American Factory

Originaltitel
American Factory
Land
Jahr
2019
Laufzeit
110 min
Release Date
Streaming
Bewertung
9
9/10
von Frank-Michael Helmke / 11. März 2020

Die Obamas machen jetzt Filme. Sie stehen zwar nicht selbst hinter der Kamera, doch mit Higher Ground Productions haben Barack und Michelle Obama nach ihrem Auszug aus dem Weißen Haus eine Produktionsfirma gegründet, die einen recht vielversprechenden Start hingelegt hat. Denn ihr erstes Projekt, der Dokumentarfilm "American Factory", hat direkt mal den Oscar als Beste Dokumentation gewonnen - und das durchaus zurecht. 

Die titelgebende Fabrik, um die sich dieser Film dreht, steht in Dayton im US-Bundesstaat Ohio. Mitte der 2010er Jahre ist Dayton einer von zahllosen Orten, die hart vom Niedergang der amerikanischen Autoindustrie getroffen werden, denn die dortige Fabrik von General Motors wird geschlossen und die Stadt verliert auf einen Schlag mehrere tausend Arbeitsplätze. Doch schon bald darauf scheint Rettung zu nahen, denn die Fabrik wird übernommen und wiedereröffnet durch den chinesischen Autozulieferer Fuyao, Weltmarktführer für Autofenster und Windschutzscheiben, der in Dayton seinen ersten Standort auf amerikanischem Boden eröffnet. Die ursprüngliche Euphorie und die Hoffnung auf einen neuen Aufschwung für Dayton werden jedoch schon bald eingetrübt durch die Arbeitswirklichkeit in der Fuyao-Fabrik und das schwierige Miteinander zwischen Chefs und Vorarbeitern aus China und der einfachen amerikanischen Arbeiterschaft. 

Wäre "American Factory" ein Spielfilm, er wäre eine ziemlich perfekte "Culture Clash"-Komödie, und viele Teile dieser Dokumentation nehmen sich ganz ähnlich aus. Das oft verständnislose, oft bass erstaunte Aufeinanderprallen der zwei verschiedenen Kulturen hier ist immer wieder für Lacher gut, wenn zum Beispiel ein chinesischer Vorarbeiter den Grund fürs langsame Arbeitstempo der Amerikaner in ihren fetten Fingern ausmacht, oder ein anderer Vorgesetzter in einer Diskussion über den richtigen Umgang mit der aufmüpfigen Arbeiterschaft ein chinesisches Sprichwort zitiert und die Belegschaft dadurch mit störrischen Eseln gleichsetzt. Nicht weniger amüsant sind die staunenden Gesichter der Amerikaner, als eine Delegation von ihnen den Stammsitz von Fuyao in China besuchen darf und sie live erleben, mit welch Tempo und Effizienz ihre dortigen Kollegen ihre Arbeit absolvieren. 

Unter all diesen unterhaltsamen Momentaufnahmen liegt jedoch der bittere Ernst des eigentlichen Themas von "American Factory", denn was hier beispiel- und meisterhaft vor Augen geführt wird, ist das Scheitern der alteingesessenen Arbeiterklasse westlicher Nationen an den knallharten Bedingungen und Ansprüchen der globalisierten Wirtschaft. Was der Gründer und Chef von Fuyao, Cao Dewang (im Film eingeführt mit einem fabelhaft eigensinnigen "Der Chef bin ich und mein Wort ist Gesetz"-Auftritt, den ein Drehbuchautor sich kaum besser hätte ausdenken können), an seinem neuen Standort erwartet, ist die gleiche Effizienz und Produktivität wie daheim in China - was jedoch mit der Mentalität der Amerikaner quasi unmöglich zu erreichen ist.

"Sie sind nur hier, um Geld zu machen, nicht um Glas zu machen", beklagt sich einer der chinesischen Vorarbeiter einmal über seine amerikanischen Untergebenen, und bringt den unternehmensinternen "Culture Clash" damit perfekt auf den Punkt. Denn für die Amerikaner geht es eigentlich nur darum, überhaupt irgendeinen Job zu haben - auch wenn es für weniger als die Hälfte des Stundenlohnes ist, den viele von ihnen früher am selben Standort bei General Motors verdient haben. Stolz auf das eigene Produkt und intrinsische Motivation, gute Arbeit zu leisten, versuchen die Chinesen bei ihren neuen Angestellten vergeblich zu wecken.

Warum sie das so sehr irritiert, veranschaulicht wiederum die Reise zum Stammsitz in China, bei der man als Zuschauer unter anderem Zeuge einer großen Unternehmensfeier wird, die für westliche Augen mehr als skurril anmutet. In zahlreichen, aufwendig inszenierten Sing- und Tanznummern wird hier dem Unternehmen, dem eigenen Produkt und dem Segen einer effizienten Produktion gehuldigt. Es sind die Mittel der politischen Indoktrination, mit denen man im kommunistischen China die Bevölkerung jahrzehntelang auf Systemtreue gedrillt hat. Die gleiche Methodik kommt nun zum Einsatz, um die Arbeiterschaft in der auf Turbo-Kapitalismus umgeschalteten Wirtschaft gefolgsam und fleißig zu halten. Kein Wunder, dass die Amerikaner nur staunen können, mit welcher Disziplin und Freude ihre chinesischen Kollegen an die Arbeit gehen. 

Daheim in den USA verzweifelt die chinesische Führung indes daran, wie unzufrieden und - in ihren Augen - arbeitsfaul die Amerikaner sind. Wie viel Wert hier auf eine 40-Stunden-Woche mit nicht mehr als fünf Arbeitstagen oder so etwas wie Sicherheit am Arbeitsplatz gelegt wird, ist für die Chinesen völlig unverständlich, die fast schon mit Stolz die Narben vorzeigen, die sie sich selbst am Arbeitsplatz eingehandelt haben. Bei den Amerikanern wächst der Unmut indes immer mehr, und so spitzt sich "American Factory" auf einen Showdown zu, als die aufmüpfigen Mitglieder der Arbeiterschaft versuchen, sich durch den Anschluss der Fabrik an eine Gewerkschaft zu wehren, und die Unternehmensführung mit allen Mitteln zu verhindern versucht, dass die Belegschaft in einer Urabstimmung sich tatsächlich mehrheitlich dafür entscheidet. 

"American Factory" ist eine enorm stark inszenierte Dokumentation, die ihrem Publikum ohne jeden Off-Kommentar jederzeit genug Orientierung bietet um zu begreifen, was vor sich geht, und immer wieder starke Bilder findet, die viel mehr sagen als langwierige Erklärungen. Was den Film aber vor allem so herausragend macht, ist seine Allgemeingültigkeit. Man kann "American Factory" sehr spezifisch lesen als ein Dokument über den schleichenden Tod der Industrienation USA und das längst überholte Selbstverständnis eines Landes, das bis heute aus der Illusion genährt wird, dass jeder die Chance hat, mit harter Arbeit seinen eigenen Traum zu erreichen. Oder man liest ihn sehr allgemein als eine Betrachtung über den unaufhaltsamen Niedergang und die Umwälzungen der Arbeitswelt überall auf dem Globus, auch bei uns. So temporeich, kurzweilig und unterhaltsam "American Factory" auch ist - letztendlich lässt er einen sehr nachdenklich mit der Frage zurück, was all die Entwicklungen, die er anreißt, mit unserer Welt noch machen werden.   

Bilder: Copyright

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