremy Irons spricht über Müll, Nicole Kidman uriniert auf Zac Efron und Philip Kaufman erzählt vom Filmemachen

Nach Fatih Akins langweiliger und wenig inspirierender Müllkippen-Dokumentation „Müll im Garten Eden“ vor einer Woche in Cannes folgte mit Candida Bradys von Jeremy Irons produzierter, ebenfalls außer Konkurrenz laufender Dokumentation „Trashed“ nun ein dokumentarisches Highlight des Festivals. Behandelt Akin das Problem nur regional am Beispiel einer Müllkippe in der Türkei, so betrachtet „Trashed“ das Müllproblem auf globaler Ebene, gibt aber gleichzeitig viele regionale Beispiele für den Umgang mit Abfällenl. 

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Es werden nicht nur Probleme gezeigt wie zum Beispiel der riesige „North Pacific Garbage Patch“, in dem sich Plastikfetzen aufgrund der Strömungsverhältnisse ewig im Kreis drehen, sondern am Ende des Films auch Lösungen präsentiert wie zum Beispiel der radikale Ansatz: „Zero Waste“, der abbaubare Materialien und totales Recycling erfordert und den die Stadt San Francisco umsetzt.

„Trashed“ ist so gut visuell umgesetzt, dass die Dokumentation sogar für den Preis für den besten Erstlings-Langfilm beim Filmfestival von Cannes nominiert ist, die Caméra d’Or. Zusätzlich konnte Jeremy Irons Vangelis dafür gewinnen, die Musik zu komponieren, was zu unglaublichen Klangwelten führt, die die dokumentarischen Bilder kontinuierlich erweitern: So wird Flugasche aus der Müllverbrennung zum Beispiel über zart fliegende Töne repräsentiert und das bedrohliche Ausmaß der Umweltverschmutzung in immer bedrohlicher werdende Klänge gehüllt. Jeremy Irons ist der offen subjektive und betroffene Erzähler des Films, der gleich am Anfang sagt, dass er die Situation des derzeitigen Umgangs mit Müll entsetzlich findet.

Viel in „Trashed“ erinnert an Werner Bootes „Plastic Planet“, doch wirkt Bradys Werk ästhetisch komponierter und inhaltlich besser präsentiert. Die Verwendung ansprechender Grafiken fördert das Verständnis komplexer Sachverhalte wie der Entstehung von Dioxin, und die Unterteilung in Kapitel wie „Land“, „Meer“ und „Lösungen“ hilft, die große Materialfülle und Informationsflut in kleinere Häppchen zu teilen. So ist Candida Bradys „Trashed“ genau so, wie man sich eine solche Dokumentation wünscht: Intelligent, ästhetisch und endlich mal nicht damit endend, dass das Publikum am Ende denkt: „Wir werden alle sterben.“

Im Wettbewerb hingegen lief ein Film, der auch ein bisschen "Trash" entsprach und dabei nicht so ästhetisch ansprechend wie "Trashed" umgesetzt war: Lee Daniels „Precious“ bewegte vergangenes Jahr die Herzen vieler Besucher durch seine gelungene Kombination aus düsterstem Alltag und überzeichneten Fantasien der jungen Hauptdarstellerin. In seinem neuen Film „The Paperboy“ hingegen reflektieren manche Szenen und Fantasien eher die Lust des Regisseurs am Tabubruch. Die einprägsamste Szene ist dabei das Urinieren der hier herausragenden Nicole Kidman als Super-Blondinen-Barbie-Figur auf den von Feuerquallen gestochenen Zac Efron - knapp gefolgt von einer Kidman-Sexszene (ohne physischen Kontakt) im Gefängnis, in dem Hillary van Wetter (John Cusack), ihr Brieffreund und mittlerweile Verlobter, auf seine Hinrichtung wartet.

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„The Paper Boy“ ist ein wenig wie der bösartige, schmuddelige Bruder von „The Help“, doch wie dieser hat auch Daniels‘ Werk Schwächen. Ist „The Help“ zu verkitscht, so ist „The Paperboy“ thematisch zu weit angelegt, um seinen diversen Strängen durchgehend gerecht zu werden. Ambitioniert werden in diesem in den 1960ern in Florida spielenden Film nicht nur eine zerrüttete Familie, eine Geschichte von Neid unter Brüdern, der Umgang von Schwarzen und Weißen, Homophobie, Klassenstrukturen und auch noch ein korruptes Polizei- und Behördensystem abgehandelt, sondern auch noch ein Thriller im Sumpf eingebaut. Schauspielerisch verblassen die Männer alle gegen die wahrgewordene Männerphantasie in Form von Kidmans White-Trash-Barbie: Efron spielt einen jungen Schwimmer, ist aber viel zu muskulös und aufgepumpt, um körperlich zu seiner Rolle zu passen, Matthew McConaughey verkörpert den älteren Bruder und erfolgreichen Journalisten ansprechend, doch Kidman ist eindeutig der Star des Films. Sie beweist Mut zur Hässlichkeit, so dass man sie mit pinkfarbenen Schmolllippen, falschen Wimpern, mit Bräune aus der Tube und einer überdimensionalen blonden Perücke zuerst kaum erkennt. Blass bleibt hingegen John Cusack als Sträfling, der einfach zu nett ausschaut, um wirklich glaubwürdig zu sein. Am Ende ist „The Paperboy“ ein zeitweise verstörend anzuschauender Film, der immerhin eine deutliche ästhetische Linie verfolgt, in seiner Überzeichnung manchmal herrlich komisch ist und eindeutig die Handschrift seines Machers trägt.

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Nicole Kidman saß heute mit ihrem Co-Darsteller Clive Owen in Cannes im Publikum bei der „Master Class mit Philip Kaufman“, dem Regisseur von Werken wie „Der Stoff, aus dem die Helden sind“ und „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“, da Kaufmans außer Konkurrenz laufender „Hemingway & Gellhorn“ mit beiden Darstellern 2012 in Cannes uraufgeführt wird. Kidman war ätherisch schön und entledigte sich sofort ihrer High Heels, um schließlich sogar barfüßig wieder aus dem Kino zu schweben. Auch der Präsident von HBO sitzt im Publikum der Veranstaltung; wie Kaufman später sagen wird, ist „Hemingway & Gellhorn“ ein sehr großer Film umgesetzt mit einem kleinen HBO-Budget. In Filmausschnitten geht es in dieser Master Class durch die Filmgeschichte des Regisseurs Kaufman, von seinem ersten Film, „Goldstein“ (1964) bis zum heute Abend gezeigten Hemingway-Streifen.

Seine Karriere begann, als Kaufman mit seiner mittlerweile verstorbenen Frau Rose als Mathelehrer an einer amerikanischen Schule in Italien tätig war, wo beide die Werke von Pasolini und Co. sahen. Er entschied sich, dass er auch Filme machen wollte und etwas konfus und nur halb geplant drehte er bald darauf in Chicago „Goldstein“, zu einer Zeit, da es in den USA quasi noch gar keine Independent-Filmemacher gab. Die Komparsen in diesem Film waren ahnungslos eingespannte Passanten, Kaufman und sein Team ließen einfach am Hafen einen orthodox gekleideten Juden tanzen, während die Fischer etwas verwirrt zuschauten. „Goldstein“ wurde damals in Cannes in der „Semaine de la Critique“ gezeigt und Kaufman teilte sich schließlich einen Preis mit Bernardo Bertolucci.

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In seinem übernächsten Film verwendete er zum ersten Mal Archivaufnahmen, die mit dem Film verwoben wurden und bis heute eines seiner Markenzeichen sind. „The White Down“ spielt unter Inuit und Kaufman hatte so wenig Geld, dass er für die Aufnahmen keine Segelschiffe und Co. anmieten konnte, so dass er sich billig mit alten Archivaufnahmen behalf.


Über sein ebenfalls mit Archivaufnahmen versetztes Meisterwerk „Der Stoff, aus dem die Helden sind“, sagt Kaufman lachend, es sei der längste Film, der je ohne einen Plot gedreht wurde. Zu einer Szene aus „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ mit der 18-jährigen Juliette Binoche und der Schwedin Lena Olin erzählt er, dass ihn deswegen das einzige Mal in seinem Leben Stanley Kubrick anrief: In der intimen Szene fotografiert Binoche die nackte Olin, die ein Verhältnis mit dem gleichen Mann hat. Kaufman erhoffte sich einen Einblick in den brillanten Geist des Meisterregisseurs, doch dieser fragte ihn nur ganz platt: „In der Szene, wo Binoche die Kamera hoch nimmt und beide Frauen sich tief in die Augen gucken… Woher hattest du da die Praktica-Kamera?“

Kaufmans Film „Henry & June“ über Anais Nin, Henry Miller und seine Frau June wurde in den USA als so pornografisch empfunden, dass er das Zertifikat „X-Rated“ bekam und eigentlich nicht im Kino gezeigt werden konnte. Als die Universal Studios und Kaufman daraufhin vor Gericht gehen wollten, um diese Einordnung ändern zu lassen, rief morgens um 6 der berühmte Filmkritiker Roger Ebert bei Kaufman an, um ihm aufgeregt mitzuteilen, dass „Henry & June“ soeben in die neue Gruppe „NC-17“ eingeordnet worden war. Kaufman war froh, denn was in der Literatur als freier Ausdruck seit langem erkämpft worden war, war nun - im Jahre 1990! - endlich auch im Kino nicht mehr verboten. 

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Donnerstag, 24. Mai: Töten mit Brad Pitt und auf der Straße mit Walter Salles

Nachdem das Werk von Jacques Audiard etwas kitschig ausgefallen war, wartete man in Cannes gespannt auf das Duell zwischen den Großmeistern Michael Haneke und Alain Resnais. Der Österreicher Haneke hatte schon eine Goldene Palme im Schrank, der Franzose Resnais jedoch war schon zum 5. Mal im Wettbewerb vertreten. Resnais („Letztes Jahr in Marienbad“) und sein Drehbuchautor Laurent Herbiet nahmen die Stücke „Eurydice“ und „Cher Antoine ou l’amour rate“ von Jean Anouilh als Ausgangspunkt für den Wettbewerbsbeitrag „Vouz n’avez encore rien vu“, in dem Theaterstücke und cinematische Möglichkeiten  unter Einsatz einiger der besten Schauspieler Frankreichs elegant verwoben werden. Die Darsteller spielen sich dabei selbst, unter ihnen zum Beispiel Sabine Azema, Pierre Arditi, Anne Consigny und Lambert Wilson.

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Die griechische Geschichte von Orpheus und Eurydice handelt von einer Liebe, die so stark ist, dass Orpheus seiner Geliebten nach ihrem Tod sogar in die Unterwelt folgt, um sie von dort zurückzuholen. Die diese Sage umhüllende Rahmengeschichte ist jedoch leider das schwächste Glied in diesem ansonsten brillant inszenierten, formvollendet gespielten Film und schmälert die Wirkung des Werkes von Resnais. Der (in der Fiktion des Films) verstorbene erfundene Regisseur lässt all den Schauspielern, die im Laufe der Jahre in seinen Inszenierungen von „Eurydice“ mitspielten, den Wunsch übermitteln, sie mögen sich an seinem Ansitz versammeln. Dort sehen sie eine Videobotschaft und sollen sich die Aufnahme einer neuen Eurydice-Inszenierung anschauen. Während des Betrachtens werden sie in das Geschehen emotional hineingezogen und spielen ihre damaligen Rollen gleichzeitig und mit sich wiederholenden Dialogen im Saal des Ansitzes mit. In diesen Momenten, dem Großteil des Films, schafft Resnais Kunst von großer Schönheit. Musik (zum Beispiel auf der  Harfe gespielt), Unschärfe, Split Screens, plötzlich auftauchende Türen sind nur einige der Mittel, die der 89-jährige Altmeister formidabel einsetzt. Doch leider ist die Rahmenhandlung zu simpel und albern, um die Katharsis nach Betrachten der griechischen Tragödie aufrechtzuerhalten.

Mit weitaus weniger Finesse als Resnais geht hingegen der Brasilianer Walter Salles in seinem Wettbewerbsbeitrag vor: Salles verfilmt in „On the Road“ Jack Kerouacs Kult-Roman, die Mutter aller Road Trips, der vom Autor in irrsinnigen drei Wochen auf einer durchgehenden Papierrolle geschrieben wurde und seit seiner Veröffentlichung 1957 in allen Jugend-Generationen  Anklang fand in seiner Verweigerung gesellschaftlicher Konventionen, in seiner Wildheit mit Sex, Drogen und Musik und einer Reise, die selbst zum Ziel erklärt wurde. „On the Road“ faszinierte im Laufe der Zeit auch viele Regisseure, unter anderem Francis Ford Coppola (hier Executive Producer), galt aber immer als unverfilmbar. Walter Salles inszeniert seine Fassung von „On the Road“ im Stil seiner erfolgreichen Adaption von Che Guevaras „Motorcycle Diaries“ und gibt die Atemlosigkeit des Originals schön wieder über schnelle Schnitte und einen wunderbaren vorwärtstreibenden Soundtrack, der in die Zeit passt (das Buch umfasst einen mehrjährigen Zeitrum Ende der 1940er). Die Schauspieler sind wunderschön anzusehen, bleiben dem Zuschauer in dieser Inszenierung jedoch leider emotional fern.

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Der angehende Schriftsteller Sal Paradise (Sam Riley) lernt nach dem Tod seines Vaters über seinen Freund Carlo Marx (Tom Sturridge) den wilden und freiheitsliebenden Dean Moriarty (Garret Hedlund) kennen, der ihn mit auf diverse Road Trips durch Amerika zu diversen Frauen mitnimmt, die alle eine Beziehung mit Dean haben, wie zum Beispiel seine 16-jährige Ehefrau Marylou (Kristen Stewart, „Twilight“). Alle sind hübsch, doch zu niemandem baut das Publikum wirklich eine Bindung auf. Zu hysterisch oder blass sind die Frauen (z. B. Kirsten Dunst als Camille), zu farblos die Männer.
Doch wird man über die fehlende erzählerische und charakterliche Tiefe durch die fantastischen Landschaftsaufnahmen, den Soundtrack und das Schnitt-Tempo dieses Bilderrausches von Amerika hinweggetröstet. Trotzdem bleibt auch weiterhin der Geist von „On the Road“ unverfilmbar und klingen diese Episoden an diversen Orten nie wie die unnachahmliche Stimme Kerouacs selbst. Für die atemlose Prosa seines Textes können zwar Bilder gefunden werden, doch kann das Ergebnis nicht so berührend und wirkungsvoll sein wie das Buch, wenn man sich nicht sehr, sehr weit von der Vorlage entfernt – und dann ist es keine Adaption dieses Textes mehr, sondern basiert das Ergebnis nur noch sehr lose darauf. Salles‘ „On the Road“ ist trotzdem ein schön anzusehender Film, doch wird er keine Jugend-Generation ansprechen können, wie es Kerouacs Buch mit so vielen gelang.

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Regisseur und Drehbuchautor Andrew Dominik hingegen will in seinem Wettbewerbsbeitrag „Killing Them Softly“ ein wenig zu viel aussagen, liefert dabei aber einen guten, satirischen Pulp-Noir-Film ab mit wiederholten Zeitlupenaufnahmen von Gewaltszenen, erhöhten Knack- und Krachgeräuschen von Schlägereien und mit einem hervorragenden Brad Pitt (wie auch in ihrer ersten Zusammenarbeit bei „Die Ermordung des Jesse James“, für die Pitt den Schauspielpreis in Venedig gewann) als Killer, der es schlimm findet, wenn seine Opfer jammern und betteln und sie lieber sanft aus der Distanz erledigen möchte, wie es der Filmtitel besagt: „Killing Them Softly“.
Hier wird viel geredet, die Charaktere sind ausgearbeitet und allgemein wird eine trostlose Atmosphäre schlüsssig umgesetzt. Die Zeiten sind hart, denn der Film spielt in den wüsten Ecken New Orleans nach Hurricane Katrina während des Obama-Wahlkampfs, der auf allen Fernsehern zu sehen ist. Die Übertragungen werden sogar als Überleitungen zum jeweils nächsten Handlungsort verwendet. Die Geschichte ist einfach erzählt: Die beiden Idioten Johnny und Frankie, die sich aus dem Knast kennen, rauben eine Kartenspielhölle aus. Der Mob bringt daraufhin einen Killer in die Stadt, der alle „aufräumen“ soll, die beteiligt waren.
Der Film zeigt so ziemlich alle Beteiligten als Deppen und etabliert so einen großen Pessimismus. Trotzdem ist der Killer nicht halb so furchteinflößend wie Ben Kingsley in „Sexy Beast“ oder Javier Bardem in „No Country for Old Men“ und gibt es für die echten Pulp-Fans zu wenig Action und ein wenig zu viel Politisches.

So erweist sich Salles Werk am Ende als zu flach, Dominiks als zu tief und Resnais' als zu verkopft, um im Wettbewerb an Hanekes "Amour" vorbeizuziehen.

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Mittwoch, 23. Mai: Der tägliche Sturm und der Anteil der Engel

Vor einem Vierteljahr gewann Asghar Farhadis schon im Vorjahr auf der Berlinale mit dem Goldenen Bären ausgezeichnetes Drama „Nader und Simin – eine Trennung“ den Oscar für den besten fremdsprachigen Film. Nach Cannes kam der iranische Regisseur 2012 ohne fertigen Film, bekam dafür jedoch eine Förderung von 60.000 EUR für seinen nächsten, als er hier als erster Nicht-Europäer von der Kultur-Kommissarin Androulla Vassiliou mit dem „EU Prix Media“ ausgezeichnet wurde, bei dem europäische Filme gefördert werden, deren Regisseur außerhalb seines eigenen Landes arbeiten will.

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Farhadi wird von diesem Geld einen Thriller mit Marion Cotillard (die hier derzeitig als Favoritin für den Preis für die beste Schauspielerin gehandelt wird nach ihrer Rolle in Audiards „Rust and Bone“) und Tahar Rahim („Ein Prophet“) drehen. Die Preisverleihung fand im „Café des Palmes“ des aus gefühlten tausend Räumen, Aufgängen und Fluren bestehenden Festivalpalasts statt. Das „Café des Palmes“ ist etwas Besonderes, enthält sie doch einen der kleinen Schätze von Cannes: Die Filmbibliothek mit Büchern aller Preisträger der letzten 65 Jahre.

Im Press Office werden derweil täglich mehr Fotos vom Festival an die Wand gehängt: Nur die schönsten Bilder schaffen es an die Fotografen-Wand. Jeden Abend kurz nach 22 Uhr gibt es einen magischen Moment, in dem einem wieder bewusst wird, wo man sich gerade befindet. Die letzten 20 Journalisten sitzen noch an den Tischen und schreiben, nach all dem Chaos des Tages ist es endlich ruhig geworden, doch dann ertönen  in der Entfernung Geräusche: Es beginnt mit einem Rauschen, das langsam anschwillt zu rennenden Schuhen und sich schließlich anhört, als würde sich ein Schlachtfeld auf den Raum zubewegen. Zuletzt verdunkelt sich der Türeingang und stürmen Dutzende von Fotografen mit Stativen und Kameras herein, um die ersten zu sein, die ihre Fotos vom Roten Teppich bei den internationalen Bildagenturen hochladen. Das gibt es in dieser Form wirklich nur in Cannes.

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Ken Loachs im Wettbewerb laufende Komödie „The Angel’s Share“ spielt unter straffälligen, zukunftslosen Jugendlichen in Glasgow. Der gewalttätig gewordene Robbie (Paul Brannigan) will sein Leben ändern, nachdem er Vater wurde. Vom Leiter der Gemeindearbeitstruppe, bei der er seine Strafstunden abarbeitet, lernt er viel über die Whiskyherstellung und findet heraus, dass alte Whisky-Fässer unglaublich viel Geld einbringen können.

„The Angel’s Share“, den Anteil der Engel, nennt man bei der Herstellung des Whiskys die zwei Prozent Alkohol, die jedes Jahr einfach aus den Fässern verdunsten, und so will auch Robbie seinen „Angel’s Share“, um seinem gerade geborenen Sohn ein besseres Leben zu ermöglichen. Loachs Werk ist sehr publikumsfreundlich und ähnelt Filmen wie „Ned Devine“ oder „Grasgeflüster“, ist jedoch formelhaft und bietet nur wenige Überraschungen. Dafür ist der Dialog von Loachs Stamm-Drehbuchautor Paul Laverty so witzig, dass sich das gesamte Publikum schon in den ersten zwei Minuten halbtot gelacht hatte. Kein Favorit auf einen Hauptpreis des Festivals, aber ein garantierter „Crowd Pleaser“.

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Dienstag, 22. Mai: Gerüchte, Ghettos und Geschichten vom Erwachsenwerden

Der dänische Regisseur Thomas Vinterberg, der 1999 mit dem ersten, legendären „Dogma“-Film „Das Fest“ den Jurypreis in Cannes gewann, hat 2012 wieder ein Werk im Rennen um die Goldene Palme: „Jagten“ (The Hunt). Wie bei jedem Vinterberg-Film seit dem Erfolg von „Das Fest“ hoffte  jeder darauf, dass Vinterberg endlich wieder ein Meisterwerk zustande gebracht hat. doch „Jagten“ ist zwar ein sehr gut gemachter Film über das Thema, wie ein Gerücht das Leben eines Menschen zerstören kann, jedoch kein Klassiker, den in zehn Jahren immer noch alle kennen werden – wie es zum Beispiel bei Hanekes „Amour“ der Fall sein wird, der seit seiner Aufführung hier als Favorit für die Goldene Palme gehandelt wird.

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Die Grundidee hinter „Jagten“ ist relativ einfach: Lucas (Mads Mikkelsen) ist Kindergärtner und betreut als solcher auch die 5-jährige Tochter seines besten Freundes, die sich in ihn verliebt. Als er Klara freundlich, aber bestimmt zurückweist, erzählt diese der Kindergartenleiterin, Lucas habe ihr sein erigiertes Glied gezeigt. Da ihr großer Bruder Klara erst am Vortag ein Foto von nackten Genitalien gezeigt hat, kann sie auch genau beschreiben, wie dieses aussah. Obwohl Lucas abstreitet, dass etwas vorfiel, glaubt man Klara und so zieht das Gerücht wie ein Virus seine Kreise und zerstört immer mehr Einzelteile seines Lebens. Gut erzählt und überzeugend gespielt, ist „Jagten“ sehr effektiv und erschreckend darin, wie realistisch sich die Situation anfühlt. Vinterberg findet zudem auch noch ein interessantes Ende dieser Geschichte, in der die Hirsch-Jagd der Männer miteinander zu einer Jagd auf eine andere Person wird. Trotzdem gilt Vinterberg nach „Jagten“ nicht als (Mit-)Favorit auf den Festivalsieg.

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Eindeutig enttäuschend war hingegen der argentinische „Elefante Blanco“ von Pablo Trapero (in der Sektion „Un certain regard“), der eine Art schlechterer „City of God“ gemischt mit ein bisschen „The Mission“ ist. „Elefante Blanco“ nennt man die riesige Ruine eines nie fertig gebauten Tuberkulose-Hospitals in einem Slum vor Buenos Aires, und Trapero baut um das reale Engagement der katholischen Kirche in eben diesem Slum, in dem 1974 ein Priester namens Carlos Mujica erschossen wurde, eine Geschichte, die so viel auf einmal will, dass sie den Zuschauer überfordert: So gibt es einen Priester, der Krebs hat und seine Gemeinde in gute Hände legen will (wie in all seinen Rollen hervorragend gespielt von Ricardo Darín, dem Hauptdarsteller des argentinischen Oscargewinners „In ihren Augen“). Der dafür vorgesehene junge Priester hat eine Vorgeschichte, die leider nie wieder aufgegriffen wird; er verliebt sich in die Sozialarbeiterin vor Ort, was jedoch dramaturgisch zu wenig genutzt wird; gleichzeitig gibt es einen Strang über die Schwierigkeiten, das große Projekt eines Krankenhausbaus voranzutreiben im Angesicht von Korruption, Polizei, Drogenkriegen und diversen anderen Hindernissen. Wer Meirelles’ „City of God“ gesehen hat, kann „Elefante Blanco“ nur enttäuschend finden.

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Wunderschön anzuschauen war hingegen der außer Konkurrenz gezeigte „Io e te“ von Bernardo Bertolucci („Der letzte Kaiser“), eine kleine Coming-of-Age-Geschichte  mit wunderbarem Soundtrack, der von David Bowie über The Cure bis zu Arcade Fire und Muse reicht.
Statt mit seiner Klasse in den Skiurlaub zu fahren, verbringt der 14-jährige Lorenzo eine Woche im Keller des Hauskomplexes seiner Mutter, wo ihn seine drogensüchtige Halbschwester Olivia findet und für ihren Entzug bei ihm einzieht. Lorenzo (Jacopo Olmo Antinori) ist eine Art zurückgezogener pickeliger Frodo und seine Schwester läuft in einem Raben-artigen schwarzen Fusselmantel herum. Die Geschichte wird liebevoll erzählt, in schöne Bilder gehüllt, zusätzlich gibt es ein paar Buddhismus-Anspielungen für die Fans von Bertoluccis „Little Buddha“ und so gab es am Ende verdienten Applaus von einem zufriedenen Publikum.

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Montag, 21. Mai: Sturm und Wahnvorstellungen

Man möchte glauben, die Welt geht unter in Cannes: Sintflutartige Regenfälle stürzen seit gestern Mittag vom Himmel und so wateten die High-Heel-Heldinnen gestern Abend durch knöcheltiefes Wasser und verfluchten jegliche Wettergötter. Während andere sich am Roten Teppich drängelten, ging es für Filmszene durch die Wassermassen auf der Croisette (der langen Promenade, an der das Festivalgebäude steht) auf eine Party ins 1923 gebaute Jugendstil-Hotel Majestic. Von hier aus fahren viele Limousinen zum Roten Teppich los, da das Majestic nur ca. 50 Meter vom Festival-Palast entfernt ist.

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Im Majestic wurde ein Dokumentarfilm der südafrikanischen Regisseurin Jacqueline Fox über die Jugendzeit von Nelson Mandela vorgestellt („Mandela – The World that made him“), von dem allerdings erst zehn Minuten fertig sind, die im Laufe des Abends drei Mal im „Privat-Kino“ des Hotels gezeigt wurden - in Cannes haben sogar die Hotels ihre eigenen Vorführräume. Im Gegensatz zu den regulären Sälen des Festivalpalasts gibt es in so einem Privatkino natürlich breite Sitze und genügend Beinfreiheit für alle, zusätzlich zu einer wahrhaft beeindruckenden Menge an Kronleuchtern in allen Fluren. Als eine Schokoladentorte zum Geburtstag der Regisseurin in den Saal gebracht wurde, kämpfte die ausgehungerte Abendkleid-Meute so verzweifelt um ein Stückchen, dass die Hotelangestellte, die eine Minute später die Kuchentellerchen hinterher trug, verblüfft feststellen musste, dass die Torte mittlerweile verschwunden war.

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Der Wettbewerbsbeitrag des italienischen Regisseurs Matteo Garrone (gefeiert für „Gomorrha“) „Reality“ handelt von dem Wunsch eines einfachen und freundlichen Fischhändlers aus Neapel, der ins Big-Brother-Haus einziehen möchte. Zu einem verträumten Score von Alexandre Desplat und sehr guter Kamera von Marco Onorato („Gomorrha“) hofft der Protagonist Luciano nach einem Casting, zu dem ihn seine Familie drängte, dass er es in den Kreis der bald Berühmten ins Haus schafft und fixiert sich immer mehr auf diese Idee. Er beginnt Wahnvorstellungen zu haben, dass das Fernsehen Menschen schickt, die ihn beobachten sollen, entfremdet sich damit immer weiter von seiner Familie und riskiert ihre gesamte finanzielle Existenz.

Garrone versucht hier die traurige Verträumtheit von Fellinis „La Strada“ mit einer Kritik an Starrummel und Berühmtheitswahn zu verbinden, ist aber nicht konsequent genug, sich seinem künstlerischen Ausdruck ganz hinzugeben und verbleibt in einer durch Musik und Bilder nur zart ästhetisch erhöhten Wirklichkeit, zu nah an der Realität und zu weit vom echten Wahn, um mit „Reality“ volle Wirkung entfalten zu können. Garrone ist ein guter Regisseur, doch halt kein Fellini. Immerhin eine spannende Geschichte gibt es zu „Reality“: Hauptdarsteller Aniello Arena sitzt seit 18 Jahren für mehrere Mafiamorde in Haft, bekam für die Dreharbeiten Freigang, durfte aber nicht nach Cannes fahren. So ist die Realität.

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Sonntag, 20. Mai: Tod, Terror, Tahrir und ganz viel Blut

In Cannes zerrte früh morgens der Sturm an den Palmen und den Festivalzelten, während drinnen vor dem tobenden Windgeheul ein ganz leiser Film über das Sterben gezeigt wurde. Michael Hanekes („Das weiße Band“, „Caché“) neuer Film „Amour“ ist ein Werk über das Altern und die Liebe zweier alter Menschen: Die beiden ehemaligen Musikprofessoren Georg (Jean-Louis Trintignant) und Anna (Emmanuelle Riva) sind etwa 80, als sie einen Schlaganfall bekommt. Der Film zeigt, wie sich ihr Leben mit der Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes wandelt und ihre Liebe andere Facetten offenbart. „Amour“ spielt eigentlich nur in der Wohnung der beiden zwischen Bücherregalen, Flügel und Parkett unter Einbeziehung nur weniger anderer Figuren, wie zum Beispiel der Tochter, die von Isabelle Huppert wunderbar distanziert dargestellt wird.

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Nur zu Beginn von „Amour“ zeigt Haneke seine Figuren außerhalb der eigenen vier Wände in einer sehr schönen Sequenz: Das Filmpublikum schaut auf ein Konzertpublikum, das die Ansage „Bitte nun ihre Mobiltelefone ausschalten“ bekommt und für das ein Pianist zu spielen beginnt, den das Filmpublikum jedoch nicht sieht. Stattdessen blickt man weiterhin ins Publikum, unter dem auch die Protagonisten sitzen. „Amour“ ist der wohl leiseste Film des Festivals, in dem eloquente Dialoge langsamer werden und schließlich ganz verstummen, so wie auch die klassische Musik langsam aus beider Leben weichen wird, bis nur noch Stille herrscht.

Wenig ist im Kino anstrengender als Menschen beim Sterben zuzuschauen und so ist auch „Amour“ schmerzhaft. Im Gegensatz zu den absurd-komischen Szenen, die Dresens Krebstod-Dokudrama „Halt auf freier Strecke“ letztes Jahr immer wieder für kurze Momente aufbrachen, bleibt Haneke hier ganz in der Betrachtung des Sterbens versunken und entlässt sein Publikum nie wieder aus der Furcht vor dem eigenen Tod. Keine Hochkultur, keine Schönheit von Musik und Kunst können das Altern und Sterben verhindern.

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Sehr viel schneller sterben die Hauptdarsteller in Nabil Ayouchs von den wahren Ereignissen in Marokko inspirierten „Les Chevaux de Dieu“ (God’s Horses), die sich als Selbstmordattentäter in Casablanca 2003 in die Luft sprengen. „God’s Horses“ erzählt die Geschichte beginnend bei der Kindheit der Jungen, die alle aus dem gleichen Slum vor den Toren Casablancas stammen, ist herausragend geschnitten (gleich zu Beginn wird zwischen einer schrecklichen Gewaltszene und einer Bauchtanzaufführung brillant hin- und hergewechselt) und gepflastert mit wunderbar epischen Aufnahmen des Slums wie in Fernando Meireilles’ „Der ewige Gärtner“. Ayouch webt die verschiedenen Altersstufen seiner Protagonisten elegant zusammen und spielt gekonnt mit Motiven wie dem gemeinsamen Fußballspiel, um die Änderung der sozialen Rollen mit dem Erwachsenwerden der Figuren zu zeigen.

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Sein wunderbarer Film bekam drei Runden an Applaus, läuft aber leider nur in der Nebenreihe „Un certain regard“, während es Yousri Nasrallahs weitaus schlechterer Film „Baad El Mawkeaa“ (After the Battle) über die Reiter, die auf den bekannten Videoausschnitten auf dem Tahrir-Platz gegen die Revolutionäre angeritten waren, in den Wettbewerb schaffte. „After the Battle“ ist inhaltlich interessant, weil er diverse weitere Facetten der Revolution in Ägypten zeigt und somit das einseitige Bild, das durch die immergleichen Aufnahmen auf YouTube entstand, mehrdimensionaler macht und die Grenzen zwischen Gut und Böse relativiert. Intelligent wird auch hinterfragt, welche Intentionen die Charaktere für ihre Aktionen während der Revolution hatten und wie viele von ihren Überzeugungen Monate später noch vorhanden sind. Trotzdem ist das Handeln der Figuren nicht immer nachvollziehbar und ihre Charakterentwicklung nicht immer plausibel. Nasrallah wollte hier anscheinend einfach zu viel auf einmal erreichen. So ist „After the Battle“ am Ende nur ein mittelmäßiger Film, der gerade im Vergleich mit „God’s Horses“ seine Schwächen offenbart.

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Leicht gräulich tauchte das Publikum hingegen heute aus Brandon Cronenbergs „Antiviral“ wieder auf, der in der Reihe „Un Certain Regard“ gezeigt wurde, während sein Vater, der für seine blutigen Werke bekannte Regisseur David Cronenberg („A History of Violence“) im Wettbewerb mit „Cosmopolis“ vertreten ist. „Antiviral“ ist ein sehr stylish gefilmter Thriller über eine Welt, in der sich Fans in Hochglanzkliniken mit den Krankheiten ihrer Stars infizieren lassen (Infektionen spielen auch in den Werken seines Vaters eine thematische Rolle). Das ambitionierte Projekt von Cronenberg Jr. verliert sich jedoch in zu viel Anspruch leider irgendwann selbst und endet mit einem Bild, das so dermaßen Würgreiz erregend ist, dass es jeder Besucher nur noch aus dem Kopf bekommen will.

Die visuelle Handschrift mit zum Teil extremen Kippbewegungen der Kamera und starken Kontrasten aus weißen Inneneinrichtungen, schwarzen Anzügen, Lippenstiftrot und natürlich (wie beim Papa) ganz viel Blut (gerne irgendwohin erbrochen) verleiht dem Film starke Bilder, fördert manchmal jedoch auch Vertigo und Übelkeit. Der Streicher- und Synthesizer-lastig dröhnende Soundtrack passt hier genauso wie die Hauptdarsteller, der androgyne sommersprossige Caleb Landry Jones als Klinikangestellter und Sarah Gadon als Superstar. Besonders von Landry Jones wird hier voller Körpereinsatz gefordert, da er sich mit einem Virus des Stars Hannah Geist infiziert und fortan immer mehr verfallen wird –und natürlich Blut erbrechen. Ob dieser Film unbedingt in Cannes in dieser sehr renommierten Reihe etwas zu suchen hat, hat wohl eher mit dem Vater des Regisseurs und dem Medien-wirksamen Vater-Sohn-Auftritt zu tun als mit den tatsächlichen künstlerischen Qualitäten. Vielleicht wurde hier jedoch auch mit einem gewissen Augenzwinkern ein filmischer Gegenpol zum Starrummel auf der Festival-Promenade gesetzt. 

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Samstag, 19. Mai: Sugar Mamas und Nonnen

Am Privatstrand des Festivals von Cannes stehen weiße Zelte der verschiedenen Filmnationen, Deutschland und die Türkei sind hier direkte Nachbarn. Nachdem vorgestern im türkischen Pavillon die Verleihung der „Carrosse d’Or“ an Nuri Bilge Ceylan freudig gefeiert wurde, fand gestern Abend Fatih Akins Party statt, die sich über beide Pavillons erstreckte. Akins Beitrag „Müll im Garten Eden“ spielt in dem Dorf in der Türkei, aus dem seine Familie stammt. Eine Party der ganz anderen Art feiert die Protagonistin in Ulrich Seidls herrlichem, aber hochgradig Fremdschäm-lastigen österreichischen Wettbewerbsbeitrag „Paradies: Liebe“, die nach Kenya fährt und zur „Sugar Mama“ wird.

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Sugar Mamas heißen die Europäerinnen mittleren Alters, die nach Afrika oder in die Dominikanische Republik fahren und sich „Beach Boys“ suchen, die mit ihnen gegen Geld oder andere Gefälligkeiten Sex haben. Die Absurdität dieses Arrangements, bei dem die Hauptdarstellerin sich im Film eigentlich nur geliebt fühlen will und vor sich selbst verleugnet, dass sie Geld für Sex zahlt, offenbart sich gerade durch die spezifische Methode, mit der Seidl arbeitet, sehr deutlich: Halbdokumentarisch und mit Skripts ohne Dialoge, bei denen er die Schauspieler stattdessen alles improvisieren lässt. Dadurch kommt es zu Sätzen, die so politisch unkorrekt sind, aber so hervorragend in die Situation passen, dass die Zuschauer manchmal nach Luft schnappen. Gerade die Nacktszenen muten damit dokumentarisch an. Die sogenannten „Seidl-Tableaux“ aus durchkomponierten Einstellungen, in denen Menschen direkt in die Kamera schauen, betonen die Absurdität zusätzlich. Hier sind dies zum Beispiel Einzelaufnahmen eines der Beach Boys nach dem Sex, der auf seiner Couch sitzt und nackt raucht, während er die gegenüber auf dem Bett schlafende Sugar Mama betrachtet.


Die Hauptdarstellerin Margarethe Tiesel, die bisher nur an Theatern gespielt hatte, erweist sich dabei als brillante Besetzungswahl. Ihre naiven Augenaufschläge, unglaublich natürlichen Sätze und ihre aufrichtige Präsenz vor der Kamera verleihen den Bildern Persönlichkeit. Die Kamera folgt ihr durch Mombasa und ihr leicht watscheliger Gang auf den hohen Schuhen, zu denen Seidl sie zwang, passt einfach wunderbar zur Rolle.
„Paradies: Liebe“ ist der erste Teil einer Trilogie von Filmen über drei Frauen einer Familie und ihre Suche nach der Liebe. Seidl drehte diese in den letzten vier Jahren und sie sollten ursprünglich ein Film werden – zum Glück gab es jedoch eine solche Materialfülle, dass nach diesem Werk noch „Paradies: Glaube“ (über die Schwester der Sugar Mama, die sich Gott zuwendet) und „Paradies: Hoffnung“ über die Tochter, die in ein Diätcamp für übergewichtige Jugendliche geschickt wird und dort die erste Liebe erlebt, folgen.

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Wie „Paradies: Liebe“ erzählt auch der rumänische Wettbewerbsbeitrag „Dupa dealuri“ (Beyond the Hills) von Cristian Mungiu von der Liebe zu Gott. Mungiu gewann 2007 mit dem Abtreibungsdrama „4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage“ als erster rumänischer Regisseur die Goldene Palme, doch „Beyond the Hills“ ist leider so lang und handlungsarm, dass man fast eine Stunde hätte herausschneiden können, ohne die Wirkung des Films zu verlieren. Wie „4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage“ wurde auch dieser Film ohne Filmmusik und mit nur einer Einstellung pro Szene gedreht, wodurch dem Zuschauer inszenatorisch wenig Abwechslung geboten wird.


Zwei junge Frauen waren früher gemeinsam im rumänischen Waisenhaus. Nun kehrt Alina aus Deutschland zurück, da sie ohne Voichita einsam ist. Aber Voichita hat Gott gefunden und lebt im Kloster, von dem Alina sie nicht einfach loseisen kann. Ihr wird erlaubt, ein wenig zu bleiben, doch dann beginnt Alina epileptische Anfälle zu bekommen und wild um sich zu schlagen.


Mungiu kritisiert in „Beyond the Hills“ die Rumänisch-Orthodoxe Kirche und ihre Bedeutung in seinem Heimatland, sagt aber wenig mehr aus als diverse andere Filme im ‚Subgenre’ „Mädchen hat Krämpfe, schlägt um sich und trifft auf Priester, die genau wissen, was das Beste für sie ist“ dies schon in Bezug auf die Katholische Kirche taten. Natürlich ist Mungius Film stilistisch schön, die Einstellungen gut komponiert, doch fehlen manche Bezugspunkte, die der Handlung mehr Tiefe hinzugefügt hätten: Ist den Mädchen im Waisenhaus etwas passiert? Ist Alina in Deutschland etwas passiert, denn es gibt ja zum Beispiel auch erzwungene Prostitution von Rumäninnen? Vieles bleibt offen, dafür bekommt man auf zweieinhalb Stunden immer wieder die scheinbar gleichen Dialoge präsentiert, bis auch der letzte auf seinem unbequemen Stuhl hin und her rutscht und hofft, es möge jetzt endlich mal ein Ende nehmen.

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Ein tolles Erlebnis war dafür die „Master Class on Music“ mit dem Filmmusikkomponisten Alexandre Desplat (der den Score von fünf Cannes-2012-Filmen komponiert hat und vierfach Oscar nominiert wurde, ohne den Oscar jedoch bisher bekommen zu haben). Er sprach über die Filmmusikkomponisten, die ihn beeindruckt und geprägt haben und zeigte dazu Beispiele aus diversen Filmen wie zum Beispiel die Eröffnungssequenz aus Scorseses „Kap der Angst“ oder die Panzerverfolgungsszene aus „Indiana Jones und der letzte Kreuzzug“. Er benötige am Längsten für das Thema der Eröffnungssequenz, sagte er und betonte, dass die Musik die filmischen Bilder nicht spiegeln, sondern ihnen immer eine weitere Ebene über das Bild hinaus geben sollte. Er selbst spielt Flöte (zum Teil auch bei seinen eigenen Filmmusiken wie z. B. bei „Der fantastische Mr. Fox“) und orchestriert mittlerweile nur noch selten, dirigiert aber immer noch die Musiker bei seinen Filmmusiken selbst. Dies sei der zweitschönste Moment für ihn, wenn man das Erdachte zum ersten Mal außerhalb des eigenen Kopfes hört, nach dem schönsten Moment, dem Einfall. Musik ist die Seele des Films, das sei genau das, was an seinem Beruf das Tolle ist.

Desplats Meinung nach haben manche Regisseure mittlerweile zu wenig Vertrauen in ihre eigenen Ideen und Bilder, so dass sie eine mit Hits gefüllte Playlist für den Film zusammenstellen anstatt eigene Kompositionen anfertigen zu lassen, die nicht die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, sondern die Wirkung der Bilder verstärken. 

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Freitag, 18. Mai: Regen und Orcas

Auch in Cannes ist nicht immer alles eitel Sonnenschein und so standen heute Morgen hunderte von Journalisten wie nasse Hunde im strömenden Regen und warteten sehnsüchtig auf Einlass in Jacques Audiards („Ein Prophet“) „De rouille et d'os“ (Rust and Bone). Als kleiner Witz am Rande spielt „De rouille et d’os“ übrigens fast am gleichen Platz am Strand von Cannes, an dem er gerade aufgeführt wird, einmal sieht man sogar das Festivalgebäude, in dem man gerade sitzt, im Hintergrund. Der Rest wurde größtenteils im 20 Minuten entfernten Antibes gedreht, da es dort zahme Killerwale gibt.

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Der Film gilt als einer der Favoriten auf die Goldene Palme und so waren die Erwartungen sehr hoch. Nach der Vorführung sind die Bewertungen gemischt und basierten hauptsächlich darauf, wie stark ausgeprägt der persönliche Kitschalarm ist. Audiard zieht hier alle Register der emotionalen Manipulation – Beinamputation! Vernachlässigtes Kind! „Rocky“-Charakter und nicht zu vergessen: Orcas! - so dass man eigentlich das Gefühl hat, „De rouille et d’os“ schlechter finden zu müssen als es der Fall ist. Doch dieser Film über zwei einsame Seelen, der nur noch zu einem Hauch auf seiner Vorlage, einer Kurzgeschichtensammlung namens „Rust and Bone: Stories“ des kanadischen Autors Craig Davidson, basiert, funktioniert dafür einfach zu gut und man kann sich ihm auch aufgrund des Scores kaum entziehen. Es war so schön, dass auch die durchgehend gestressten Journalisten ausnahmsweise bis zum Ende sitzen blieben und den Abspann schauten, was eben auch an der hervorragenden Musik von Alexandre Desplat liegt, mit der „De rouille et d’os“ hinterlegt war. Desplat ist im Wettbewerb tatsächlich omnipräsent (siehe zum Beispiel „Moonrise Kingdom“) und scheint im vergangenen Jahr bei seiner Menge an Filmmusik-Engagements nie geschlafen zu haben.

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Der belgische Schauspieler Matthias Schoenaerts und die Oscar-gekrönte Französin Marion Cotillard („La Vie en Rose“, „Inception“) sind wunderbar in den Hauptrollen und treiben sich gegenseitig an. Schoenaerts kann besonders Wut hervorragend spielen und so ist sein Aufwärmen vor Boxkämpfen im Film verstörend anzuschauen. Cotillard schafft es, ihrer schwierigen Rolle Glaubwürdigkeit zu verleihen, ohne in Klischees zu verfallen: Man nimmt es ihr hier sofort ab, dass sie um ihre amputierten Beine nicht nur trauert, sondern auch verdammt wütend ist. 

Beide Charaktere sind mehrfach gebrochen und entwickeln sich nicht geradlinig, sondern eher in einem Zickzackkurs weiter. Ihre diversen Schwächen lassen sie real werden und brechen die Kitschigkeit wieder. Trotzdem sind es gerade die kitschigen Szenen, die einem das Herz übergehen lassen, darunter besonders eine Szene, in der Cotillard mit Prothesen statt Beinen zum ersten Mal wieder vor einem Orcatank steht und den Tieren Anweisungen gibt.

Und so geht „De rouille et d’os“ am Ende trotz oder gerade wegen seiner Kitschigkeit einfach ans Herz. Und ist und bleibt ein Favorit auf die Goldene Palme, auch wenn die Konkurrenz durch Haneke, Resnais und Co. groß ist.

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Donnerstag, 17. Mai: Kein sonderlich spannender Müll

Langsam stellt sich heraus, dass 24 Stunden am Tag in Cannes nicht genug sind. Das Pressevorführungsprogramm nur der wichtigsten zwei Sektionen beginnt um 8:30 mit dem ersten Film und endet abends mit dem Start des letzten um 22:30. Dazwischen steht man immer wieder Schlange, hofft, es in den nächsten Film zu schaffen und überlegt, wie man am geschicktesten vorgehen soll. Die wichtigsten Regeln lauten hier: Iss und trink niemals im Kinosaal, fotografiere nicht ohne täglich ausgegebene Sonderlizenz die Stars auf dem roten Teppich und halte deine Flüssigkeitszufuhr gering – Toiletten sind selten, erfordern noch mehr Schlange stehen, und wer den Saal verlässt, der hat verloren.
Das Festival zu erkunden mit seinen Mengen an Pavillons, Räumlichkeiten und all dem feinen Volk drum herum ist im straffen Tagesprogramm sofort mit dem Verpassen von Filmen verbunden. Zwischendurch geht es immer wieder ins „Press Office“, den einzigen Raum, in dem Journalisten kostenlosen WLAN-Zugang haben.

Hier drängelt sich alles, die Macbook-Äpfel leuchten über den weißen Tischen und Stühlen und an der Wand werden die aktuellen Zeiten anderer Städte gezeigt. Amüsant ist hier die Auswahl: Paris, New York, Tokyo, Sydney, London, Mailand, wobei Mailand und Paris natürlich die gleiche Zeit haben. Am roten Teppich lässt sich derweil beobachten, dass viele Damen im Abendkleid mit Flipflops bis zur Absperrung trapsen (nicht jeder bekommt hier eine Limousine), um erst dort in die himmelhohen High Heels zu steigen, die Flipflops in der Handtasche zu versenken und formvollendet die berühmte Treppe hinaufzuschweben.

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Heute beginnt die wichtigste Reihe nach dem Wettbewerb, „Un Certain Regard“ unter dem Juryvorsitz von Tim Roth mit dem Film „Mystery“ des chinesischen Regisseurs Lou Ye, der vorher schon mit zwei Filmen in Cannes im Wettbewerb angetreten war und gerade fünf Jahre lang in seiner Heimat keine Filme mehr drehen durfte, weil sein letzter, „Summer Palace“, am Tiananmen-Platz spielte, was in China immer noch ein Tabu darstellt.
Die französische Co-Produktion „Mystery“ ist eher Drama als Krimi oder Thriller. Es handelt sich hier um eine Geschichte über Eifersucht, Betrug und um einen Unfall, der vielleicht ein Mord war. Schön gefilmt und geschnitten sowie stark gefühlsbetont, fühlt sich dieser Film sehr französisch an. „Mystery“ beginnt wunderbar mit einem Autorennen zwischen gelangweilten reichen Söhnen unterlegt mit „Freude schöner Götterfunken“ auf Chinesisch, dümpelt dann eine Stunde lang vor sich hin, während man überlegt, was jetzt eigentlich gerade der Schwerpunkt sein soll, legt dann aber intensive 40 Minuten nach, für die sich das Warten gelohnt hat. Trotzdem ist dies natürlich kein gefälliges Auftaktwerk wie Wes Andersons „Moonrise Kingdom“ gestern, es handelt sich um deutlich anstrengendere Kost.

Nachdem Umweltschützer mit Videos unter dem Titel „Les Dessous de Cannes“ auf die Umweltverschmutzung des Meeres durch das Festival aufmerksam gemacht hatten, wurde heute eine andere Form der Verschmutzung präsentiert: Fatih Akins zwischen 2007 und 2012 gefilmte Langzeitdokumentation „Müll im Garten Eden“ zeigt, wie der Bau einer Müllkippe direkt neben dem türkischen Dorf, aus dem die Familie von Akins Vater stammt, zum langsamen Verenden der Gemeinde führt und wie es den Behörden völlig egal ist, dass die Anwohner bald zwischen Gestank, Aasfressern und verseuchtem Trinkwasser leben müssen.

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In den letzten Jahren gab es sehr gut gemachte Dokumentationen über Müll, wie zum Beispiel Lucy Walkers brasilianisch-britische Produktion „Waste Land“ über die größte Müllkippe von Rio de Janeiro oder die deutsche Doku „Taste the Waste“ von Valentin Thurn, doch über Akins Film wird eher aufgrund seiner persönlichen Bekanntheit in Cannes (er gewann hier den Drehbuchpreis für „Auf der anderen Seite“) geschrieben werden als aus Gründen der Güte des vorgestellten Films. Dem Thema ist die mediale Aufmerksamkeit trotzdem zu gönnen, denn in der Türkei werden Bauarbeiten an staatlichen Projekten wie eben an dieser Müllkippe nicht einmal für laufende Gerichtsverfahren gestoppt.
In Camburnu im Nordosten der Türkei am Schwarzen Meer leben die Einwohner seit Generationen von Fischfang und ihren Teeplantagen. Doch die Region hat ein Müllproblem, Camburnu eine stillgelegte alte Mine über Tage und so wird das Problem kurzerhand auf dem Rücken der 2000 Einwohnern dieses Bergdorfs ausgetragen. Ihnen werden Tatsachen vorenthalten, der Bürgermeister wird vom Gericht gezwungen, eine Baugenehmigung zu erteilen, und so versinkt die Gemeinde bald in Gestank, Vögeln, wilden Hunden und verseuchten Wasserquellen nach jedem größeren Regen – in einer ohnehin regenreichen Region.


Fatihs Film ist zwar vom Ansatz her zu begrüßen, doch reich an publikumsunfreundlichen Längen und Szenen, die man hätte schneiden sollen, da sie keinen Mehrwert hinzufügen oder Tatsachen wiederholen, die man zu diesem Zeitpunkt schon mehrfach in dieser Dokumentation gesehen hat. Bei einer Länge von 98 Minuten  fragt man sich schon nach 60, was jetzt eigentlich noch kommen soll, da ja alles schon dreimal gesagt wurde. Nachdem es in der Vorführung am Anfang etwas chaotisch war, da so viele Journalisten sich in einen kleinen Saal drängten, verließen immer mehr von ihnen den Raum im Laufe des Films wieder. Symptomatisch.

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Einen deutlich wohlwollenderen Empfang des extrem cinephilen Publikums hingegen durfte der Dokumentarfilm von Robert Weide erwarten, befasst sich „Woody Allen – A Documentary“ doch mit einem der ganz großen Autorenfilmer. Leider plätschert der Film in seiner freundlich-positiven Art eher wie ein Promo-Making-of über den New Yorker Regisseur friedlich vor sich hin. Chronologisch vorgehend durften Weggefährten, Ex-Gefährtinnen und Woody selbst die schönsten Geschichten über Allens Leben und Filme erzählen, was stilistisch am Ende eine Art nette Sonntag-Abend-Doku ergibt, an der jedoch hauptsächlich die ganz alten Archivaufnahmen interessant sind, als Woody Allen auf der Stand-up-Bühne noch vollkommen überfordert und schüchtern war. 

Da auch die Dokumentation über das Leben von Roman Polanski von Laurent Bouzereau enttäuschend ausfiel, ist Cannes 2012 noch kein gutes Jahr für Dokumentationen. Hoffnung liegt jedoch noch auf Candida Bradys "Trashed" (produziert und erzählt von Jeremy Irons), der in einigen Tagen gezeigt werden wird.

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Mittwoch, 16. Mai: Das geht ja bunt los

Das Festival in Cannes ist riesig und seine Hierarchie somit sehr ausgefeilt: Es gibt diverse Festivalausweisfarben, über die jeder seinen Platz in der Hackordnung des Eintritts in die Pressevorführungen bekommt. Der erste Tag beginnt somit mit einer sehr langen Schlange, bei der die Chancen auf das Hineinkommen in den Eröffnungsfilm langsam schwinden. Doch dann lächelt der Mann mit dem Scanner und endlich ist man im Heiligtum und darf sich dem Eröffnungs-Farbrausch des „Moonrise Kingdom“ von Hipster-Held Wes Anderson hingeben. Und was für ein Farbrausch dies ist: Wer dachte, „Die Tiefseetaucher“ sei bunt und voller kleiner, absonderlicher Details aus vergangenen Jahrzehnten, der lernt in „Moonrise Kingdom“, wie viel bunter und detailreicher ein Anderson noch sein kann. Für die Fans des Meisters ist auch das neueste Werk ein köstliches Bonbon, doch wer mit Wes Andersons schrulligen Werken wenig anfangen kann, den wird „Moonrise Kingdom“ zu Tode langweilen.

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Wes Anderson erzählt die 1965 spielende Geschichte von einem 12-jährigen Liebespärchen, sie „schwieriges Kind“, er Pfadfinder und Waisenjunge, die gemeinsam auf einer kleinen Insel vor New England durchbrennen. In der Wildnis der Insel werden sie daraufhin von Behörden, Eltern und Pfadfindersippe gesucht.


Die Tableaus mit ihren Flecken an typischem Anderson-Orange-Rot-Gelb sind nicht nur durchweg hervorragend montiert, sondern auch die Bildausschnitte sind einfach wunderbar extrem und verspielt gewählt. Doch beeindruckend ist hier vor allem die Filmmusik des Meister-Filmmusikkomponisten Alexandre Desplat („The King’s Speech“), der dieses Jahr in Cannes auch eine Masterclass in Filmmusik halten wird. Desplat zieht alle Register und wildert in jedem musikalischen Klischee, das es eine wahre Freude ist. Vom Orchester bis zum Knabenchor wird alles verwendet, was die Bilder und ihre ironische Wirkung weiter intensivieren könnte. Ja, es ist eigentlich zu viel von allem in „Moonrise Kingdom“, aber das Gesamtbild in seiner possierlichen Reizüberflutung entwickelt trotzdem einen ganz eigenen Charme.

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Bruce Willis spielt den leicht beschränkten Cop der Insel, Bill Murray und Frances McDormand die Anwälte und Eltern des Mädchens, und Tilda Swinton, die personifizierten „Social Services“, die als genau diese verstanden werden will und sich im Film auch immer nur mit "Social Services" vorstellt. Brillant ist Edward Norton als überforderter Pfadfindergruppenleiter und auch Jason Schwartzman taucht in einer skurrilen Rolle kurz auf. Die herrlichste Figur stellt jedoch Bob Balaban dar, der in einem Gartenzwerg-Outfit den Erzähler stellt. Ebenso bezaubernd und überzeugend sind die Kinderschauspieler Jared Gilman (als bebrillter Überlebenskünstler in Trappermütze) und Kara Hayward, die im Film mit blauem Lidschatten und kurzem Kleidchen aussieht wie eine schräge Lolita-Fassung von Nancy Sinatra, die in einem Tarantino-Film mitspielen könnte.
Ihre Liebe stellt die ganze Insel auf den Kopf und der aufziehende Sturm vergrößert das Chaos noch weiter. Wer hier jedoch ernsthafte Auseinandersetzungen á la „Der Eissturm“ erwartet, wird enttäuscht, denn „Moonrise Kingdom“ ist eine süße kleine Liebesgeschichte mit Kindern, possierlich, schrullig und überaus detailreich, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Dass diesen Kindern die Dialoge neurotischer Erwachsener in den Mund gelegt werden, spiegelt hier auch augenzwinkernd ein wenig den Kult der ewig jung bleibenden Hipster-Generation wider.

Während die meisten Journalisten drinnen in den Pressevorführungen saßen, zog übrigens draußen Sacha Baron Cohen auf der Croisette alle Register, die Aufmerksamkeit der ausgesperrten Fotografen auf sich zu ziehen, und ritt mit einem Kamel die Festival-Promenade entlang, um seinen Film „Der Diktator“ zu promoten. Immerhin produzierte er damit amüsante Bilder für die dankbaren Fotografen. Den besseren Film hat trotzdem Wes Anderson gedreht.

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Dienstag, 15. Mai: Los geht's

Das Filmfestival in Cannes feiert 2012 seinen 65. Geburtstag und so pustet Marilyn Monroe auf dem diesjährigen, äußerst gelungenen Festivalplakat formvollendet die Kerze auf der Geburtstagstorte aus. Die Sexgöttin vergangener Tage ist allgegenwärtig auf dem Festival, die weiblichen Vertreter der Filmregie sind dies nicht – kein einziger Film einer Regisseurin wurde in den Wettbewerb aufgenommen und so hat Cannes schon vor Beginn seinen ersten Skandal: Drei bekannte französische Regisseurinnen, Coline Serreau, Virginie Despentes und Fanny Cottencon, veröffentlichten fünf Tage vor dem Festival in der Zeitung „Le Monde“ einen offenen Brief mit dem Titel: „A Cannes, les femmes montrent leur bobines, les hommes, leur films“ (Frauen zeigen in Cannes ihr Gesicht, Männer ihre Filme) und kritisierten den Auswahlprozess drastisch: „Das Festival von Cannes 2012 gibt Wes, Jacques, Leos, David, Lee, Andrew, Matteo, Michael, John, Hong, Im, Abbas, Ken, Sergei, Cristian, Yousry, Jeff, Alain, Carlos, Walter, Ulrich und Thomas die Chance, wieder einmal unter Beweis zu stellen, dass die Männer an den Frauen die Tiefe schätzen, aber nur jene des Décolletés“, heißt es in dem Brief. Nur einmal, im Jahr 1993, erhielt mit Jane Campion eine Regisseurin die höchste Auszeichnung des Festivals, das war es dann auch schon. Angesichts dieser Tatsache war es eine kleine Revolution, dass 2011 vier Frauen unter den zwanzig Nominierten des Wettbewerbs waren. 2012 sind jetzt plötzlich wieder keine mehr dabei.

Cannes 2012

Abgesehen vom Frauenmangel unter den Regieführenden zeichnet sich jetzt schon ab, dass 2012 in Cannes ein guter Jahrgang wird: Letztes Jahr überzeugten „The Tree of Life“, „Melancholia“, „Drive“ und „Once Upon a Time in Anatolia“, dieses Jahr gibt es zum Beispiel Jeff Nichols’ („Take Shelter“) Coming-of-Age-Film „Mud“, Filme von Jacques Audiard, Andrew Dominik („Die Ermordung des Jesse James“), den neuen Film namens „Liebe“ von Michael Haneke („Das weiße Band“), neues von Thomas Vinterberg („Das Fest“), John Hillcoat („The Road“), Lee Daniels („Precious“) und Ken Loach zu bestaunen. Außerdem sieht man endlich das neue Werk von David Cronenberg, „Cosmopolis“, dessen Sohn Brandon 2012 ebenfalls vor Ort ist und sein Regiedebüt „Antiviral“ in der Reihe „Un certain regard“ aufführen darf. Kein deutscher Film ist im Wettbewerb vertreten (mal wieder), doch wird Fatih Akins Langzeitdoku „Der Müll im Garten Eden“ als Sondervorstellung in Cannes gezeigt.

Cannes 2012

Überall putzt sich Cannes derzeitig heraus. Die letzten Fassaden werden mit einer neuen Schicht Farbe versehen, die Restaurantschilder erneuert und der Festivalpalast gleicht schon am Tag vor der Eröffnung einem Ameisenhaufen. Filmemacher aus den USA sitzen in Gruppen auf ihren Koffern, alles schreit und jeder versucht, jemanden zu finden, der im Gewusel verschwunden ist. Doch das Chaos hat System, denn am Ende schweben Filmemacher und Pressevertreter glücklich zusammen die Stufen zur Straße hinab. Die schwarzen Hochglanztaschen werden festgeklammert, der Akkreditierungs-Ausweis baumelt am Schlüsselband um den Hals und Vorfreude und Sonne röten schon die ersten Gesichter. Auf der Wand gegenüber des Festival-Palastes prangt derweil ein ironisches Coca-Cola-Plakat, auf dem Jury-Mitglied Jean-Paul Gaultier sich in die Kostüme seiner eigenen Parfümwerbungen kleidet.

Cannes 2012

Jury-Präsident ist der italienische Filmemacher und Produzent Nanni Moretti, unter den Juroren sind zum Beispiel Diane Kruger und Ewan McGregor. Eröffnet wird das Festival am Abend mit „Moonrise Kingdom“ von Wes Anderson („Die Tiefseetaucher“, „The Darjeeling Limited“). Auf dem roten Teppich sieht man zuvor die darin mitspielenden Tilda Swinton, Edward Norton und Bruce Willis. Und ab dann geht es in Cannes wieder so richtig rund: Bis Pfingstsonntag reicht das Festival, in dem 22 Spielfilme im Wettbewerb um die Goldene Palme konkurrieren. Auf eineinhalb hoffentlich unvergessliche Wochen in Südfrankreich!


Ich freue mich drauf die Kommentare von Cannes zu lesen...!
Mal eine unabhängige Stimme.
Viel Glück und Erfolg.

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Neben den Berichten zu den Filmen bitte unbedingt auch die Beschreibungen zum ganzen festivalgeschehen drumherum beibehalten, das finde ich sehr interessant.

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