Filmszene Festival-Tagebuch: Berlinale 2014

von Patrick Wellinski / 5. Februar 2014

Sonntag, 16.02.2014: Willkommen in Coen-Country

Die Preisverleihung der 64. Berlinale geriet überraschend zum asiatischen Abend. Gleich vier der acht vergebenen Preise durften sich über eine Reise nach Fernost freuen. Dabei triumphierte insbesondere das chinesische Kino. So kaschiert eine kluge Jury die Mängel eines durchschnittlichen Jahrgangs.

Kumiko (Rinko Kikuchi) war von allen Figuren auf den Leinwänden der diesjährigen Berlinale die größte Träumerin. Im neuen Film der Zellner-Brüder "Kumiko - The treasure hunter" (Forum) findet sie eine alte VHS-Kassette mit "Fargo" der Coen-Brüder. Kumiko sieht den Film und versteht. Der Film ist eine Schatzkarte an deren Ende ein verzweifelter Steve Buscemi einen Koffer voller Geld unter einen Zaun in der verschneiten Landschaft Minnesotas vergräbt. Nicht eine Sekunde könnte Kumiko einfallen, dass dies Fiktion sei, dass dies "nur" ein Film sei, eine in Bilder gesetzte Parabel über Gier und Sucht und Verlust alles Menschlichen in einer unmenschlichen Umgebung. Deshalb schnappt sie sich die Kreditkarte ihres Chefs und reist nach Minnesota und steigt so in den Film, verschwindet, geht in ihm vollkommen auf.

Wer Kumiko auf der 64. Berlinale sah, der musste sie beneiden. Denn bis auf zwei, drei Ausnahmen gab es auf diesem Festival keinen Film in den man sich vorbehaltlos reinfallen lassen wollte. Dafür braucht es uneingeschränktes Vertrauen in einen Regisseur, der bei sich ist und trotzdem niemanden ausschließen möchte. "Kumiko" ist übrigens auch deshalb eine gute Referenz für unser Fazit, weil viele Filme den Geist der Coen-Brüder heraufbeschworen. Der norwegische Wettbewerbsbeitrag "In Order of Disappearance", feierte Meuchelmorde im ewigen skandinavischen Schnee wie in "Fargo", der chinesische Film "No Man's Land" von Ning Hao ist nicht nur vom Titel her ein Versuch an die Tiefe von "No Country for old men" heranzureichen, "Stratos" bedient sich in seiner Lakonie bei Coen-Werken wie "The Man who wasn’t there " oder "The Big Lebowski". Versuche und Testflüge, aber alles fern ab vom Original. Die Sehnsucht nach einem Coen-Brüder-Film wurde eher geweckt und am eigentlichen Berlinale-Film wurden die Mängel deutlich.

Der Wettbewerb bestand aus vielen gut gemeinten Kompromissfilmen, die mal weniger, mal mehr überzeugen konnten. Als Berichterstatter fühlte man sich wie in einem großen Supermarkt. Man findet nicht was man sucht und das was man findet, wollte man gar nicht. Zum Glück hat eine kluge Jury aus dieser recht konfusen Zusammenstellung das Beste herausdestilliert. Die Preise überraschen aber machen auch deutlich, was international anerkanntes Kino ist, und dass das von der Berlinale so favorisierte sozialdemokratische Gutmenschenkino sein Verfallsdatum längst überschritten hat.

Black coal, thin iceChinesische Bären

Die Jury hat vor allem Genrekino prämiert. Der Siegerfilm "Black Coal, Thin Ice" ist ein moderner Film Noir, der geschickt mit den Versatzstücken des Genres arbeitet und sie ins heutige China überführt, ohne nur eine billige Stilübung zu sein. Die Verzweiflung des Ermittlers, seine Trunksucht und seine Statur erinnern nicht von ungefähr an die Privatdetektive von Chandler und Hammett. Daher geht auch der Darstellerpreis für Liao Fan völlig in Ordnung. Klug auch die Entscheidung, die irrlichterne Kameraarbeit in Lou Yes "Blind Massage" auszuzeichnen, schließlich ist die "sehende" Kamera unter den blinden Figuren beeindruckend vital. Der Darstellerinnenpreis an Takako Matsu war keine Überraschung, da sie in einem Wettbewerb voller Männerfiguren und Kinder die einzige "richtige" weibliche Hauptrolle spielen durfte. Wes Andersons Eröffnungsfilm "The Grand Budapest Hotel" gewann den großen Preis der Jury und belegte damit den inoffiziellen "2. Platz". Damit gewann der kultisch verehrte Anderson zum ersten Mal in seiner Karriere einen Preis bei einem großen A-Festival. Auch das eine richtige Entscheidung.

Richard Linklaters Meisterstück "Boyhood" galt für viele als Favorit und hätte natürlich auch den großen Bären verdient, erhielt aber nur einen für die beste Regie. Das ist logisch, weil "Boyhood" eine unglaubliche Regieleistung darstellt. Aber es ist auch klar, dass Linklater mehr wollte und seinen Preis nur zähneknirschend entgegen nahm. Es ist sein zweiter Regiebär. Den ersten bekam er 1995 für "Before Sunrise". Und es ist auch klar, dass "Boyhood" d e r Film war, der diese Festival-Ausgabe überstehen wird. Dessen Bilder uns noch über das ganze Jahr verfolgen werden und dem noch ein langes und erfolgreiches Festival-, Kino-, und Preisverleihungsleben beschert sein wird. Allein deshalb wirkt diese Entscheidung der Jury ein wenig wie eine vertane Chance.

KreuzwegDeutsches Kino nur bedingt auszeichnungswürdig

Das deutsche Kino, das sich mit seinen vier Beiträgen qualitativ als eher durchschnittlich präsentierte, wurde mit dem Drehbuchpreis an das Geschwisterpaar Brüggemann für ihr Stationendrama "Kreuzweg" bedacht. Auch dieser Gedanke leuchtete ein, es schmerzt aber viel mehr, dass Dominik Grafs fulminantes Schiller-Stück "Die Geliebten Schwestern" dafür unter den Tisch gefallen ist. Vielleicht ist Grafs Autorenvision nicht international vermittelbar. Das ist schade, ändert aber nichts daran, dass er mit dieser klugen Truffaut-Hommage den mit Abstand besten deutschen Film des ganzen Festivals abgeliefert hat. Aber Graf ist Kummer gewöhnt und nicht so liebesbedürftig wie Truffaut, deshalb wird er auch diese kleine Niederlage sehr gut wegstecken.

Die vielleicht schönste Überraschung gelang der internationalen Jury mit der Verleihung des Alfred-Bauer-Preises für den 92-jährigen Alain Resnais und sein Alterswerk "Aimer, boire et chanter". Der Alfred Bauer Preis soll Filme auszeichnen, die neue Perspektiven für die Filmkunst eröffnen, was bei vielen Kollegen irgendwie mit Debütpreis gleichgesetzt wird. Aber auf der Berlinale hat ja auch schon der über 80-jährige Andrzej Wajda den Preis bekommen und damit gezeigt, dass Alter nicht vor Kreativität schützt. Bei Resnais, dem sanften Rebellen des europäischen Kinos, gilt das gleiche. Man kann sein Boulevardtheater als altbacken bezeichnen. Aber damit vergisst man, dass hier auf der Bühne des Lebens die ganz harten Themen verhandelt werden: Lieben, Leben, Sterben - und das mit einer Vehemenz, wie sie manchmal in der Intensität sogar Lars von Triers Ansatz übersteigt. Man darf sich eben nicht von den Theaterkulissen abschrecken lassen.

Weg vom Konsenskino

Alles in Allem lassen die Preise den durchschnittlichen Wettbewerb vergessen und erinnern daran, dass die besten Filme immer in den Nebensektionen laufen. Doch auch diese kämpfen mittlerweile um ihre Profile. So kann man nicht mehr in einem Satz erklären, was für Kino im Panorama läuft oder im Forum. Die Grenzen zwischen den Sektionen sind aufgeweicht und damit fließen vor allem Mittelklassefilme auf die Leinwände.

Für den Wettbewerb, das Herzstück, gilt allerdings: Weniger ist mehr. Es gab zu viele Zwillingsfilme dieses Jahr, also Filme, die das gleiche aus unterschiedlichen Richtungen zeigten. Zwei Filme über Kinder in Not, zwei über Gangster außer Rand und Band etc. Man sollte sich doch einfach für ein Werk entscheiden, statt so den Wettbewerb künstlich aufzublasen. Den jungen Filmemachern tut man zudem keinen Gefallen, wenn ihre fragilen Filme unter den Wettbewerbserwartungen pulverisiert werden.

Doch dazu gehört ein Vertrauen in die eigene Auswahl und in den eigenen Geschmack. Dieter Kosslick und seine Auswahlcrew favorisieren seit Jahren eine gewisse Art von Thesenkino. Filme "über" etwas, über ein Thema. Die Filme wirken dann wie verfilmte Leitartikel, haben nichts Konkretes. Die Charaktere auf der Leinwand verkommen zu Beispiel-Figuren, die Konfliktlinien nur verdeutlichen sollen.

Selbst jenseits der großen Festivals ist das schon längst ein veralteter Kinobegriff. Wenn so viele Filmemacher die Coens kopieren, dann ist das auch ein Schrei und eine Sehnsucht nach einer Art von Kino die kompromisslos bei sich selbst ist, das nichts illustriert, sondern selbstbewusst im Umgang mit Kino und Kinogeschichte ist. Anders als in der Politik gewinnt man Wahlen im Kino nun mal nicht in der "Mitte", sondern nur an den Rändern, dort wachsen die verrücktesten "Nachtschattengewächse", wie es Dominik Graf mal formulierte, die zu finden und zu präsentieren ist die Aufgabe jedes Festivals, das sich ernst nimmt. Das gilt auch für die Berlinale. Nächstes Jahr kann sie beweisen, ob sie aus der diesjährigen Juryentscheidung gelernt hat. Dann kann es nur noch besser werden. Und vielleicht erinnert man sich ja an Jean-Luc Godards gern zitiertes Bonmot: „Es geht nicht darum politische Filme zu machen, sondern darum Filme politisch zu machen.“

 

Die Preisträger der 64. Berlinale

Goldener Bär: "Black Coal, Thin Ice", Regie: Diao Yinan

Großer Preis der Jury: "The Grand Budapest Hotel", Regie: Wes Anderson

Alfred Bauer Preis: "Aimer, boire et chanter", Regie: Alain Resnais

Bester Regisseur: Richard Linklater ("Boyhood")

Beste Darstellerin: Takako Matsu ("The Little House")

Bester Darsteller: Liao Fan ("Black Coal, Thin Ice")

Bestes Drehbuch: Dietrich und Anna Brüggemann ("Kreuzweg")

Herausragende Künstlerische Leistung: Jian Zeng ("Blind Massage")
 

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Freitag, 14.02.2014: Es kann nur einen geben

Ein japanisches Melodrama beschließt den Wettbewerb der 64. Berlinale. Und am Ende gibt es nur einen einzigen Favoriten: Richard Linklater. Mit jeder anderen Entscheidung macht sich die Jury lächerlich. Es gibt aber durchaus chinesische Außenseiterchancen.

Black Coal, Thin IceDas Genrekino als Flucht vor konventionellen Arthouseformen führt chinesische Filmemacher in interessante Gefilde. In „Black Coal, Thin Ice“ widmet sich Regisseur Diao Yinan dem Film Noir. Er siedelt seine puzzleartige Handlung in der Provinz an. Aber die Stilisierungen des Genres umgeht er. Es gibt zwar eine Femme Fatale, einen verzweifelten Ermittler, eine fatalistische Grundstimmung, aber die Umgebung wirkt so sozialrealistisch wie aus einem Dokumentarfilm.

Der Fall ist kompliziert. Leichenteile werden in Kohlewerken gefunden. Mehrere Jahre wird ermittelt. Es gibt Tote und Verräter, doch keinen genreüblichen Thrill, keine Spannung. Die ganzen Konflikte werden auf der Farbebene verhandelt. Rot und Grün dominieren. Schuld und Unschuld wechseln mit der Beleuchtung auch ihre Bedeutung. Raffiniert ist dieser Film, wenn auch in seiner Puzzlestruktur verwirrend.

Nicht verwirrend, sondern actionreich ist der Western von Ning Hao „No Man‘s land“. In amüsanter Coen-Brüder-Manier geraten hier ein Anwalt und eine Prostituierte in die Fänge von wahnwitzigen Gangstern und Verbrechern. Es gibt Autojagden und Explosionen, aber am Ende ist das Ganze eher eine nette Hommage als ein selbstständiger Film.

MacondoErwachsene Kinder

Mit dem österreichischen Beitrag „Macondo“ hat sich die Berlinale einen Zwillingsfilm zum deutschen Wettbewerbsbeitrag „Jack“ geleistet. Auch hier steht ein Kind im Mittelpunkt der sozialrealistisch erzählten Geschichte. Ramasan, der nach dem Tod des Vaters die Rolle des Familienoberhaupts übernehmen will. Mit der Mutter und den zwei Schwestern wohnt er in einem Asylheim. Doch der Alltag ist hart für alle Beteiligten. Ramasan übernimmt Verantwortung und will nicht einsehen, dass er sich übernimmt. Immer wieder bringt ihn sein Starrsinn gepaart mit der jugendlichen Leichtsinnigkeit an den Rand der Kriminalität.

„Macondo“ gefällt am Ende besser als „Jack“, vor allem weil er eine Parallelgesellschaft am Rande Wiens porträtiert und dann auch sehr unterschwellig von Ramasans Heimat Tschetschenien zu erzählen weiß. Aber alle Natürlichkeit und Nähe zum sehr überzeugenden Laiendarsteller hilft nicht zu vergessen, dass diese Art von Filmen eigentlich schon oft gemacht worden ist. Sei es von den Dardennes oder Loach. Und „Macondo“ ist daneben brav ausgeführtes Formelkino, dem die sozialrealistische Wucht und Erfahrung seiner Vorbilder fehlt, und dieser Mangel ist deutlich zu spüren.

Ein Juwel

BoyhoodAber es ist alles egal. Egal, weil - wie angekündigt - Richard Linklater „Boyhood“ zeigte. Und auch der größte Nörgler und Zweifler war befriedigt, beglückt und fast schon euphorisch. Es ist - so viel ist schon vorweg zu nehmen - der beste Film des Wettbewerbs, der beste Film des Festivals und ganz sicher einer der besten Filme des Jahres. Linklater traf sich 2002 mit seinem Filmteam und begann, zusammen mit seinem damals sechsjährigen, nichtprofessionellen Darsteller Ellar Coltrane, ein Langzeitspielfilmprojekt, das im Bereich der Fiktion seines gleichen sucht. Der Film zeigt das Erwachsenwerden des texanischen Jungen Mason in seiner Jugend und Schulphase und folgt ihm bis zu seinem 18. Lebensjahr, wenn er von zu Hause auszieht und ins College geht. Das Besondere: Ellar Coltrane spielt immer sich selbst. Jedes Jahr hat Linklater einen Teil des Films mit ihm gedreht. Das dauert lange, entfaltet aber in dieser Geschichte eine ungeahnte Wucht. Dabei ist die eigentliche Handlung angenehm unaufgeregt und ohne die üblichen dramaturgischen Überhöhungen.

Das Leben einer Mittelklassefamilie wird eher beiläufig und zart erzählt. Die Mutter (genial: Patricia Arquette) hat kein Glück mit den Männern, der Vater der Kinder (super: Ethan Hawke) ist in Alaska untergetaucht und sieht die Kinder nur selten. BoyhoodSie geht wieder ins College, verliebt sich in ihren Professor, doch dessen Alkoholproblem zwingt die Familie zum Umzug. Auch der nächste Mann hat ein Alkoholproblem. Der Vater wiederum durchlebt seine eigenen Krisen. Er ist ein ewiges Kind, das viel zu früh Vater geworden ist. Doch auch er findet langsam seinen Weg ins Leben, seine Ruhe und bringt seine Emotionen unter Kontrolle. Dieses Lebens- und Gefühlschaos betrachten wir durch die großen Augen des zunächst kleinen Mason, der später als Teenager mit einem müden Schlafzimmerblick ins Erwachsenenalter tritt.

Was dazwischen geschieht, nennt man Leben, das mit einem erzählerischen Atem ausgestattet ist, wie es nur Linklater im amerikanischen Kino gelingen konnte. Sein großes Thema ist die Zeit und wie sie an uns vorbei fließt. Das gilt auch für seine „Before“-Reihe. Doch in „Boyhood“ gelingt ihm das gewagte Experiment besonders gut. Hier ist nichts „bigger than life“, es ist das Leben selbst, dass er einfängt. Eine Jugend im 21. Jahrhundert, unangestrengt und überzeugend. Und damit erinnert „Boyhood“ an das japanische Kino. An Filme von Ozu und Mizoguchi, die das Leben einfingen und bemüht waren, diese Leistung als kunstlose Kunst zu verkaufen. Es ist aber die größte Kinokunst, die man sich vorstellen kann.

Sehnsucht

The little HouseWomit wir auch beim letzten Film des Wettbewerbs wären. Das Melodrama „The little house“ des letzten noch arbeitenden japanischen Altmeisters Yoji Yamada, der auf der Berlinale einer der wenigen wahren Stammgäste ist. Sein neuer Film ist ein klassisches japanisches Melodrama. Eine alte Haushälterin blickt auf ihr Leben zurück und auf unerfüllte Lieben, Hoffnungen und Sehnsüchte, die ganze Lebenswege und -träume in den Abgrund gezogen haben. Es ist ein klassisches Werk. Ein Film, der nicht mehr nach einer Form suchen muss, der selbstbewusst und stilsicher seine Bilder kennt und niemandem mehr etwas beweisen will. Ein herrlicher Film, reif und weise und tief traurig.

Boyhood, Boyhood, Byhood

Stellt sich die Frage, wer wird gewinnen? Wie wird die Jury ihre Preise verteilen? Wer triumphiert und wer wird links liegen gelassen. Das faire Verteilen der Preise hat in Berlin Tradition. Aber wenn wir alle für einen Augenblick unsere Befindlichkeiten beiseite legen und ganz ehrlich mit uns sind, dann müsste die Jury einen großen Weidenkorb nehmen, in ihn die Bären reinlegen, und diesen Korb dann mit einer schönen Schleife an Richard Linklater und seinen Film „Boyhood“ geben. Warum? Weil er uns Bilder schenkte, die noch lange nachdem die roten Teppiche der Berlinale eingerollt und verstaut sind, uns verfolgen werden und die uns den ersten Wegabschnitt dieses Kinojahres beleuchten. So sehen nun mal Sieger aus.

Am Ende sollten wir uns nochmal festlegen, auch wenn wir wissen, dass wir uns mit Spekulationen nur blamieren können. Aber feige wollen wir auch nicht sein. Also hier die vermuteten Preisträger der 64. Berlinale im Überblick:

 

·         Goldener Bär für den Besten Film (für den Produzenten)

·„Boyhood“ v. Richard Linklater

·         Silberner Bär Großer Preis der Jury

·„The Grand Budapest Hotel“ v. Wes Anderson

·         Silberner Bär für die Beste Regie

·Lou Ye für „Blind Massage“

·         Silberner Bär für die Beste Darstellerin

·Hannah Herzsprung und Henriette Confurius für Grafs „Die Geliebten Schwestern“

·         Silberner Bär für den Besten Darsteller

·Ramasan Minkailov für „Macondo“

·         Silberner Bär für das Beste Drehbuch

·„Black Coal, thin ice“, von Diao Yinan

·         Silberner Bär für eine Herausragende Künstlerische Leistung aus den Kategorien Kamera, Schnitt, Musik, Kostüm oder Set-Design

·Kameramann Anthony „Tat“ Radcliff für „‘71“ von Yann Demange

·         Silberner Bär Alfred-Bauer-Preis für einen Spielfilm, der neue Perspektiven eröffnet

·Historia del Miedo von Benjamin Naishtat

 

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Dienstag, 11.02.2014: Schwere Leere

Nach einem interessanten ersten Wochenende fällt das Niveau im Wettbewerb unterhalb der Schmerzgrenze. Sozialpädagogisches Thesenkino wird dem Publikum als modern verkauft.

Wir haben gestern unter vorgehaltener Hand erfahren, dass selbst die Auswahlkommission nicht gerade zufrieden mit der diesjährigen Filmauswahl ist. Aber warum man dann trotzdem 20 Wettbewerbsfilme plant, kann niemand beantworten. Das Niveau des Wettbewerbs ist dann doch schwächer als die letzten Jahre. Immer noch kein Film, der Bilder hätte, die nachhaltig sind. Selbst Lou Yes hervorragender Beitrag wäre bei anderen Festivals nur ein „netter“ Film. Hier muss er, zusammen mit Dominik Graf, die Stange für das gute Kino hochhalten.

„Jack“, der erst deutsche Film, wirkt jetzt, am Ende des Festivals, fast schon vergessen, wie eine Kopie eines Dardennes-Films. „Kreuzweg“ von Brüggemann wurde einhellig von nationaler und internationaler Kritik zum Favoriten erkoren. Warum? Was läuft da schief? Der Film hat zwar eine strenge Form (die geschickt von Ulrich Seidl geklaut ist), hält sie aber nicht durch, lässt den christlichen Fundamentalismus durch massive Drehbuchfehler mit einem blauen Auge davonkommen. Zwischen WeltenEs ist ein gut gemeinter Film. Wie so viele Filme im Wettbewerb lediglich gut gemeint sind. Aber ist das Kino? Kino im Jahr 2014? Feige, naiv und immer bemüht niemandem auf den Fuß zu treten?

Der vierte deutsche Wettbewerbsfilm, Feo Aladags „Zwischen Welten“, ist auch so ein Thesenfilm. Ein in Afghanistan stationierter Hauptmann (Ronald Zehrfeld) wird durch die wachsende Freundschaft zu einem afghanischen Dolmetscher zum Sklaven seiner selbst. Er ist hin und her gerissen zwischen seinen Emotionen und seiner Befehlskette. Mörsergranaten explodieren, es gibt Anschläge. Die Deutschen wollen aber nur helfen.

Aladags Ansatz ist ehrenwert, und für deutsche Verhältnisse trifft ihr Film durchaus die mittlerweile fast schon etablierte Form des Kriegsfilms. Aber die Konflikte sind plakativ. Die Emotionen kochen nicht hoch. Weil Aladag allem aus dem Weg geht. Sich nicht traut. Alles was wir sehen, davon wissen wir schon. Haben es gelesen oder in den Fernsehnachrichten gesehen. „Zwischen Welten“ ist mit einer Geste inszeniert die vermuten lässt, die deutsche Afghanistanmission hätte erst gestern begonnen. Hat denn niemand hier „The Hurt Locker“ gesehen? Oder „Zero Dark Thirty“? Weniger inhaltlich, sondern den filmischen Ansatz? Dann hätte man Filme gesehen, die es sich nicht leicht machen, die ihre Probleme nicht nur im Dialog, sondern in der Form verhandeln. Feo Aladag ist keine Kathryn Bigelow. Das muss sie nicht sein. Aber mutiger, das muss eine Regisseurin sein. Es gab am Ende Buh-Rufe. Auch wenn das immer etwas doof ist, man konnte sie irgendwie verstehen.

Titel, Thesen, Temperamente

Praja do FuturoFehlverstandene Thesenfilme sind auch „Praja do futuro“ aus Brasilien, „Stratos“ aus Griechenland und „Aloft“ der ehemaligen Berlinale-Gewinnerin Claudia Llosa. „Praja do futuro“ ist eine angebrochene Liebesgeschichte zweier Männer, die erst in Brasilien beginnt und dann in Berlin endet. Ein Todesfall führt einen deutschen Touristen (Clemens Schick) und einen brasilianischen Kapitän zusammen. Die Männer verlieben sich. In Berlin definiert sich die Beziehung nur noch über den Sex. Sie zerbricht. Der Film hat viele Leerstellen und noch mehr Wassermetaphern. Er hat Cinemascope-Bilder, die in anderen Filmen besser aufgehoben wären. Es ist alles gut gemeint. Vor allem die Frage, ob Berlin eine Stadt ist, in der sich alle Sehnsüchte verwirklichen lassen. Aber dann geht der Regisseur allen Konflikten aus dem Weg. Die Leerstellen soll jeder selber füllen. Das ist in den richtigen Händen klug und intelligent. Hier wirkt es feige.

Das gleiche gilt für „Stratos“, indem ein Auftragskiller einen ehemaligen Auftraggeber aus dem Gefängnis holen will. Doch dann geht alles schief. Yannis Economidis‘ Film besteht fast nur aus Dialogen, die wiederum aus griechischen Schimpfwörtern bestehen. Das soll Pop sein. Pulp fiction a la Quentin Tarantino. Aber dann doch ohne Mut und ohne Rhythmusgefühl, ohne außergewöhnlichen Witz und Überraschungsmoment. Wieder das Prinzip: Leerstelle. Das bleibt dann auch von „Stratos“ übrig.

AloftEin viel schlimmerer Flop ist Claudio Llosas erster englischsprachiger Film „Aloft“. Die zu unterbeschäftigte Jennifer Connelly spielt eine alleinerziehende Mutter mit zwei kleinen Söhnen. Einer hat einen Tumor. Im ewigen Schnee Kanadas gibt es eine Art Wunderheiler, der aus Zweigen Kunstwerke baut, die heilen können. Oder auch nicht. Keine Ahnung was da eigentlich passiert, denn der Film sagt nichts, zeigt nichts. Es gibt dann noch einen Zeitsprung. Einer von Conellys Söhnen ist erwachsen und züchtet Falken. Eine Journalistin besucht ihn, gibt vor, eine Doku über die Falknerei drehen zu wollen, will aber nur zu seiner Mutter, die mittlerweile selbst zur Kunst-Heilerin geworden ist. Wer jetzt die Stirn runzelt, nichts versteht, dem geht es so wie allen, die diesen sehr misslungenen Film sehen mussten. Die wabernden Bilder suggerieren die großen Themen Erlösung und Vergebung. Aber alles ist behauptet, nichts wird konkret. Wieder: Leerstelle.

Wir erinnern uns an P.T. Andersons „Magnolia“, Atom Egoyans „The Sweet Hereafter“, Filme, die den Mut haben, ihre Themen auch zu verhandeln, ihre Figuren widersprüchlich anlegen, Emotionen generieren, formbewusst nach Bildern suchen, die nicht nur plakativ Synonyme bebildern. „La teta asustada“ hieß Llosas Siegerfilm vor ein paar Jahren. Es war ein Film, der von der Trauer und Qual der Diktatur zu erzählen wusste, indem er mit glasklaren Metaphern ausgestattet war, die Ängste drastisch benannten. „Aloft“ irrlichtert in furchtbar pathetischen Bild und Tonwelten vor sich hin. Es ist eine Qual.

Die dritte Seite des FlussesGegen dieses Niveau, das der Wettbewerb in seiner zweiten Hälfte angeschlagen hat, wirkt Celina Murgas Arthouse-Drama „Die dritte Seite des Flusses“ wie ein großes Werk, auch wenn es auf jedem anderen Festival kaum Beachtung finden würde. Murga ist ein Zögling von Martin Scorsese, der auch vollmundig in einer Blende den Film präsentiert und so mit seinem Namen schmückt. Der Vorspann, bestehend aus kopflosen Scherenschnittfiguren, erinnert plötzlich auch an die Vorspannkunst eines Saul Bass. Der Film selbst ist eine stille Coming-of-Age Geschichte. Ein Teenager sammelt den Mut, um seinem Vater die Stirn zu bieten. Der Vater hat eine Zweitfamilie. In den Augen des Sohnes wird der Schwester und der Mutter Unrecht getan. Die Wut staut sich auf und entlädt sich in einem Akt der Gewalt, der gleichzeitig ein Akt der Loslösung und des Erwachsenwerdens ist.

„Die dritte Seite des Flusses“ macht nichts falsch. Er hat ein kluges und sauber konstruiertes Drehbuch. Er schafft es sogar, die Übermacht des Vaters rein atmosphärisch in Bilder zu fassen, indem er den rundlichen Mann immer leicht aus der Froschperspektive zeigt. Erst als sein Sohn ihm die Stirn bietet, treffen sich beide auf Augenhöhe. Thesenkino? Nein. Moderne Filmkunst? Auch nicht. Aber in diesem Wettbewerb sicherlich eines der wenigen Glanzlichter. 

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Sonntag, 09.02.2014: Der Sehende unter den Blinden

Den ganz großen Flop sucht man im Wettbewerb noch vergebens. Haben sich etwas alle bösen Vorurteile als falsch erwiesen? Selbst die deutschen Beiträge erweisen als durchaus interessant. Doch der wahre Siegerfilm kommt vielleicht aus China.

NymphomaniacLars von Trier ist gekommen. Das hat viele gewundert, wollte sich der depressive Dogma-Däne nach dem Nazi-Eklat in Cannes doch von Festivals fernhalten. In Berlin zeigte er den ersten Teil seines neusten Films „Nymphomaniac I“ in der ungeschnittenen Fassung. Doch Lars blieb nur zum Photocall, ließ sich von den Fotografen mit einem „Persona non grata in Cannes“-T-Shirt ablichten und verschwand. Für den beabsichtigten (kleinen) Eklat sorgte einer der Hauptdarsteller der Films, Shia LaBoeuf, der ohne gefragt zu werden Eric Cantonas berühmt-kryptische Möwen-Aussage zitierte, aufstand und den Saal verließ. Seit den Plagiatsvorwürfen die gegen seinen Kurzfilm „The Critic“ erhoben wurden, durchlebt Shia LaBoeuf seine rebellische Phase und zitiert nur noch Aussagen anderer. Auf dem roten Teppich ging er dann mit einer Papiertüte über dem Kopf.

Wichtiger ist der Film. „Nymphomaniac I“ schildert das Krankheitsbild der Nymphomanie in Kapiteln aus dem Leben der Nymphomanin Joe. Als Erwachsene wird sie von Charlotte Gainsbourg gespielt, die von einem Mann (Stellan Skarsgard) wundgeschlagen in einer Straße gefunden wird. Ihm erzählt sie von ihrem Leben, ihrer Sexsucht, den Männern die sie hatte und der Unmöglichkeit in einer regulären Beziehung zu leben.

Lars von Trier hat seine Selbsttherapie-Phase, die aus „Antichrist“ und „Melancholia“ bestand, hinter sich gelassen und tritt ein wenig hinter seinen Stoff zurück. Und wenn er das macht, gelingen ihm bisweilen die eigentümlichsten Werke. Von Trier ist wie ein Steinmetz, der sich ein Thema, hier: Sexualität, nimmt und mit seinem Meißel bearbeitet, um dann auf hoch interessante Verbindungen zu stoßen. Hier mischen sich Sexualität und Bach, Vaterliebe und Arbeitslosigkeit, Mathematik und Fliegenfischen – zu einer sehr intensiven Innenansicht der Hauptfigur. Der Sex ist alles andere als schockierend. Er ist Ausdruck der Nymphomanie, er ist lediglich Teil der Geschichte aber keinesfalls provokativ oder empörendswert. Ob sich „Nymphomaniac“ als ganz großes Meisterwerk erweisen wird, dazu muss man noch auf den zweiten Teil warten, der dann aber auch – entlang des Suchtverlaufs – an Härte gewinnen soll.

Maria beschließt zu sterben

KreuzwegZurück zum offiziellen Rennen um den goldenen Bären. Da feierte Dietrich Brüggemann mit seinem Stationendrama „Kreuzweg“ die dritte deutsche Weltpremiere im Wettbewerb. Darin beobachtet Brüggemann, wie sich die streng katholisch erzogene Teenagerin Maria von ihrem Glauben das Leben diktieren lässt. Sie gehört mit ihrer Familie einer fundamentalistischen Brüderschaft an, die wohl der real existierenden Pius-Brüderschaft nachempfunden wurde. In 14 Episoden, die den 14 Stationen des Kreuzweges entsprechen, will Maria ihren kranken, wohl autistischen Bruder retten, indem sie ihr Leben Gott geben will. In der Zeit wird Maria in Versuchung geführt. Von einem Jungen, der sie zu seinem Chor einladen möchte. Aber Maria strauchelt nur ein wenig und ist dann fest entschlossen zu sterben.

Brüggemanns Form ist streng, seine Einstellungen starr. „Kreuzweg“ ist ein Film über die negative Auswirkung einer radikalen Glaubensausrichtung. Er ist wirkungsvoll und kräftig. Doch dann gibt es dramaturgische Fehler, die an seiner Glaubwürdigkeit zweifeln lassen. Dann gerät „Kreuzweg“ in den Verdacht das System, das er kritisiert, wieder in Schutz zu nehmen. Leider kann man nicht viel konkreter werden, ohne massive Wendungen preis zu geben.

Historia del MiedoDie Ängste der Reichen

Ängste in einer ganz anderen Form nimmt der Argentinier Benjamin Naishtat in seinem Debüt „Historia del Miedo“ in den Fokus. Sein Film ist ein Mosaik aus Szenen aus einer argentinischen gated community, in der sich reiche Bürger vor den Ausschreitungen und der Kriminalität der armen Stadtviertel abschirmen. Es gibt keinen zusammenhängen Plot, kein Geschichte, nur Momente der Verunsicherung und Angst. Wenn die Alarmanlage in einem Haus angeht und niemand da ist, Hunde bellen, Feuerwerksköper klingen wie Sprengsätze, Gegensprechanlagen entwickeln eine Art Eigenleben und die Lichter am Pförtnerhaus gehen immer mal wieder aus. Manipulation oder Zufall? So wie der argentinische Regisseur mit den großbürgerlichen Ängsten umgeht, erinnert das an seinen Rändern an Louis Bunuel. Doch man hat hier niemandem einen Gefallen getan, den Film in den Wettbewerb zu holen. „Historia del Miedo“ ist ein Forumsfilm, der mit den Erwartungen im Wettbewerb eher in Konflikt gerät. Diese Skizze der Angst ist in ihren Umrissen interessant, kommt aber darüber nicht hinaus und erntet deshalb vielleicht diese heftigen, negativen Kritiken bei den Kollegen.

Bärenfavorit aus China

Blind MassageGanz anders müsste das bei dem neuen Film des Chinesen Lou Ye sein. Sein „Blind Massage“ ist das erste überwältigende Glanzstück im Wettbewerb. „Blind Massage“ basiert auf einem Roman des Schriftstellers Bi Feiyu und spielt vor allem in einer kleinen Massagepraxis im Herzen der chinesischen Metropole Nanjing. Wie eine weibliche Off-Stimme erklärt, hat die Praxis regen Zulauf „in Zeiten des großen Geldes“. Die Reichen legen sich hier gerne auf die Matte und begeben sich in fachmännische Hände. Das Besondere an den Mitarbeitern: Sie sind alle blind. Kurz und ohne herkömmliche Exposition stellt uns der Film einige vor. Darunter vor allem den jungen Xiao Ma, der sich umbringen wollte als die Ärzte ihm mitteilten, dass er nie wieder sehen wird. Für ihn und alle Mitarbeiter ist die Massagepraxis ein Ort der Anerkennung. Zwischen den Männern und Frauen der Belegschaft entstehen Freundschaften. Aber die Welt der Blinden, die Dunkelheit, in der sie leben, ist auch voller Begehren und Leidenschaft. 

Lou Ye erzählt fragmentarisch, folgt mal dem Mitarbeiter, dann einem anderen. Doch der Großteil des Films spielt in der Praxis und lotet die großen Verwirrungen der Gefühle der blinden Masseure aus. Er interessiert sich nicht für ihre Geschichte oder die Umstände ihrer Blindheit. „Blind Massage“ ist zum Glück auch keine Allegorie auf die chinesische Gesellschaft. Diese Figuren sind keine plakative Metapher auf das entrechtete Individuum im Regime. Lou Ye ist dafür viel zu klug. Er will, dass wir die Welt dieser Menschen erfahren, will, dass wir in ihren Konflikten aufgehen und begreifen, dass das Verlieben und Entlieben genauso schön und schmerzhaft sein kann wie unter den Sehenden. So öffnet der Film uns die Tür zu einer Welt, die uns fremd ist. Eine im Wettbewerb bislang einzigartige Erfahrung. D e r Bärenfavorit.

Welttheater aus Frankreich

Wem das alles nichts war konnte sich beim französischen Altmeister Resnais erholen. Aimer, boirer et chanterSeine Boulevardkomödie „Aimer, boirer et chanter“ ist wieder mal herrlich altmodisch und basiert abermals auf einem Theaterstück des britischen Dramatikers Alan Ayckbourne. In „Aimer, boire et chanter“ erfahren Mitglieder einer Amateurtheatergruppe, dass ihr enger Freund George Riley an Krebs erkrankt ist und keine sechs Monate mehr zu leben hat. Die Nachricht von seinem nahenden Tod, setzt in den Freunden verdrängte Sehnsüchte und vergessene Lebensentwürfe frei. Die Männer sinnieren über die Ungerechtigkeit des Todes, die einen so tollen Menschen viel zu früh mit sich reißen wird. Die Frauen wiederum geraten zunehmend aneinander, weil jede von Ihnen von George auf dessen letzte Urlaubsreise nach Teneriffa mitgenommen werden möchte. Die Emotionen kochen hoch, während die Jahreszeiten an allen Beteiligten vorbei gleiten und der schwer erkrankte George zwar immer Gesprächsthema ist, aber nie selbst in Erscheinung tritt. 

Resnais ist ein unberechenbarer Regisseur. Auch im hohen Alter ist er fähig sich zum Erneuerer des Kinos aufzuschwingen. Aber „Aimer, boirer et chanter“ hat nicht den Atem dafür. Es wird ein kleines aber feines Nebenwerk in seinem mehrere Jahrzehnte umfassenden Œuvre einnehmen. Dennoch: Ein feines Stück Kino auf der Berlinale.

KraftidiotenWeniger fein aber sehr schwarzhumorig ist Hans Petter Molands Gangstergroteske „Kraftidioten“ mit Stellan Skarsgard und Bruno Ganz. Skarsgard spielt einen ruhigen Bürger, der vom Tod seines Sohnes erfährt. Angeblich eine Überdosis. Doch er glaubt nicht daran und fängt an Mafiagesellen umzubringen. Und nur darum geht’s. Wie unterschiedliche Tötungsmethoden überhöht werden können. Das erinnert dann an den besten Stellen an „Fargo“ der Coens oder an Tarantino. Aber dafür hätte dem Film ein etwas schnelleres Tempo gut getan. Vieles deutet auf ein amerikanisches Remake hin. Dann mit Pitt und Nicholas Cage als durchgeknallte Bio-Gangster. Bruno Ganz als serbischer Gangsterboss kann seine Rolle dann auch noch weiter spielen. Ansonsten bleibt „Kraftidioten“ vergnüglich, wenn auch mit Längen. Ein vollmundiger Coen- oder Tarantino-Ersatz ist er aber nicht.
 

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Samstag, 08.02.2014: Zwei Mädchen aus Wales und die Liebe zum Dichter

Berlin wurde zu George-Town. George Clooney Town. Menschenmassen wurden hysterisch, ein Filmjournalist erlitt während der Pressevorführung seines neusten Films „The Monuments Men“ einen Herzinfarkt. Aber der eigentliche Star des Tages ist das ungeliebte Kind des deutschen Kinos: Dominik Graf.

Die geliebten SchwesternAcht Jahre ist es her, dass der deutsche Regisseur Dominik Graf einen Kinofilm gedreht hat. „Der rote Kakadu“ lief damals im Panorama der Berlinale. Im Kino später war er ein Flop. Es ist der Fluch von Dominik Graf, der ewig als bester deutscher Regisseur gilt, aber nur im Fernsehen positive Kritiken erntet (wie für seine Tatort-Episoden, z.B. „Frau Bu lacht“ oder seine Mini-Serie „Im Angesichts des Verbrechens“). Mit „Die geliebten Schwestern“ ist dem Graf ein ziemlicher Coup gelungen. Graf verfilmt das Liebesdreieck zwischen dem deutschen Dichterfürsten Friedrich Schiller (Florian Stetter) und den Schwestern Charlotte und Caroline von Legenfeld (Henriette Confurius und Hannah Herzsprung). Kurz vor der französischen Revolution 1788 erleben die drei einen aufwühlenden Sommer in Rudolfstadt an der Saale. Die Liaison wird zum Lackmustest für den ultimativen Freiheitsbegriff Schillers und den der Schwestern. Kann man zwei Menschen zu gleichen Teilen lieben? Wo hört dieses Gefühl auf, wo fängt Eifersucht an?

Graf zeigt diesen fließenden Übergang mit einer Präzision und Intensität, die an Truffauts verkanntes Meisterwerk „Zwei Mädchen aus Wales und die Liebe zum Kontinent“ erinnert. Dabei helfen ihm grandiose deutsche Schauspieler, die den historischen Figuren Leben einhauchen. „Die geliebten Schwestern“ ist kein Schullektüren-Film. Es ist ein Geschichtsfilm wie ihn die Franzosen bis zur Perfektion beherrschen. Regisseure wie Bertrand Travernier oder Jaques Rivette verfilmen seit Jahrzehnten Novellen von Balzac und Co. Dabei betonen sie stets, dass die Menschen damals gar nicht wussten, dass sie mal in die Geschichtsbücher kommen werden. Sie trugen das Korsett und die Strumpfhosen wie wir heute die Hipster-Jeans oder den Anzug.

Die geliebten SchwesternDieses Bewusstsein bannt auch Graf auf die Leinwand. Zudem nutzt er das ganze Repertoire eines Regisseurs: Standbilder, fliegende, bunte Texttafeln, mehrfache Off-Kommentare, adressiert das Publikum, spricht selber über seine Figuren, verwendet Wischblenden und wagemutige Zooms, die ganz bewusst an Stanley Kubricks „Barry Lyndon“ erinnern. Das alles wirkt, als hätte jemand die Fenster aufgerissen. Als ströme von heute an ein frischer Wind durch das deutsche Kino. Man kann nur hoffen, dass ein großes Publikum das zu schätzen weiß. 

Am Ende ist „Die geliebten Schwestern“ auch eine ganz große Metapher auf das Schaffen von Dominik Graf. Er selbst könnte Schiller sein. Ein Mann, der sowohl das Kino als auch das Fernsehen liebt und immer wieder von allen Seiten gezwungen wird sich für eins zu entscheiden. Auch deshalb ist es nur konsequent, dass Dominik Graf teile des Off-Kommentars selber spricht. Und er spricht es hervorragend. Etwas genuschelt, leicht an den Betonungen vorbei. Und immer auch kommentierend. Als wisse er etwas mehr. Das kennt man schon aus seinen Essay-Filmen wie „München - Geheimnisse einer Großstadt“.

Und man müsste weiter schreiben. Über das Verhältnis von Graf zu - wie schon erwähnt - Truffaut. In einem seiner Filmessays schrieb Graf über Truffauts „Zwei Mädchen aus Wales und die Liebe zum Kontinent“: „Kommerziell sein tiefster Fall, was eigentlich egal ist, aber ihm war‘s gar nicht egal, dazu war er zu liebesbedürftig.“

Truffaut zerbrach an der Aufgabe seinen Film von gut 150 Minuten auf knappe 119 zu stutzen. Graf ist da wesentlich pragmatischer. Um Liebe würde er nie betteln. Deshalb gibt es gleich drei Varianten seines Films. Eine 170-minütige Festivalversion. Eine 140-minütige Kinoversion und eine 190 Minuten lange Fernsehversion, die dann artgerecht - und wie fürs öffentlich-rechtliche Fernsehen üblich - in zwei Teilen á 95 Minuten in der Nacht einem kleinen, treuen Publikum gezeigt werden kann.

 

Sorry, George!

The Monuments MenWar noch was? Achja. George Clooney und „The Monuments Men“. Die Amerikaner können die Zeitgeschichte immer am besten in Entertainment verwandeln. Doch der Ansatz, eine schnelle Einsatztruppe (zu der u.a. Bill Murray, John Goodman, Matt Damon und Jean Dujardin gehören) während des Zweiten Weltkriegs zu porträtieren, die dafür sorgen sollte, dass die großen europäischen Kunstwerke nicht von den Nazis vernichtet werden, scheitert. Er scheitert daran, dass Clooney ein mittelmäßiger bis schlechter Regisseur ist, der kein Gespür dafür hat Plotentwicklungen zu verfolgen. Er ist schlampig. Er opfert interessante Momente dem Gag und billigen Sketch. Da hilft es nichts, dass seine Freunde wie Matt Damon, Bill Murray oder John Goodman wieder mit an Bord sind. Sie sind Perlen, die vor die Säue geworfen werden.

Am Ende der Vorstellung schreit eine Frau: „Das ist eine Schande für die Zeitgeschichte! Buh!“ Sie übertreibt. In den Händen eines guten Regisseurs wie z.B. Steven Soderbergh wäre aus „The Monuments Men“ sicherlich ein unterhaltsamer, kluger Film geworden, der nicht nur eine vergessene Episode aus dem Zweiten Weltkrieg nacherzählt, sondern seine Figuren auch jene Daseinsberichtigung verleiht, die sie verdienen. Bei Clooney sind es Abziehbilder. Und am Ende sind wir froh, dass es dann doch alles schnell vorbei ist.

Das große MuseumDas coolste Museum Europas

Andere Bilderdiebe, die viel unterhaltsamer sind, sind die Mitarbeiter des Kunsthistorischen Museums in Wien. Sie sind der wahre Hauptdarsteller in der Beobachtungsstudie „Das große Museum“ (Forum). Der österreichische Film beobachtet das Treiben in dem wichtigsten Museum der österreichischen Hauptstadt. Der Direktor, der ein neues Logo sucht, die Kuratorin, die versucht das Geld beisammen zu halten, Restauratoren, Putz- und Servicekräfte - sie alle beobachten wir bei ihrer alltäglichen Arbeit. Das ist mal komisch, dann wieder tragisch. Der Film mäandert vor sich hin und manchmal nimmt er allzu billige Pointen dankbar mit. Aber kann man sich einem Ort entziehen in dem Bruegel-Gemälde hängen? Ich jedenfalls nicht.

Auch nicht entziehen kann man sich der Kurzgeschichten-Magie des australischen Schriftstellers Tim Winton. Der Film „The Turning“ verfilmt 18 seiner Geschichten. Der Omnibusfilm bietet daher auch jeden großen und kleinen Star des australischen Kinos auf. Cate Blanchett, Rose Byrne, Miranda Otto, Hugo Weaving oder Richard Roxburgh. Manche Episoden werden klassisch erzählt, andere lesen die Kurzgeschichten aus dem Off, dann gibt es interessante Spielereien wie eine Episode in Zeitlupe, reine Animation oder eine Episode, die als Fotoroman im Splitscreen-Modus in Szene gesetzt wird. Bei so vielen Episoden gibt es einige, die sich einprägen, andere die schnell vergessen sind. Doch die Menge der Episoden wirkt dann doch erdrückend und macht „The Turning“, der hier im Berlinale Special läuft, zu einer sehr anstrengenden Seherfahrung.

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Freitag, 07.02.2014: Männer am Rande des Nervenzusammenbruchs

Erste schöne Überraschungen finden sich unter den drei Wettbewerbsfilmen des Freitags. Zu den Entdeckungen gehören ein energischer Berliner Junge und ein britischer Soldat in Belfast. Für einen wahren Langweiler sorgte ein Film mit Forest Whitaker.

Jack ist zehn Jahre alt. Er hat einen kleineren Bruder und eine junge, unreife Mutter. Deshalb ist Jack schon mit zehn Jahren sehr erwachsen. Nach seinen Möglichkeiten sorgt er für seinen Bruder, macht ihm essen und passt auf seine Mutter auf. Andere Männer duldet er nicht, vergrault sie regelmäßig. Jack ist Beschützer und guter Geist. Aber Jack macht – in dem gleichnamigen Film des deutschen Regisseurs Edward Berger – einen Fehler. Sein Bruder verbrennt sich erheblich und das Jugendamt steht auf der Matte. Sanne, seine Mutter, entscheidet sich Jack ins Heim zu geben. Im Heim selber kann er sich nicht durchsetzen. Als ihn Sanne während der Ferien nicht abholt, rennt Jack los. Sucht seinen Bruder und dann seine Mutter. Doch die beiden Jungen irren durch das heutige Berlin, verstoßen von einer Mutter, die selbst noch ein Kind ist.

Jack„Jack“ ist eine wirklich angenehme Überraschung. Ein Film, der sich von der ersten Einstellung an seinen Protagonisten klemmt. Die Kamera lässt Jack nie aus dem Blick. Sie sieht ihm dabei zu, wie das Energiebündel alles daran setzt, seine Familie zusammen zu halten, wohl in der Hoffnung, dass nur eine intakte Familie auch ihn intakt bleiben lässt. Wir sind sofort erinnert an die Werke der Gebrüder Dardennes oder die frühen Filme von Ken Loach. An ein Kino, das Kinder zeigt, die zu früh erwachsen geworden sind und so auf unsere Gegenwart blicken. Edward Berger macht das auch. Und dabei umgeht er erstaunlich oft Fallstricke und vermeidet weitestgehend billige Psychologisierungen. Das zeigt sich sehr gut an der Figur der Mutter, die hier nicht wie z.B. bei Andrea Arnolds „Fish Tank“ als Muttermonster auftritt, sondern als naive aber dann doch nachvollziehbare Endzwanzigerin, die mit ihren beiden Jungs maßlos überfordert ist.

Berger, der bisher eher als solider Tatortregisseur aufgefallen ist, hat auch ein sehr gutes Auge für das heutige Berlin. Die Wege, die Jack mit seinem Bruder zurücklegt, sind keine filmischen Abkürzungen. Niemand fährt hier am Reichstag links und landet dann an der Oberbaumbrücke. Das hat schon seinen Wert, denn der Film zollt der Umgebung seiner Figur großen Respekt. Und Jacks Berlin ist ein Berlin der Überführungen, Straßenkreuzungen, U-Bahn-Tunnel, Parkbänke und Fußgängerpassagen.

„Jack“ ist ein Film – und das ist im deutschen Kino so selten – der im hier und jetzt spielt, ein Film, der sich täglich auch in einigen Mietwohnungen genau so abspielt. Und ganz nebenbei stellt uns Edward Berger einen hervorragenden Jungschauspieler vor, Ivo Pietzcker, der seinem Jack etwas Rohes und Natürliches verleiht.

Zwischen den Fronten

`71Roh ist auch die Umgebung des britischen Wettbewerbsbeitrages „‘71“ von Yann Demange, in dem ein junger Soldat bei den Ausschreitungen in Belfast, 1971, von seiner Kompanie in einem Gerangel zurückgelassen wird und sich irgendwie zurück in seine Baracke schlagen muss. Dabei gerät er mal in Hände der IRA, dann wieder in die Hände der Protestanten. Der Soldat selbst bleibt dabei konsequent Leerstelle. Ein Körper, der hin und her gewirbelt wird. Seine Gefühlsregungen und Handlungsmotivationen sind sehr grundlegend: überleben. Keine Küchenpsychologie. Das ist wohltuend, der Film wird dann sehr unmittelbar. Eine Empathiemaschine, die uns selbst testet. Wem können und sollen wir trauen? Mit wem sollen wir mitfühlen? Ein sehr interessantes und über weite Strecken auch sehr ökonomisch inszeniertes Kino, das nochmal die Qualität des jungen, britischen Films unterstreicht. Schade nur, dass der Film über eine dramaturgische Klammer verfügt, die unserem ansonsten so stummen Helden dann doch noch einen kleinen Bruder andichtet. Das wirkt ungelenk und schadet der Endwahrnehmung des Films erheblich.

Two Men in TownEin Häftling sieht rot

Ganz und gar langweilig ist der neue Film des maghrebinischen Regisseurs Rachid Bouchareb. „Two Men in Town“ („La voie de l’ennemi“) erzählt die bekannte Geschichte eines entlassenen Häftlings, der sich kurze Zeit nach seiner Entlassung mit den Dämonen seiner Vergangenheit auseinandersetzen muss und dabei immer wieder in Versuchung gerät wieder kriminell zu werden.

Der Häftling wird hier von Oscargewinner Forest Whitaker gespielt. Seine Bewährungshelferin von Brenda Blethyn. Es gibt noch einen konservativen, rachsüchtigen Sheriff gespielt von Harvey Keitel. Sie alle stolpern durch diesen Film, der der formelhaften Erzählung nichts Interessantes entgegenzusetzen weiß. Hier funktioniert nichts so richtig. Die Konflikte bleiben plakativ und irgendwann verliert der Film sein Interesse an Blethyn und Keitel und lässt sie einfach verschwinden. Dann bleibt nur noch Whitaker, den man aus dieser Rolle einfach nur befreien möchte. Der innerliche Kampf seines frisch zum Islam konvertierten Ex-Häftlings hat keinen Eigenwert, keinen besonderen dramaturgischen Sinn. Allen Beteiligten hätte man am Ende doch einen wesentlich besseren Film gewünscht. 


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Donnerstag, 06.02.2014: Pastellfarbene Witze

Grand Budapest HotelJedes Festival darf sich glücklich schätzen, wenn es mit einem Film von Wes Anderson eröffnen darf. So auch die diesjährige Berlinale. Nicht nur Starpower ist garantiert, sondern auch ein Mut zur Eigenwilligkeit, der im Weltkino seines Gleichen sucht.

Irgendwie stolpert der junger Schriftsteller (Jude Law) in das einst legendäre Budapest Hotel in Osteuropa. Viele Gäste sind nicht mehr da. Nach ein paar Tagen kennen sich alle vom Sehen. Doch dann taucht da eine Gestalt auf, die den Schriftsteller sehr interessiert. Es ist Mr. Moustafa Zéro (F. Murray Abraham) - der Besitzer des Hotels. Bei einem langen Abendessen erzählt er dem jungen Gast, wie er einst zu dieser Stellung gekommen ist. Es ist zum einen seine eigene Geschichte, des mittellosen Immigranten, der in den 1930er Jahren als Lobby Boy in ein aberwitziges Abenteuer gerät. Und zum anderen ist es die Geschichte seines Vorgesetzten, des Concierge M. Goustave (kongenial: Ralph Fiennes), der alte Damen beglückt, plötzlich ein Vermögen erbt und dann in die Fänge eines rachsüchtigen Clans und später auch der SS-Milizen gerät.

Die Frage, die „The Grand Budapest Hotel“ von der ersten Rückblende an stellt, ist folgende: Ist Wes Anderson bereit seinen doch so bewusst verschlossenen Kosmos, mit all seinen verschrobenen und liebgewordenen Figuren, nun auch durchlässig für historische Ereignisse zu machen? Ereignisse, wie das Aufkommen des Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg? Das unterscheidet seinen neuen Film von allen seinen anderen Werken. Zwar überträgt der Regisseur die Tagebücher des deutschen Autors Stefan Zweig (von dem er sich hat inspirieren lassen) in seine gewohnt eigenwilligen knallbunten Bilderwelten, doch strahlen sie dieses Mal eine Ernsthaftigkeit aus, die sich nicht mit den emotionalen Trips seiner bisherigen Figuren vergleichen lässt. Der Zweite Weltkrieg unterwandert die Geschichte und wird in der Erzählung immer präsenter. Am Ende, wenn der Krieg dann tatsächlich ausbricht, verschwindet sogar die Farbe auf der Leinwand. Es ist zwar kein atemberaubender dramaturgischer Kniff, aber wer um den Wert der Farbe im Anderson-Kino weiß, der versteht dies als Statement - und es ist ein kraftvolles.

Grand Budapest HotelAber ansonsten ist dies ein typischer Anderson-Film mit all seinen Marotten, die diesen texanischen Dandy zu einem der eigenwilligsten Filmemacher Amerikas machen. Wilde Kamerafahrten, Zooms, Kreisblenden, Fotostill-Collagen, Pastellfarben, Perücken, Glöckchenklänge auf der Tonspur und der obligatorische Off-Kommentar. Wobei dieser diesmal sehr breit angelegt ist, weil in der Rahmenhandlung sowohl Jude Law als auch Murray Abraham die Erzählung kommentieren und dann auch - in der eigentlichen Handlung - hin und wieder die anderen Figuren für kurze, irritierende Momente übernehmen und die Erzählung weiterführen.

Das Drehbuch sprudelt vor kleinen und großen Witzen, die mal elegant, dann wieder lediglich aneinandergereiht über die Leinwand geschoben werden. Doch durch die Länge des Films verliert Anderson ein wenig die Kontrolle und sein sorgsam dirigierter Film bekommt etwas Chaotisches. Spätestens dann fallen einem die vielen Wiederholungen auf. Ab einem gewissen Moment wird „The Grand Budapest Hotel“ sogar behäbig und monoton.

Doch Anderson hat noch ein As im Ärmel. Oder sind es gleich 20? Sein neuer Film ist viel mehr als alle vorherigen ein Starvehikel sondergleichen. Tilda Swinton spielt eine lüsterne Großmutter-Witwe mit bleichen Augen und Perücke. Edward Norton ist ein deutscher Milizenführer, der immer etwas zu spät um die Ecke kommt. Bill Murray ein Mitglied eines geheimen Concierge-Bundes und Willem Dafoe (neben Fiennes sicherlich die größte Überraschung) ein rachsüchtiger Killer, der das pure Böse ausstrahlt. Außerdem mit an Bord: Léa Seydoux, Owen Wilson, Jason Schwartzman, Adrien Brody, Harvey Keitel, Tom Wilkinson, Jeff Goldblum, Mathieu Amalric, und, und , und ... Es wäre sicherlich einfacher aufzuzählen, wer nicht in diesem Film mitspielt als umgekehrt.

Grand Budapest HotelDie schiere - selbst für Anderson-Verhältnisse große - Masse an internationalen Schauspielstars macht den Film phasenweise auch zu einer Art „Erkennst du den Star hinter der Schminke“-Quiz. Auch deshalb wird Wes Anderson weiter das Publikum spalten. Die, die ihn bislang nicht lieb gewonnen haben, werden ihn jetzt auch nicht mehr mögen. Seine Fans hingegen umso mehr.

Es ist für die Berlinale ein toller Beginn. Das ist ohne Frage. Bill Murray sorgte bei der Pressekonferenz für Spaß und witzelte sich durch die - überraschenderweise - respektvollen Fragen der Journalisten. Durch die starke deutsche Koproduktion durfte sich auch Florian Lukas über eine kleine, feine Nebenrolle (oder wie das bei Anderson auch immer heißt, wenn Bill Murray weniger Leinwandzeit bekommt als sein deutscher Kollege) freuen. Irgendwie sind alle glücklich. Und die Kritiker durften weiter diskutieren, ob sich der einzig wahre Autorenfilmer der USA nun in eine neue Schaffensphase begibt, oder ob der Osteuropa-Kitsch-Trip für Anderson nur eine Episode bleibt.

Was uns dann ab morgen in den regulären Wettbewerbsfilmen erwartet - darüber wollte nun an diesem Tag keiner wirklich spekulieren.


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Mittwoch, 05.02.2014: Es geht wieder los

Berlinale 2014

Zum 64. Mal wird in Berlin der rote Teppich für die Internationalen Filmfestspiele ausgerollt. Die Berlinale geht ins 13. Jahr mit Festival-Direktor Dieter Kosslick. Über 400 Filme werden gezeigt, aber nur 20 gehen ins Rennen um den Goldenen Bären. Dieses Jahr mit dabei: vier deutsche Filme.

Warum ist da immer dieses komische Bauchgefühl, wenn man jedes Jahr mit dem Finger über das offizielle Berlinale-Programm huscht? So ein seltsames Unwohlsein, so ein ungutes Gefühl, dass da Filme auf uns warten, die auf eine gewisse Art enttäuschen könnten? Dabei wollen wir die Berlinale als unser größtes Hausfestival doch gern haben. Und dennoch hat man auch dieses Jahr wieder so viele Fragen, und das bereits vor dem Eröffnungsfilm.

Der Wettbewerb

Natürlich landet man zu allererst im Wettbewerb. Dem Herzpatienten des Festivals. Der das eine Mal kränkelt und leidet und dann wieder überraschende Besserung aufweist. Dieses Jahr springt sofort die Tatsache ins Auge, dass gleich vier deutsche Wettbewerbsfilme laufen werden. Vier deutsche Filme! Ist der deutsche Film jetzt etwa doch international konkurrenzfähig? Können sich die neuen Streifen von Feo Aladag („Zwischen Welten“), Dominik Graf („Die Geliebten Schwestern“), Edward Berger („Jack“)  und Dietrich Brüggemann („Kreuzweg“) mit einem Richard Linklater („Boyhood“) oder dem chinesischen Ausnahmeregisseur Lou Ye („Blind Massage“) messen? Wir werden abwarten müssen. Doch das letzte Mal, 2006, als vier deutsche Filme in den Wettbewerb geholt wurden, endete diese Entscheidung in einem kleinen Desaster, so dass der Festivalleiter Kosslick sagte, er würde lange warten, bis er sich wieder traue vier deutsche Filme in der Konkurrenz um den Goldenen Bären starten zu lassen. Diese Zeit scheint nun vorbei…

Neben dem deutschen Kino fällt dieses Jahr vor allem die starke Präsenz des asiatischen Kinos auf. Drei Filme aus China, davon einer von Nig Hao („No Man’s Land“), der von der chinesischen Zensur zurückgehalten wurde und jetzt mit einem, der Zensur genehmen, Ende auf der Berlinale gezeigt werden darf. Auch der neue Film des japanischen Altmeisters Yoji Yamada verspricht wieder ein großes, tränenreiches Melodram zu werden. Etwas, wofür man ihn lieben muss. Mit dem neuen, vermutlich letzten Film des französischen Filmgroßvaters Alain Resnais („Life of Riley“) ist auch schon der größte Autorenname des Wettbewerbs benannt. Vieles andere, wie so häufig, muss uns erstmal überraschen. Filme aus Südamerika scheinen auch dominant zu sein. Aber auch das kann in Berlin schon mal nach hinten losgehen.

Berlinale 2014Die Jury

Wer am Ende als Sieger aus der ganzen Geschichte entsteigen wird, entscheidet – wie immer – die internationale Jury. Der Präsident ist dieses Mal der amerikanische Independent-Produzent James Schamus. Das ist im ersten Augenblick vielleicht kein Name der jedem etwas sagt. Aber Schamus‘ Arbeit in der amerikanischen Filmindustrie hat über Jahre hinweg Filme ermöglicht, die im Blockbuster-dominierten Umfeld Hollywoods kaum entstanden wären. Unter anderem die Filme Ang Lees und noch Werke wie „Dem Himmel so fern“, „Vergiss mein nicht“, „Lost in Translation“, „Milk“, „Dallas Buyers Club“. Seine Ernennung zum Jury-Präsidenten darf durchaus auch als Zeichen an die Industrie gelesen werden, und Intern hat sie auch bereits bei vielen Konkurrenten für großes Erstaunen gesorgt. Schmaus zur Seite sitzt der Gegenpart, Mrs. Bond, Barbara Broccoli, die mit dem Bond-Franchise als erfolgreichste Produzentin der Welt gilt. Der zweifache Oscarpreisträger Christoph Waltz nimmt eine Auszeit vom Drehen, um (wie bereits in Cannes) wieder in einer Jury zu sitzen. Seine Kolleginnen, die dänische Ausnahmedarstellerin Trine Dyrholm und das Indie-Darling Greta Gerwig helfen ihm dabei - genauso wie der chinesische Superstar und Frauenschwarm Tony Leung. Die Regieseite der Jury besetzen dieses Jahr: der Franzose Michel Gondry und die Iranerin Mitra Farahani. Eine hoch interessante Jury. Doch ihre Qualität werden wir erst am Ende des Festivals bemessen können.

Themen, Thesen, Bilderdiebe

Jenseits der Konkurrenz versammeln sich dann die eigentlichen Stars. Lars von Trier zeigt seine Hardcore-Version von „Nymphomaniac I.“. Bradley Cooper kommt um den Oscar-nominierten „American Hustle“ zu zeigen. Der von allen verehrte George Clooney präsentiert seine neue Regiearbeit „The Monuments Men“ mit seinen Freunden Matt Damon und Bill Murray. Letzterer ist auch im Ensemble des neusten Wes Anderson-Films „The Grand Budapest Hotel“ zu sehen, der das Festival eröffnen wird.

Erstaunlicherweise versprechen all diese Filme zunächst etwas, was die Wettbewerbsbeiträge wohl kaum einhalten werden: reines Kino. Blickt man nämlich auf die Zusammenfassungen der Filme im Wettbewerb, schlägt einem wieder das volle Leiden der Welt ins Gesicht. Filme über Krieg und Vertreibung, Angst und Geldnot. Berlinale-Filme sind meistens Filme „über“ etwas. Thesenkino. Und in den seltensten Momenten kann sich dann die Form dagegen auflehnen. Einen autorenhaften Zugang findet z.B. Wes Anderson ja immer. Sein bunter Bilderreigen ist immer auch Ergänzung und ein Film für sich.

Man kann sich nur wünschen, dass die anderen Regisseure dies auch beherzigen werden. Dass wir auf den Leinwänden der Bundeshauptstadt in den nächsten zehn Tagen nicht lediglich verfilmte Leitartikel sehen werden, sondern erwachsenes, waghalsiges Kino, das das Fenster zur Welt öffnet und hin und wieder sich auch traut, in diese Welt einzutauchen. Dann wird sich auch diese Berlinale wieder einmal bewährt haben. 


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