Der Stadtneurotiker

Originaltitel
Annie Hall
Land
Jahr
1977
Laufzeit
93 min
Genre
Regie
Bewertung
von Frank-Michael Helmke / 20. Juni 2010

In seinem wundervollen, weisen und brillant beobachteten Buch "Paris to the Moon" bündelte der amerikanische Journalist Adam Gopnik seine gesammelten Beiträge für das New Yorker Magazine während seines fünfjährigen Aufenthalts als Quasi-Korrespondent in der französischen Hauptstadt Mitte bis Ende der 90er Jahre, und in der Einleitung wirft der Autor die Frage auf, was ihn als Essayisten denn von einem Journalisten (der glaubt, dass sich alle Geschichte auf Erfahrungen reduzieren lässt) und einem Gelehrten (der glaubt, dass sich alle Erfahrungen auf Geschichte reduzieren lassen) unterscheidet. Schlicht und einfach: Der Glaube, dass sich alle Erfahrungen und Geschichte auf ihn reduzieren lassen.
Mit augenzwinkerndem Humor kommentiert Gopnik hier seine - wenn man grundehrlich ist - selbstfixierte Position als Kommentator seiner Umwelt, und wie bei jedem guten Zeitgeist-Autoren ist es Gopniks beeindruckende Fähigkeit, bedeutsame Beobachtungen in den kleinsten Alltagsdingen zu finden, die ihn über den gewöhnlichen Schlauschwätzer von nebenan hinwegheben und sein Buch zu einem wahrhaft erleuchtenden Erlebnis machen.

Was hat das alles nun mit Woody Allen und seinem weithin gefeierten und mehrfach Oscar-gekrönten Meisterwerk "Der Stadtneurotiker" zu tun? Ganz einfach: Auch Woody Allen ist mehr ein Essayist als ein Geschichten- (oder Geschichte-)Erzähler, auch er beschreibt in unnachahmlicher, abgrundtief selbstfixierter Weise die Welt wie er und er allein sie erlebt - und erzeugt dadurch trotzdem wundervolle Momente universeller Wahrheit. "Der Stadtneurotiker" ist - bei all seiner Sperrigkeit aus heutiger Perspektive - ein essentielles Zeugnis seiner Zeit und seines Zeitgeistes, ganz besonders des Geistes von New York.
Viele Filmemacher identifiziert man mit der Stadt, die niemals schläft, von Martin Scorsese bis Spike Lee, aber keiner hat ihre romantische, widersprüchliche Seele so lebhaft auf Zelluloid gebannt wie der unscheinbare Rotschopf mit Brille. Woody Allen prägte mit "Der Stadtneurotiker" und seinem Nachfolger "Manhattan" jenes leicht verträumt-romantische Bild von New York, das sich bis heute in jeder hier situierten RomCom wiederfindet. Besonders deutlich ist das im Vergleich mit einem der herausragenden Ahnen des "Stadtneurotiker", dem ebenfalls in unserer Gold-Rubrik vertretenen "Harry & Sally": Bewusst werden dort Story-, Setting- und Szenenmotive aus Allens Film zitiert, eine elegante Verbeugung vor dem ewigen Meister des New York-Films.

Trotz dieser sich bis heute fortsetzenden Spuren gilt auch für "Der Stadtneurotiker" wie für so viele Klassiker der Filmgeschichte, dass er aus heutiger Perspektive etwas befremdlich wirkt, vor allem wenn man hört, dass dies eine der beliebtesten Komödien der 70er Jahre war und sich dementsprechend - durch heutige Kalauer-Bomber auf heftiges Schenkelklopfen eingestellt - auf viel Gelächter freut. Doch auch wenn das schwer vorstellbar ist: Mitte der 70er Jahre, als die USA gerade den Regisseur als Künstler entdeckten, war selbst das große Hollywood-Kino sehr intellektuell veranlagt, und so spiegelt auch die anspruchsvolle 70er-Komödie "Der Stadtneurotiker" diese Stimmung wieder mit einem tragisch-ironischen Sinn für Realismus und einer sehr selbstreflexiven Machart. Bestes Beispiel sind Allens kleine Referenzen an Ingmar Bergman, dessen schwermütiges, symbolüberfrachtetes Kino für alles steht, was das verkopfte Image von Feuilleton-Filmen ausmacht.

Dass Allen, ganz der selbstfixierte Essayist, vor allem daran interessiert ist, seine An- und Einsichten unters Volk zu bringen, anstatt eine kohärente Geschichte zu erzählen, wird schon in der ersten Einstellung klar, in der er das Publikum in seiner Rolle als Alvy Singer direkt anspricht und es über die soeben zu Ende gegangene Beziehung zu seiner Freundin Annie Hall (gespielt von Diane Keaton und der Originaltitel des Films) aufklärt. Im weiteren Verlauf der Handlung, die sich stur wie ein Bock gegen Linearität wehrt und Alvys und Annies Beziehung in mehreren Vor- und Rückblenden nacherzählt, wendet sich der Protagonist immer wieder in ähnlicher Form ans Publikum und kommentiert seine Umgebung und die momentane Situation. Wie dünn dabei die Grenze zwischen Rolle und Darsteller/Regisseur ist, zeigt sich schon allein an Alvys Hintergrund: In Brooklyn großgeworden als Sohn einer jüdischen Immigranten-Familie in der zweiten Generation, als Kind immer ein Sonderling, als Erwachsener dann ein erfolgreicher Komiker mit trockenem Biss und einer Performance, die einem irgendwie den Eindruck vermittelt, er würde sich die ganze Zeit unwohl und nervös fühlen. Kurz und gut: Ein genaues Abbild des echten Woody Allen.
Obwohl die Geschichte von Alvy und Annie somit also "nur" das Gerüst ist, an dem Allen seine Reflexionen über Leben, Liebe, Tod, New York und Klugscheißer hinter einem in der Kinoschlange aufhängt, gelingt hier trotzdem eine der ehrlichsten Kino-Darstellungen über das Wirrwarr einer Beziehung, von ihren Ursprüngen bis zu ihrem Ende. Mit entwaffnender Unverblümtheit zeigt Allen die Trottel, die wir ständig aus uns selbst machen wenn wir jemandem begegnen, den oder die wir interessant finden, die Tolpatschigkeit der gewollt ungezwungenen Unterhaltungen, und in einer köstlichen Sequenz auch die Gedanken, die wir während dem oberflächlichen Geplänkel tatsächlich haben. Wer romantische Komödien gerne verklärt, verträumt und überzeichnet mag, ist hier an der falschen Adresse, denn Traumprinzen weigern sich nicht, ein Kino zu betreten, wenn der Film schon begonnen hat, und Traumprinzessinnen brauchen keinen Joint, damit sie überhaupt Sex haben können. Aber wer bei Filmen den realistischen Touch mag, die vielen kleinen, ja auch peinlichen Momente, in denen man sich selbst wiederfinden kann - der wird bei Woody Allens eigenwilligem Geniestreich oft verständnisvoll lächeln können.

Woody Allen ist eine der markantesten, weil eigenwilligsten Gestalten des (nach wie vor) intellektuellen Kinos. Seine größte Zeit hatte er in den 70ern, weil seine Filme damals perfekt in das allgemeine kulturelle Klima passten, und bezeichnenderweise kam er im späteren Verlauf seiner Karriere öfter mal leicht ins Stolpern auf dem dünnen Grat zwischen Brillanz und der narzisstischen Selbstfixierung, die jedem Zeitgeist-Kommentator eigen ist. Und so gilt "Der Stadtneurotiker" wohl berechtigterweise als Allens Meisterstück, das nachhaltigste Werk eines typischen Essayisten, dessen Erzählungen immer mehr Beobachtungen als Geschichten sind, und der in seinen besten Momenten tatsächlich Erfahrung und Geschichte seiner Ära auf sich allein reduzieren kann.


10
10/10

"Annie Hall" ein absoluter Klassiker, der 70er jahre woody allen film ist ein genre für sich. Grandios!!!

P.S: ich bitte euch wirklich um mehr Gold Rezensionen, das sind die besten Rezensionen die ich im I-Net finden kann zu derartigen Klassikern...:!!!!!

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Was für ein Meisterwerk: Vor dem eigentlich tragischen Hintergrund des midlifecrises- geplagten Alvy Singer, der über seine unglücklichen Liebschaften und das Leben an sich philosophiert, sinniert und seine Verzweiflung mit Sarkasmus kaschiert, spielen sich in nichtchronologischen Rückblenden Stationen aus dem Leben des Komikers ab, sprühend vor Gags, urkomischen Einfällen und überraschenden Ideen.Wie eine Nummernrevue könnten viele der einzelnen Szenen auch als "Sketch für sich" bestehen. Weil ich aus dem Lachen beim erstmaligen Sehen nicht mehr herauskam, mußte ich mir den Film noch zwei weitere Male anschauen, um alles mitzukriegen.Wie so viele habe ich mich oft mit meinen eigenen Verhaltensweisen und Charakterzügen wiedererkannt, Kritiker und Publikum waren sich wie nur selten einig in ihrer Begeisterung für einen Film, der mit seinen Experimenten, Dialogen und seinem intellektuellen Hintergrund die Filmkomödie erneuerte und offensichtlich für Millionen ein bestimmtes Lebensgefühl widerspiegelte.

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