FILM DOES MATTER: Das 22. Filmfest Hamburg bleibt politisch

von Margarete Prowe / 28. Oktober 2014

Auf den wunderschönen Sommer in Hamburg folgte 2014 ein lauer Herbst. Doch statt nur die Sonne zu genießen, gingen in der Hansestadt über 40.000 Gäste ins Kino und sorgten dafür, dass beim Filmfest Hamburg wieder viele Vorstellungen komplett ausverkauft waren. Wie schon in den vorigen Jahren war auch das 22. Filmfest ein politisches, welches weder vor aktuellen Themen wie dem islamistischen Terror zurückschreckte noch vor Sachverhalten von Ungerechtigkeit oder Umweltzerstörung, die in den Nachrichten gerade nicht vorkommen, unter dem Motto auf der Homepage des Festivals: „FILM DOES MATTER“.

Insgesamt wurden 2014 143 Filme aus 49 Ländern gezeigt, darunter auch neun Produktionen, die von ihren Ländern für den besten fremdsprachigen Film bei der Oscar-Verleihung 2015 vorgeschlagen wurden, darunter „Gett - Der Prozess der Viviane Amsalem“ (Israel),White God“ (Ungarn) und Nuri Bilge Ceylans „Winterschlaf“ (Türkei). Den Länderschwerpunkt (Sektion Deluxe) bildete dieses Jahr zum 25. Jahrestag des Mauerfalls eine Retrospektive mit Filmen aus der DDR, kuratiert von Regisseur und Douglas-Sirk-Preisträger (2011) Andreas Dresen („Halt auf freier Strecke“, „Sommer vorm Balkon“). Um dem Publikum zu helfen, persönliche Perlen zu finden, wurden jeden Tag Mitarbeitertagestipps vom Team online gestellt.

Einen wunderbaren Anfang nahm das Filmfest Hamburg mit dem Auftaktfilm „Pride“ (Sektion: Kaleidoskop) von Matthew Warchus. Erzählt wurde die auf wahren Begebenheiten basierende Geschichte einer Lesbisch-Schwulen-Initiative namens L. G. S. M (Lesbians and Gays Support the Miners) im London der Thatcher-Ära, die den Streik der Bergarbeiter in einem walisischen Dorf unterstützten. Das Ganze wurde von Warchus herrlich witzig und Mainstream-kompatibel umgesetzt. „Pride“ ist zudem sehenswert, da der Drehbuchautor Stephen Beresford auch das damals gerade überaus präsente Thema Aids und die Hoffnungslosigkeit der Streikenden geschickt in die Geschichte einflicht. Die Schauspieler (u. a. Bill Nighy, Imelda Staunton, Paddy Considine, George MacKay, Andrew Scott) sind wunderbar, doch im Gedächtnis bleibt vor allem die grandiose Disco-Tanzszene von Dominic West, die später am Abend in Dauerschleife auf der Leinwand der Filmfest-Eröffnungsparty so viele zum Tanzen brachte wie noch nie.
 

Ein Highlight war wie immer beim Filmfest Hamburg die Verleihung des Douglas-Sirk-Preises, der in diesem Jahr an den erfolgreichen Hamburger Filmemacher Fatih Akin ging, der von Gangsterfilm zu Familiensaga, Liebesgeschichten und zum Road Movie wechseln kann und dabei nicht nur von Kritikern gelobt, sondern auch vom Publikum geliebt wird, wie man zum Beispiel bei „Soul Kitchen“ sehen konnte. Der Douglas-Sirk-Preis wird seit 1995 jedes Jahr im Rahmen des Filmfest Hamburg an eine Persönlichkeit verliehen, die sich durch ihre Arbeit um die Filmkultur verdient gemacht hat. In den letzten Jahren wurde er zum Beispiel verliehen an Tilda Swinton, Kim Ki-duk und Andreas Dresen.

Fatih Akin wurde 1973 als Sohn türkischer Einwanderer in Hamburg geboren, studierte später in der Hansestadt Visuelle Kommunikation an der Hochschule für bildende Künste (HfbK) und gab sein Debüt als Spielfilmregisseur 1998 mit „Kurz und schmerzlos“. In seiner Rede erinnerte sich der Festivalleiter Albert Wiederspiel daran, wie ihre gemeinsame Geschichte begann: Irgendwann in 1998 meldeten sich bei meinem damaligen Chef Haig Balian, heute der Direktor vom Amsterdamer Zoo (der Weg von Film zu den Tieren ist doch kürzer als wir alle denken), die Typen von Wüste Film und boten uns an, einen Erstlingsfilm namens „Kurz und Schmerzlos“ vorzuführen. Ob wir nicht Lust hätten einen Hamburger Film in die Kinos zu bringen... […] Ein ganzer Film mit Migrationshintergrund war damals neu, auch wir wussten nicht, an welches Publikum wir uns wendeten.“

Doch „Kurz und Schmerzlos“ wurde bald bekannter, wie Wiederspiel sich erinnert: „Der Film ging nach Locarno, die Jungs gewannen alle zusammen den Preis für die besten Darsteller. Es kam die Premiere bei Filmfest Hamburg, Samstag Abend CinemaxX 1. Fatih hatte damals schon 500 engste Freunde, meine Mitarbeiterin Hülya Akin, weder verwandt noch verschwägert, saß bei der damaligen Ticketingleiterin Kathrin Kohlstedde auf dem Schoß und zwang sie dazu, uns 500 Karten für 'Kurz und Schmerzlos' auszuhändigen. Das Premierenpublikum hat getobt!“

Das Cinemaxx 1 ist auch am Abend der Douglas-Sirk-Preisverleihung gut gefüllt mit Fatihs Freunden, die nun lachen und klatschen, während Albert Wiederspiel erzählt, wie rasant es damals weiterging: „Nach dem Hamburger Triumph ging die Truppe auf Tour. In einem nicht ganz taufrischen Bus wurden, glaube ich, 30 Städte quer durch die Republik abgearbeitet: Lokalpresse, Interviews, Vorpremieren, Publikumsgespräche. Fatih als junger Anführer einer multikulturellen Boy Band, zwei Mitarbeiterinnen als Dompteusen dabei. Dass dies nur 16 Jahre zurückliegt ist fast unfassbar.“

Denn schon für seinen vierten Spielfilm, „Gegen die Wand“, bekam Fatih Akin 2004 den Goldenen Bären der Berlinale, den Deutschen und den Europäischen Filmpreis. 2005 war er Jury-Mitglied in Cannes, wo sein Film „Auf der anderen Seite“ 2007 Weltpremiere im Wettbewerb feiern durfte und den Preis für das beste Drehbuch erhielt.

Die Preisverleihung fand anlässlich der Deutschlandpremiere von Fatih Akins letztem Teil der „Liebe, Tod und Teufel“-Trilogie namens The Cutstatt, dem dritten Teil nach „Gegen die Wand“ und „Auf der anderen Seite“. Der Film ist eine Koproduktion zwischen Deutschland, Frankreich, Italien, Russland, Polen, Kanada und der Türkei. Leider ist „The Cut“ ein schwächerer Film als die beiden vorangegangenen, doch muss Akin ausdrücklich dafür gelobt werden, dass er filmisch den vor allem in der Türkei noch tabuisierten Genozid an den Armeniern 1915-1916 thematisiert (mehr zu "The Cut" in unserer ausführlichen Rezension).  


Von einer ganz anderen Qualität ist das Drehbuch des diesjährigen Gewinners der Goldenen Palme in Cannes, „Winterschlaf“, des türkischen Filmemachers Nuri Bilge Ceylan, der dies mit seiner Frau Ebru schrieb. Der ehemalige Theaterdarsteller Aydin (Haluk Bilginer) betreibt in den Bergen Kappadokiens ein kleines Hotel, in der er mit seiner viel jüngeren Frau und seiner geschiedenen Schwester lebt. Obwohl er zu Anfang des Films in seinem kleinen Königreich wie ein gutmütiger Patriarch wirkt, zeigt sich mit dem einsetzenden Schnee immer mehr, wie abhängig die Menschen um ihn herum von ihm sind und wie sehr er eigentlich alle anderen wie seine armen Mieter im Ort verachtet oder versucht, mit Worten klein zu halten. Ganz im Gegenteil zu Nuri Bilge Ceylans „Es war einmal in Anatolien“, der in Cannes 2011 den Großen Preis der Jury gewann, wird in seinem neuen Werk fast durchgehend und lange geredet. Doch trotz einer Länge von 196 Minuten fühlt sich „Winterschlaf“ aufgrund der Brillanz seiner Dialoge, seiner intensiv durchleuchteten Charaktere und seiner aufgeworfenen ethischen Fragen nicht lang an. Zu Recht gab es dafür Lobeshymnen in Cannes.
 

Lone Scherfigs „The Riot Club“ ist die Verfilmung des Theaterstücks „Posh“ (2010) von Laura Wade, welches von der geheimen Oxford-Tischgesellschaft „The Bullingdon Club“ inspiriert ist, die für ihre ausschweifenden Parties und exklusive Mitgliedschaft bekannt ist. Unter den ehemaligen Mitgliedern befinden sich pikanterweise auch der Premier David Cameron und Boris Johnson. Auf die Spitze getrieben im Theaterstück wird ein Abendessen des Riot Clubs, das komplett eskaliert. Im Film wird dieser Abend in eine Rahmenhandlung vom ersten Universitätstag der beiden zukünftigen Riot-Club-Mitglieder Miles (Max Irons, der Sohn von Jeremy Irons) und Alistair (Sam Claflin) bis zu den Folgen des abendlichen Exzesses eingebettet. Erschreckend ist die Verachtung, die die reichen und wohlgeborenen Söhne gegenüber dem normalen Volk an den Tag legen und wie sicher sie sich sind, dass man aus jeder Situation schon wieder herauskommen wird. Leider ist „The Riot Club“ etwas zu offensichtlich und wirkt zu platt erzählt, so dass er keine so starke Wirkung entfaltet wie Scherfigs hervorragende Analyse britischer Erziehung und Moral, An Education.

 

In der Sektion „Voilà!“ des Filmfest Hamburg werden jedes Jahr französischsprachige Filme aus Frankreich, Belgien, Québec u. a. gezeigt. 2014 war eines der Highlights dieser Reihe der französische Coming-of-Age-Film „Love at First Fight“ (Originaltitel: „Les Combattants“) von Thomas Cailley. Arnaud will nach der Schule eigentlich nur den Sommer genießen, doch dann lernt er Madeleine kennen, die sich per Maximaltraining und mit viel Ausrüstung auf das Ende der Welt vorbereitet. Als sie ins Bootcamp geht, um noch besser für das Überleben nach der Apokalypse gerüstet zu sein, folgt er ihr und lässt sich in eine andere Welt entführen. „Love at First Fight“ hat mit Adèle Haenel und Kevin Azaïs wunderbare Schauspieler, witzige Dialoge und die Kameraarbeit des Bruders des Regisseurs, David Cailley, lässt es so wirken, als ob gleich ein Sturm kommt und die Welt vernichtet. Der Film zeigt, dass eine Coming-of-Age-Geschichte auch ohne Rückgriff auf Klischees erzählt werden kann.
 

Die europäische Co-Produktion „Monument to Michael Jackson“ (Serbien, Mazedonien, Deutschland, Kroatien) von Darko Lungulov hingegen ist eine wunderbar skurrile, dabei zuweilen tiefschwarze Ostblockkomödie, die das Publikum in Hamburg mitriss. Der Inhalt ist simpel, aber trotzdem herrlich umgesetzt: 2009 wird in einem heruntergekommenen Kaff in Serbien ein altes Sowjetdenkmal abgerissen. Der Friseur Marko (Boris Milivojević), im Ort bekannt für seine sinnlosen Einfälle, wie man die Kleinstadt wiederbeleben kann, hat eine neue Idee, als Michael Jackson seine weltweite Comeback-Tournee ankündigt: Eine Statue von Michael soll auf den Platz und dies später für Touristenhorden sorgen, vielleicht sogar dafür, dass seine frisch getrennte Ehefrau zu ihm zurückkehrt. Während der korrupte Bürgermeister alles versucht, um das Monument zu vereiteln und dafür sogar nationalistische Hooligans in die Stadt schaffen lässt, bekommt Marko Hilfe vom orthodoxen Priester (Ljuba Bandović), dessen im Rollstuhl sitzender Tochter, die Jacksons Super-Fan ist, und von seinem Pilotenfreund Dusan (Dragan Bjelogrlić), der eigentlich nur möchte, dass der ehemals militärische Flughafen nicht geschlossen wird, damit er nicht in den Ruhestand muss.
 

Ebenfalls herrlich ist die rabenschwarze Groteske auf das Filmgeschäft und politische Diktaturen „Welcome to Karastan“ (Sektion: Freihafen), eine georgisch-deutsch-russisch-britische Co-Produktion des britischen Regisseurs Ben Hopkins. Der Independent-Filmemacher Emil Miller befindet sich in einer Schaffenskrise. Seine Frau hat ihn verlassen und er weiß nicht mal mehr, wie er seine Putzfrau bezahlen soll. Da kommt aus heiterem Himmel die Einladung zu einem Filmfestival in der neu gegründeten kaukasischen Republik Karastan. Doch Karastan ist eine Diktatur und die Straßen voll mit Panzern, was ihn jedoch nicht weiter juckt. Als der Präsident Miller bittet, die Geschichte eines karastanischen Volkshelden episch umzusetzen, sagt er sofort zu. Doch die Dinge im Land geraten bald außer Kontrolle. Erst wird der Hauptdarsteller entführt, dann gibt es einen Putsch. Herrlich sind hier vor allem die Schauspieler, allen voran Matthew MacFadyen als Regisseur, Noah Taylor („Vanilla Sky“, „Shine“) als Hauptdarsteller des Epos und MyAnna Buring („Twilight 1, 2“) als Begleiterin, die mehr weiß, als die zugibt.
 

An einer ziemlich abstrusen Geschichte krankt Anders Morgenthalers deutsch-dänischer Film „I Am Here“, der Kim Basinger, Jordan Prentice und Peter Stormare vereint und in der Hamburger Hafencity und an der Grenze zu Tschechien spielt. Maria (Kim Basinger), eine erfolgreiche Geschäftsfrau, will unbedingt ein Kind, doch sagt ihr der Gynäkologe nach einer weiteren von vielen Fehlgeburten, dass ihre Gebärmutter mittlerweile so beschädigt ist, dass sie keine weiteren Versuche mehr starten darf. Maria akzeptiert dies nicht und sucht eine andere Möglichkeit, ihren Kinderwunsch zu befriedigen: Sie fährt zu einem Ort an der tschechischen Grenze, über den sie gehört hat, dass es dort Prostituierte gibt, die ihre Babies verkaufen. Ab hier wird das Geschehen abstrus und auch die atmosphärisch dichte Kameraarbeit samt gruseliger Kinderstimme von Marias ungeborenem Kind in ihrem Kopf kann nicht davon abhalten, dass man nach dem Ende von „I Am Here“ nur noch den Kopf schütteln will. Der Regisseur Anders Morgenthaler antwortete nach dem Film auf die Frage nach seiner Motivation für diese Geschichte dann auch noch: „Ich selbst habe ja Kinder, aber ich stellte in meinem Bekanntenkreis fest, dass sobald Frauen 40, nein, 30 werden, sie mit absolut jedem ins Bett gehen. Frauen haben da einfach eine starke Biologie.“ Warum gerade die 61-jährige Kim Basinger bei diesem Quark mitmachen wollte und auch noch vom Regisseur als Traumbesetzung einer Frau mit Kinderwunsch gesehen wurde, bleibt unverständlich.
 

Auch dokumentarischen Arbeiten wurden beim Filmfest Hamburg wieder viel Raum gegeben. Die Reihe „Drei Farben Grün“ widmet sich auch in ihrem fünften Jahr dem Schutz der Natur und unserer Lebensgrundlagen und zeigt wieder einmal spannende Einblicke in medial wenig beleuchtete Themen.

Ady Gasy – The Malagasy Way“ (Frankreich, Madagaskar) von Lova Nantenaina ist eine formal nicht ganz überzeugende, aber inhaltlich interessante Dokumentation eines Madagassen, der sich mit den Überlebens- und Handwerkskünsten der Ärmsten auf der Insel auseinandersetzt, die aus quasi nichts noch etwas machen, um ihre Familien zu ernähren. Einer der Männer sagt in „Ady Gasy“: „Es sind die Chinesen, die alles produzieren, aber wir, die Madagassen, die alles reparieren.“ Nantenaina zeigt uns, wie auf Madagaskar Seife produziert wird, mit einfachsten Mitteln Schubkarren hergestellt oder aus Tomatenmarkdosen und Gläserschraubdeckeln Öllampen gebastelt werden. Verschmitzt sagt die Verkäuferin dazu: „Wir verkaufen mehr, wenn es mehr Stromausfälle gibt.“ Aus Autoreifen werden Sandalen in verschiedenen Stilen, die man auch an allen Füßen im Film wiedererkennt. Der Filmemacher Lova Nantenaina sagte im anschließenden Gespräch, dass „Hoffnung und Humor“ die beiden Eigenschaften sind, von denen auch der Westen etwas lernen könnte. Auch die Madagassen machen nicht alles mit: Als eine südkoreanische Firma sehr viel Land kaufen wollte, gingen die Menschen auf die Straße und setzten kurzerhand den Präsidenten ab.
 

Raphael Barths „Aftermath – Die zweite Flut“ (Deutschland, Österreich, Irland) wirft einen ganz anderen Blick auf eine Inselwelt: Die Nikobaren sind eine entlegene Inselgruppe im Indischen Ozean. Ihre Bewohner lebten die letzten 900 Jahre fast ohne Kontakt zur Außenwelt, bis 2004 der Tsunami ein Drittel ihrer Bevölkerung tötete und sie quasi über Nacht in einer modernen Welt mit Geld von Hilfsorganisationen landeten. Jahre später sind die Organisationen wieder weg und das Geld ist ausgegeben. Für die kulturellen Bräuche und das Zusammenleben dieses indigenen Volkes ist dies laut diesem Film die größere Katastrophe, von der sie sich vielleicht nie erholen werden. Erzählt wird der Film durch den in Wien lebenden Wissenschaftler Simron Jit Singh, der das Vertrauen der Nikobaresen gewann und vor dem Tsunami ihre Kultur in Bild und Tonaufnahmen dokumentierte, die in „Aftermath“ den krassen Unterschied von vorher und nachher belegen. Die Häuser, die die indische Regierung zum Beispiel für die Nikobaresen baute, waren für Kleinfamilien ausgelegt, diese hatten jedoch vorher mit der ganzen Sippe in einer riesigen runden Hütte gewohnt. Ihr Zusammenleben änderte sich hierdurch und sie wurden durch die Hilfe tatsächlich hilflos gemacht. Wie einer der Männer im Film sagt: Wir wollten keine Kekse, wir wollten nur Werkzeuge, um unser Leben wieder aufzubauen und für uns selbst zu sorgen. Doch es gab nur Kekse.“ Von den verschiedenen Gruppen an umgesiedelten Nikobaresen schafft es im Film nur eine, zu ihrem Lebensstil zurückzukehren: Unter ihrem Anführer bauen sie eines Tages traditionelle Boote und kehren, die moderne Welt hinter sich lassend, einfach ohne Erlaubnis der Regierung auf ihre Insel zurück. Die anderen bleiben. Einer der Jüngeren wird später beim Studium in der Großstadt gezeigt. Ohne die Hilfe nach den Tsunami und den Errungenschaften, die dies brachte, hätte er nie studieren können, sagt er, doch trauert er gleichzeitig darum, dass er sich an die Bräuche seiner Kultur kaum noch erinnern kann. Seine Familie feiert diese mittlerweile nicht mehr.
 

Die Dokumentation „Beaverland“ (Chile) von Nicolás Molina und Antonio Luco wurde mit einem Stipendium des Tribeca Film Institutes umgesetzt und widmet sich dem Kampf des jungen Biologenpärchens Giorgia und Derek gegen die Biberplage in Feuerland, die das Ökosystem dort sogar mehr als Naturkatastrophen bedroht. 1946 wurden kanadische Biber mit dem Ziel der Pelztiernutzung in Feuerland ausgesetzt. Doch aufgrund fehlender Fressfeinde nahmen sie überhand. Leider trotz kurzer Länge erstaunlich langatmig erzählt, ist „Beaverland“ nur aufgrund seiner sympathischen Protagonisten, die gleichzeitig amateurhaft Biber mit dem Gewehr töten, diese aber auch niedlich finden, und seiner postapokalytischen Ansichten auf von den Bibern zerstörte Landstriche noch sehenswert.
 

Einen beeindruckenden und außergewöhnlichen Blick auf die chinesische Kunstszene und die Schwierigkeiten in der Konstruktionen einer chinesischen Identität durch ihre Kunstschaffenden liefert Mika Mattila mit „Chimeras“ in der Sektion Asia Express. Zwei Künstler werden hier porträtiert, der bekannte Wang Guangyi und der gerade erst bekannt werdende junge Liu Gang. Beide überlegen unabhängig voneinander, was chinesische Kunst sein sollte und wie man eine solche überhaupt machen kann unter westlichen Einflüssen. Wie der Junge sagt: „Schon die Grammatik der Kunstwelt ist westlich geprägt.“ Von der Einkindpolitik bis zur Erinnerung an Mao wird in „Chimeras“ gesprochen, während wir beiden Künstlern auf ihre jeweiligen Ausstellungen folgen. Wang Guangyi mischt in seinen bekannten Bildern Propaganda-Kunst der Kulturrevolution mit Pop Art-Ästhetik. In seiner Serie „Great Criticism“ zum Beispiel kombinierte er die Logos westlicher Markenprodukte wie Coca Cola, Rolex, Chanel oder Gucci mit Teilen von Propagandaplakaten. Der junge Fotograf Liu Gang hingegen nimmt westliche Werbung aus Zeitungen, verknittert sie und fotografiert sie dann ab. Der Film folgt ihm auch an Stätten, die Kopien dew Westens sind wie zum Beispiel Thames Town, eine nachgebaute fiktive englische Stadt, in der bevorzugt chinesische Hochzeitsfotos gemacht werden. Die Ironie wird noch offenkundiger, als die Verlobte des jungen Fotografen endlich heiraten will, um genau solche Fotos endlich machen zu können, worauf er eigentlich gar keine Lust hat.
 

Flowing Stories“ (Sektion: Asia Express) hingegen entpuppt sich als spannungsarme Dokumentation über die Nachbarsfamilie der Filmemacherin. Die Rahmenhandlung ist ein Fest in ihrem chinesischen Dorf, welches alle 10 Jahre stattfindet und für das auch die mittlerweile im Ausland lebenden Dorfbewohner zurückkehren. Die Regisseurin Tsang Tsui-shan folgt den ausgewanderten erwachsenen Kindern der Nachbarsfamilie Lau ebenfalls nach Frankreich, wo der Vater ein Restaurant eröffnete, und nach Großbritannien und interviewt diese dort. Schade ist, dass die Regisseurin immer gerade da aufhört zu fragen, wo genaueres Nachhaken zu mehr Tiefe führen könnte. Und so plätschert „Flowing Stories“ so gemächlich dahin wie der Fluss im Dorf.
 

Aktuell und politisch endete das Filmfest Hamburg 2014 mit der französisch-mauretanischen Produktion „Timbuktu“ (Sektion: Kaleidoskop) des Regisseurs Abderrahmane Sissako. Gezeigt wird die Besetzung der malischen Stadt Timbuktu im Jahr 2012 durch Islamisten, die Gruppe Ansar Dine zusammen mit Al-Qaida im Islamischen Maghreb, von der im Westen hauptsächlich über ihre Zerstörung von Kulturdenkmälern berichtet wurde. Sissako zeigt in mosaikartig angelegten Geschichten, wie die Bevölkerung versucht, sich den neuen Regeln der Besatzer zu widersetzen, sie aber durch die konsequente Anwendung der Scharia unter immer mehr Gewalt leiden. Gerade die Frauen sind es, die sich aufzulehnen versuchen. Trotz des Verbots von Gesang, Musik, Zigaretten und dem Zeigen weiblicher Hände oder Füße wird von den Frauen gesungen und werden Fische weiterhin ohne Handschuhe verkauft. In einer beeindruckenden Szene singt die Musikerin sogar noch weiter, während sie 40 Hiebe bekommt. Der örtliche Scheich versucht die Islamisten, die aus unterschiedlichen Orten mit unterschiedlichen Sprachen kommen, davon zu überzeugen, dass die Bevölkerung schon muslimisch sittlich lebt, doch kann seine friedliche Art nichts gegen die Maschinengewehre der Besatzer ausrichten. Dabei ist es die Kunst von Regisseur Abderrahmane Sissako, dass er auch die komischen Seiten der Situation zeigt, etwa, wenn die Besetzer sich sprachlich einfach nicht verständigen können, heimlich rauchen oder aber überfordert sind, wenn das Gesangsverbot mit dem Singen von Lobpreisungen auf den Propheten umgangen wird.

Doch während im Januar 2013 Timbuktu von französischen und malischen Truppen zurückerobert wurde, sind die Truppen des Islamischen Staates derzeitig in Syrien und im Irak weiterhin auf dem Vormarsch, werden Jesiden versklavt, während im Norden Nigerias die Gruppe Boko Haram weiterhin Mädchen und Jungen entführt. Es ist auch der Verdienst von Festivalleiter Albert Wiederspiel, dass der Zuschauer nach dem Filmfest Hamburg 2014 nicht mit einem film-satten Gefühl im Magen heimgeht, sondern mit dem Bewusstsein um die aktuellen Probleme in anderen Gegenden der Welt. Mit „Timbuktu“ endete so ein gelungenes Filmfest, nach welchem die Hamburger sich mit vielen Anreizen zum Nachdenken wieder in die warme Herbstsonne setzen konnten.

 

Preise:

 

Douglas-Sirk-Preis: Fatih Akin

"Hamburger Produzentenpreis" für die beste „Europäische Kino-Coproduktion“: Daniel Zuta und Vladimer Katcharava („Welcome to Karastan“)

 

Hamburger Produzentenpreis“ für eine „Deutsche Fernsehproduktion“: Iris Kiefer („Polizeiruf 110: Familiensache“).

 

Eurovisuell Publikumspreis:HallåHallå“ (Maria Blom, Schweden)

Art Cinema Award: Gett – Der Prozess der Viviane Amsalem“ (Ronit und Shlomi Elkabetz, Israel, Deutschland, Frankreich)

Preis der Hamburger Filmkritik: Hope“ (Boris Lojkine, Frankreich).
 

Der Politische Film: Children 404“ (Askold Kurov und Pavel Loparev, Russland).
 

Der NDR Nachwuchspreis: Mary Is Happy, Mary Is Happy“ (Nawapol Thamrongrattanarit, Thailand)

Michel Preis: Die geheime Mission“ (Martin Miehe-Renard, Dänemark)
Lobende Erwähnung:
"Das kalte Herz" (Marc-Andreas Bochert, Deutschland)
 


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