Ein neuer „Daredevil“ und mehr: Das Marvel-Universum von Netflix

von Volker Robrahn / 28. April 2015

Es gibt wohl kaum ein vielversprechenderes Feld um neue Kunden anzulocken: Der seit einigen Monaten nun auch in Deutschland aktive Video Online-Streamingdienst „Netflix“ beteiligt sich an der Erweiterung des „Marvel Cinematic Universe“ in Form von gleich fünf Serien rund um die Helden aus der Comicschmiede. Das ist in mehrfacher Hinsicht ein ziemlich cleverer Schachzug um im Wettbewerb mit der Konkurrenz von Amazon, Watchever und Maxdome an Boden zu gewinnen. Denn es gibt zurzeit wohl kaum eine „heißere“ Marke als alles rund um die Superhelden-Figuren von Marvel Comics, deren diverse Kinoadaptionen in Form der Avengers-, X-Men- oder Spider-Man-Spielfilme weltweit für gewaltige Umsätze sorgen und dabei bereits ein gutes Dutzend Starttermine der kommenden Jahre für jegliche Konkurrenz praktisch blockiert haben.

Daredevil

Da sich die Streamingdienste hinsichtlich ihres Film- und Serienangebots sowie der Preisstruktur oft nur in Nuancen unterscheiden sind es vor allem die mit einigem Aufwand selbstproduzierten hauseigenen und somit exklusiven Serien, über die sich die einzelnen Anbieter in erster Linie definieren. So war der Name Netflix schon vor dem Start in Deutschland auch deshalb hierzulande schon bekannt, weil man mit „House of Cards“ die erste Eigenproduktion eines Streamingportals überhaupt in Auftrag gegeben und damit nicht nur in der eigenen Branche gewaltiges Aufsehen erregt hatte. Da die deutschen Erstausstrahlungsrechte zur Reihe um die Intrigen des von Kevin Spacey brillant verkörperten Frank Underwood aber nach wie vor beim Pay-TV- Sender „Sky“ liegen, bedarf es anderer Zugpferde, und da kommt der Deal mit Marvel nun gerade recht, auch wenn der natürlich in seiner Bedeutung weit über die deutschen Grenzen hinaus reicht. Denn durch das Konzept mehrerer aufeinander aufbauender Serien bindet man den Kunden schließlich gleich dauerhaft, im Idealfall mehrere Jahre ans Portal.

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Ob dieser Plan aufgeht hängt aber selbstverständlich von der Qualität der einzelnen Reihen ab. Aufgrund der aktuellen Rechtelage geht es dabei gar nicht anders als sich für die geplanten Serien bei Marvel-Figuren aus der zweiten Reihe zu bedienen (die "Promis" des Comic-Universums sind schließlich durch die Kino-Adaptionen blockiert), die teilweise wirklich nur ausgesprochenen Comic-Kennern bekannt sein dürften. So bestritten Iron Fist und Luke Cage einst in den 70er Jahren gemeinsam eine Heftreihe. Der Kampfsportler Danny „Iron Fist“ Rand war dabei eine Art Reaktion auf die damals gerade grassierende Kung Fu-Welle, die sich in Form der gleichnamigen TV-Reihe mit David Carradine oder dem Welthit „Kung Fu Fighting“ von Carl Douglas manifestierte. Das (damals) revolutionäre Alleinstellungsmerkmal von Luke Cage war dagegen die Tatsache, dass der sich als eine Art „Hero for Hire“ für seine Hilfe bezahlen ließ. Neueren Ursprungs und wohl auch am bisher unbekanntesten ist jedoch Jessica Jones, die  2001 in der Comicreihe „Alias“ als Privatdekektivin mit besonderen Fähigkeiten debütierte und später dann mit Luke Cage eine ganz andere Art der Zusammenarbeit einging – in Form der Ehe.

Allen Figuren gemein ist, dass diese nicht mit extrem starken Superkräften ausgestattet sind, sondern es sich um noch relativ „normale“ Menschen handelt, die sich in der Regel mehr mit Kriminellen und Gangsterbossen auseinandersetzen müssen als mit übermächtigen Welteroberern. Dies gilt auch für „Daredevil“, den zweifelsohne prominentesten Namen der vier Netflix-Helden, der sich bekanntlich vor einer guten Dekade auch bereits im Kino versuchen durfte, dabei in der Verkörperung durch den zukünftigen „Batman“ Ben Affleck jedoch nur eine überschaubare Zahl von Anhängern überzeugen konnte. Mit Daredevil startet nun auch zunächst die Netflix-Offensive, bei der der feste Plan besteht die vier genannten Figuren dann im Anschluss an ihre Soloserien für die gemeinsame Reihe „The Defenders“ zusammenzuführen. Ganz nach Avengers-Machart also, auch wenn die ursprünglichen Comic-Defenders doch eine etwas andere Zusammensetzung hatten (denn die bestanden aus Doctor Strange, Prince Namor, Hulk und dem Silver Surfer). Theoretisch befinden wir uns dabei auch im gleichen „Cinematic Universe“, so dass spätere Crossover-Begegnungen mit den „Rächern“ durchaus denkbar und möglich sind.

Daredevil

Die erste Staffel von „Daredevil“ weist zwar das aus der Comic-Vorlage und auch dem Kinofilm bekannte Figurenensemble auf, tendiert aber deutlich stärker in Richtung grimmiges Crime-Drama. Es ist die Welt der heruntergekommenen Straßen des New Yorker Stadtteils Hell´s Kitchen, in der einfache Leute ums Überleben und diverse Verbrecher um die Vorherrschaft kämpfen. Die jungen und ehrgeizigen Anwälte Matt Murdock (Chris Cox) und Foggy Nelson (Elden Henson) eröffnen ihre erste eigene Kanzlei, müssen jedoch schnell erkennen, dass es nicht einfach ist dabei stets aufrecht und anständig zu bleiben. Ihr erster Fall beschert ihnen dabei auch gleich noch eine neue Mitarbeiterin in Person von Karen Page (Deborah Ann Woll), aber auch die Erkenntnis, dass sich im Hintergrund ein gut vernetztes Syndikat anschickt, die Kontrolle über das Viertel zu übernehmen. Es ist der Geschäftsmann Wilson Fisk (Vincent’Onofrio), der große Pläne hat und der zu drastischen Maßnahmen bereit ist um diese umzusetzen. Er weiß jedoch nicht, dass ihm in Matt Murdock ein ebenbürtiger Gegner gegenübersteht, denn seit einem Unfall in seiner Kindheit ist Matt zwar blind, aber auch mit übersinnlichen Fähigkeiten in Form besonders ausgeprägter Sinne ausgestattet. Und die setzt er schließlich auch ein um als „Daredevil“ diejenigen Verbrecher zur Rechenschaft zu ziehen, die der Bestrafung durch das Gesetz bisher entgangen sind.

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Was diesen „Daredevil“ von den bombastischen Marvel-Kinofilmen unterscheidet ist ganz klar die stärkere Verankerung in der Alltagswelt der wenig glitzernden Hinterhöfe von New York. Damit einher gehen eine rauere Atmosphäre und ein grobkörnigerer, bodenständiger Look, der sich um so viel Realismus bemüht, wie dieser halt in einer mit Superhelden ausgestatteten Welt möglich ist. Die Kriminalfälle der einzelnen Episoden erweisen sich dabei im Vergleich als weniger interessant als die sich langsam aufbauende große Hintergrundgeschichte. Fast jede Folge enthält dabei harte, aufwändig choreographierte Straßenkampfszenen von ungewöhnlicher Länge. Es dauert, bis die Titelfigur hier ihr Kostüm erhält und man lässt sich auch viel Zeit bis zum Aufeinandertreffen der beiden Antagonisten. Während sich Charlie Cox dabei als eine passende Besetzung für die Hauptrolle entpuppt, der die unterschiedlichen Facetten seines Charakters – locker und charmant bei Tag und grimmig entschlossen bei Nacht – überzeugend rüberbringt, ist es aber Vincent D’Onofrio, der ihn hier letztlich etwas die Show stiehlt. Der sonst gerne als typische Nebenfigur, als liebenswerter, knuffiger Bruder oder bester Kumpel besetzte Schauspieler darf hier mal zeigen, was sonst noch so in ihm steckt, und beherrscht als charismatischer, getriebener und keineswegs eindimensionaler „Bösewicht“ Wilson Fisk jede Szene in der er zu sehen ist.

Die konsequente Ausnutzung der Möglichkeiten einer am Stück präsentierten und von einer "gewöhnlichen" TV-Auswertung unabhängigen Serienproduktion ist es aber, die „Daredevil“ hauptsächlich von denjenigen Serien unterscheidet, die ihr Publikum von der ersten Folge an jedes Mal aufs Neue zum Einschalten und Dranbleiben bewegen müssen. Wo würde man es sonst wagen, eine Episode mit einem mehrminütigen Beicht-Monolog in der Kirche zu beginnen? Es ist dieses bewusste „sich Zeit nehmen“, das der Serie gut tut und die dreizehnteilige erste Staffel von „Daredevil“ zu einem recht großen Vergnügen macht.

Kurz bevor die erste Marvel-Serie von Netflix der Kundschaft zugänglich gemacht wurde, konnte Filmszene ein Exklusiv-Interview mit Hauptdarsteller Charlie Cox führen. Zu diesem Zeitpunkt war noch unklar, ob es denn eine zweite Staffel von „Daredevil“ geben würde, mittlerweile ist die positive Entscheidung aber bereits verkündet worden.

Interview mit „Daredevil“-Hauptdarsteller Charlie Cox:

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Filmszene: Charlie, es ist ein paar Jahre her, dass man Dich als Helden in „Der Sternwanderer“ gesehen hat. Jetzt bist Du sogar ein Superheld und das in einer Serie. Kann man sagen, dass „Daredevil“ das bisher größte und wichtigste Projekt für Dich ist?

Charlie Cox: Ja, denn die Serie wird erstens sehr viele Leute erreichen und ist außerdem auch für Netflix von einiger Bedeutung, denn es handelt sich ja um den Auftakt zu einer ganzen Reihe von geplanten Reihen. Da ist schon ein gewisser Druck zu spüren und eine große Verantwortung, aber es ist natürlich auch für mich die bisher größte Gelegenheit um meine Karriere voranzubringen.

Und es ist auch etwas was Dich dann gleich mehrere Jahre beschäftigen könnte, denn es sollen ja nicht nur weitere Soloserien mit anderen Helden folgen.

Das ist zumindest der Plan, ja. Nachdem die vier Einzelserien abgedreht worden sind werden wir alle zusammenkommen um dann gemeinsam die „Defenders“ zu drehen. Darin bin ich dann voraussichtlich so eine Art Mentor oder Anführer, in etwa so wie Iron Man bei den Avengers. Es besteht auch die Möglichkeit, dass meine Figur den einen oder anderen Gastauftritt innerhalb der weiteren Marvel-Serien haben wird. Bei „Jessica Jones“ ist das zwar bisher nicht geplant, aber für „Iron Fist“ und „Luke Cage“ soll ich mich zumindest bereithalten, hat man mir gesagt. Und was „Daredevil“ selbst angeht, so steht die Entscheidung unmittelbar bevor, ob es mit einer zweiten Staffel weitergeht.

Nachdem ich die ersten Episoden vorab sehen konnte, bin ich davon doch recht angetan, gerade weil es eine völlig andere Herangehensweise an das Superhelden-Thema ist als bei den Kinofilmen.

Wir haben da zumindest einen anderen Ansatz verfolgt, ja. Es ist in erster Linie eine Krimiserie mit ein paar übernatürlichen Elementen. Natürlich möchten wie die eingeschworenen Fans und Kenner der Vorlage nicht enttäuschen und berücksichtigen daher die wichtigsten Elemente, die Daredevil ausmachen und definieren. Aber so wie die Serie gestaltet ist bietet sie vielleicht ja auch denjenigen, die sich bisher mit „Superheldenkram“ eher schwer getan haben, die Möglichkeit sich damit anzufreunden und einen Einstieg zu finden. Auch wer sonst nur „CSI“ schaut wird nicht verstört werden, auch wenn es bei uns schon ein wenig härter zugeht. Aber wir bleiben doch recht stark in der Realität verankert. Mein Figur muss zum Beispiel sehr hart kämpfen um ihre Gegner im Kampf zu besiegen und kommt auch nicht ohne Schrammen davon, Matt Murdock hat eben keine „richtigen“ Superkräfte und ist sehr verwundbar.

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Was dann vermutlich wesentlich weniger Arbeit vor der grünen Leinwand bedeutet hat als sonst im Genre üblich?

Ja, und darüber bin ich sehr froh. Stattdessen gab es viel Arbeit mit dem Choreographen und meinem Stunt-Double, denn wir haben wirklich versucht so viel wie möglich mit echten Menschen und ohne Computereffekte zu arbeiten, fast schon „Old School“. Aber das passt einfach besser zu dieser Figur. Dafür habe ich auch gern das Training und die Fitnessarbeit in Kauf genommen, denn ich mag diesen physischen Teil meines Berufs.

Wie bist Du denn letztlich überhaupt an diese Rolle gekommen?

Das geht hauptsächlich auf Joe Quesada zurück, der ja nicht nur Comicautor ist sondern auch an der Entwicklung von „Daredevil“ beteiligt war. Er hatte mich in „Boardwalk Empire“ gesehen und daher schon beim Verfassen des Skripts an mich gedacht. Davon wusste ich aber beim Casting nichts und hab dort alles gegeben. Ich hatte aber wohl von vornherein ganz gute Chancen, wie es scheint.

Wie sehr warst Du denn vorher schon mit der Figur „Daredevil“ vertraut?

Nur sehr wenig, ehrlich gesagt. Ich kannte den Kinofilm, aber nicht die Comics. Davon habe ich aber, seitdem ich die Zusage für die Rolle bekam, mittlerweile sehr viele gelesen. Das war vor allem deshalb hilfreich, weil ich so besser einschätzen konnte wie der Charakter tickt und was zu ihm passt und daher nicht mit irgendwelchen unpassenden Vorschlägen und Ideen ankam. Was mir vorher auch nicht so wirklich klar war ist, wie vielen Leuten die Figur viel bedeutet. Wie viel die Marvel-Figuren allgemein einer ganzen Menge von Leuten bedeuten. Die haben so viele Kindheiten geprägt und ich habe tatsächlich einige Menschen getroffen die mir erzählt haben, dass „Daredevil“ ihnen in schweren Zeiten etwas Hoffnung gegeben hat.

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Es ist auch eine ungewöhnlich religiöse Figur im Reigen der Superhelden.

Ja, genau. Und das  ist ein großartiges Stilmittel, aus dem man einige Konflikte kreieren kann. Matt Murdock ist gläubig und katholisch, glaubt an sich an eine Art allmächtigen Gott, sieht sich aber trotzdem selbst oft gezwungen in das Schicksal anderer Menschen einzugreifen – was ihm dann wieder zu schaffen macht und zur Beichte treibt.

Lass uns noch kurz über Netflix sprechen und die Möglichkeiten, die die neue Entwicklung hin zu Serien bietet, die eben nicht völlig von der Einschaltquote der ersten Episode abhängig sind. Ist das eine rundweg positive Entwicklung oder siehst Du auch Nachteile?

Erst einmal ist ja jede weitere Plattform, auf der Serien produziert werden, für uns Schauspieler gut, denn Sie gibt uns mehr Möglichkeiten. Und der Vorteil an der Arbeit für Netflix ist, dass die Autoren beim Schreiben nicht darauf achten müssen, jede einzelne Folge so anzugehen, dass der Zuschauer auch auf jeden Fall in der folgenden Woche wieder einschaltet – da braucht man keinen Cliffhanger, sondern kann die komplette Staffel wie einen einzigen langen Film anlegen. Ich kann natürlich nicht beurteilen, ob das auch für die klassischen TV-Sender so eine tolle Entwicklung ist oder für die Werbeindustrie, denn Firmen wie Netflix leben ja nicht so sehr von Werbebuchungen sondern von Abogebühren. Aber ganz klar, sowohl für die Zuschauer als auch für uns Schauspieler ist das eine spannende und tolle Entwicklung.


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