Huch, was ist denn das für ein Kinojahr? Potentielle Blockbuster wie "Die Insel" bleiben einsame Eilande, während eine kleine Tierdokumentation ganze Kontinente erobert. "Die Reise der Pinguine" ist wohl die Überraschung des Jahres: Ein Film über Kaiserpinguine in der Antarktis, der wenig überraschend Pinguine und die Antarktis zeigt - und sich in den USA dennoch zum Überraschungshit und zur zweiterfolgreichsten Dokumentation aller Zeiten (überflügelt nur von Michael Moores "Fahrenheit 9/11") mauserte. Was vielleicht auch daran liegen mag, dass der Film von verschiedenen Gruppen je nach Gusto ideologisch interpretiert und so mit mehr Sichtweisen versehen wird, als man sich zunächst vorstellen kann.
Es ist März: Die Kaiserpinguine springen aus dem Meer
an Land,
versammeln sich zu Kolonnen und beginnen ihre Wanderung
ins Landesinnere
der Antarktis, diesem unwirtlichsten aller Kontinente. Im
April
erreichen sie nach mühsamer, watschelnder Wanderschaft ihr
Ziel: das Archipel von Pointe Géologie. Dort beginnt die
Partnersuche. Sie schreien und schnarren und finden
schließlich
ein Gegenüber, dem sie schweigend gegenüberstehen, bis
das Liebesspiel beginnt. Ende Mai legt das Weibchen
stehend ein
Ei, welches es sofort auf den Füßen balanciert und in
seine Bauchfalte nimmt. Wenige Sekunden auf dem Eis und
das Ei wäre
gefroren, die Fortpflanzung für dieses Jahr gescheitert.
Am
Tag danach kommt die technisch schwierigste Aufgabe: Das
Ei muss
vom Weibchen zum Ausbrüten ans Männchen gegeben werden,
wiederum mit nur minimalem Kontakt zum ewigen Eis. Die
Mutter ist
so entkräftet, dass sie zum Meer muss, um sich dort satt
zu
fressen und später wiederzukommen, um das Küken zu
füttern.
Die
Männchen müssen noch weitere zwei Monate ausharren, bis
sie endlich zum Fressen ans Meer können. Der Winter in der
Antarktis kommt, die Tage werden kürzer, dann wird es
gänzlich
Nacht um die Tiere herum. Eisige Stürme von bis zu 250
km/h
toben über das Land.
Die Weibchen fressen unterdessen. Manche von ihnen werden
von Seeleoparden
gerissen, was gleichzeitig das Aus für ihre Küken
bedeutet,
die nun nicht mehr gefüttert werden können. Nach ihrer
Rückkehr zur Kolonie (wieder etwa 200 Kilometer) füttern
die Mütter erst einmal ihre frisch geschlüpften Küken,
und nun endlich dürfen die Männer zum Fressen ans Meer
zurück. Sie werden sich so lange abwechseln, bis der
Nachwuchs
groß genug ist, um sich selbst zu ernähren und ans Meer
zu kommen. So geht es jahrein jahraus; jeden März beginnt
der
Marsch der Pinguine aufs Neue.
Die religiöse Rechte in den USA (die ihre Anhänger
zuletzt
für "Die Passion Christi" mobilisierte) sieht in
diesem Tierfilm Parallelen zum Auszug Moses aus Ägypten;
den
Beweis, dass die Natur von Gott gelenkt wird; und auch
noch die
moralische Darstellung von Monogamie und korrekter
Kindererziehung.
Dies mutet etwas amüsant an, da dieselbe Gruppierung sich
gleichzeitig
über die Darstellung von - man glaube es kaum - Pinguinsex
beschwert. Dummerweise wird schon am Anfang des Films klar
gestellt,
dass die Pinguine sich nur für ein Jahr als Pärchen
zusammentun,
was sogar noch kürzer als die durchschnittliche
amerikanische
Ehe sein dürfte. Die Pinguine, die nicht rechtzeitig von
ihrem
Partner
in der Brutpflege abgelöst werden, lassen das Küken
einfach
sterben, um sich selbst zu retten - soviel zur hingebenden
Elternschaft.
In Singapur hingegen propagieren Feministinnen den Film
als Paradebeispiel
für allein erziehende Eltern. Auch diese Interpretation
scheint
ein wenig gewagt.
Dass der Film auf diese Weise "vermenschlicht" wird, lässt
sich allerdings auch auf den einzigen großen Fehler des
Regisseurs:
Luc Jacquet zurückführen, der seine Pinguin-Bilder von
Mama, Papa und Küken mit von menschlichen Erzählern
gesprochenen
Dialogen unterlegt, was bei Zuschauern mit geringer
Kitschtoleranz
ganz und gar nicht gut ankommen wird. Den Ausdruck "in
unserer
Oase der Liebe" kann man irgendwann einfach nicht mehr
hören.
In der englischsprachigen Version hätte man wenigstens
Morgan
Freeman ("Million Dollar Baby",
"Die Verurteilten") als Erzähler erlebt, bei dem
auch der größte Schmonsens nicht mehr gar so schmalzig
klingt. Auf Deutsch gibt's dagegen nur Thorsten Michaelis
(Hauptmann
Stummel aus "NVA",
Synchronsprecher
für Wesley Snipes), der sich vermutlich auch fragte, was
er
da erzählen muss.
Was dafür fehlt (für eine ordentliche Dokumentation),
sind notwendige und wichtige Hintergrundinformationen über
den Kaiserpinguin, seine Feinde und seinen Lebensraum.
Denn die
Pinguine nehmen nicht ohne Grund die Strapazen der
Wanderung ins
Landesinnere auf sich, sondern können nur auf diese Weise
überleben,
weil ihnen die Nachkommenschaft sonst wegstirbt, sobald in
den Küstenregionen
die Eisschmelze einsetzt und der Grund unter ihren Füßchen
verschwindet. Gleichzeitig werden in "Die Reise der
Pinguine"
die Raubvögel, die possierliche Küken fressen wollen,
nur als "Monster" bezeichnet, während der Zuschauer
gern wüsste, was für einen seltsamen Vogel er auf einmal
vor sich hat. Ebenso gehen zwar Homepage und Presseheft
zum Film
auf die Klimaerwärmung und ihre Auswirkung auf die
Pinguine
ein, der Film jedoch leider nicht.
Der Elektro-Soundtrack der französischen Sängerin Emilie
Simon ist Geschmackssache. Auf jeden Fall gibt sie dem
Werk eine
recht moderne Note, die sich von der Klassik-Untermalung
manch anderer
Tierdokumentationen abhebt. Doch passte bei "Nomaden der
Lüfte"
die Musik noch besser zu den Bildern und wurde zudem
häufiger
eingesetzt.
Bei soviel Kritik ist die Frage gerechtfertigt, warum der Film dennoch so eine hohe Wertung erreicht. Da sind zum einen die Bilder, die meisterhaft gedreht und ausgezeichnet montiert sind. Hier kann man in berückend schönen Einstellungen schwelgen, die nicht langweilen, obwohl man über eine Stunde lang nur Pinguine in der Antarktis sieht. Auch die Unterwasseraufnahmen zeigen die Kunstfertigkeit der Kameramänner. Man muss zusätzlich bedenken, dass hier eine Filmtruppe ein Jahr im Eis der Antarktis ausharrte und auf dem Bauch liegend bei lebensfeindlichen Temperaturen und beißendem Wind einen Haufen Pinguine filmte. Erfrierungen traten auf, die Filmausrüstung kam an ihre Grenzen und die Gruppe konnte nur filmen und filmen, ohne die Möglichkeit, sich das bisherige Material anzusehen und zu wissen, ob es gut ist. Diese Grenzerfahrung hat sich jedoch gelohnt, da dieses Gefühl des Überlebens in Kälte, Dunkelheit und Eis, welches für die Pinguine selbstverständlich ist, sich in den Aufnahmen auch dem menschlichen Publikum offenbart und beinahe physisch fühlbar wird.
So ist "Die Reise der Pinguine" ein Film über das Überleben dort, wo Überleben eigentlich nicht möglich ist. Nach dem Filmbesuch wird man sich jedenfalls der kuscheligen Wärme im eigenen Wohnzimmer noch bewusster sein als sonst. Wer Interesse an mehr Hintergrundinformationen zu den Kaiserpinguinen hat, dem sei das reich bebilderte gleichnamige Buch zum Film empfohlen, beziehungsweise der Besuch der Homepage www.DieReisederPinguine.de. Denn schließlich soll nicht vergessen werden, dass es sich hier um einen Film über Pinguine handelt - nicht mehr, aber auch nicht weniger. Was die religiöse Deutung des Films betrifft, so sagte Regisseur Luc Jacquet selbst dazu in einem Interview, dass sie ungefähr so sinnvoll ist, als wenn man "Superman" auf Verteidigungsstrategien analysieren würde.
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