Nippon Connection 2007

von Andreas Berger / 2. September 2010

Wenn man sich an einem Aprilmorgen in einem Frankfurter Hotel auf den Weg zum Frühstück macht und im Foyer Shinya Tsukamoto sitzen sieht, ist wahrscheinlich wieder mal "Nippon Connection". Dass man dort mittlerweile derart hochkarätige Gäste präsentieren kann - neben Takeshi Kitano, Takashi Miike und Hayao Miyazaki gehört Tsukamoto gewiss zu den in der westlichen Welt bekanntesten japanischen Regisseuren der letzten 15 Jahre - untermauert den Status eines Festivals, das sich mit berechtigtem Stolz als "größte Plattform für japanisches Kino außerhalb Japans" bezeichnen kann. Auch das parallel laufende Kulturprogramm wird von Jahr zu Jahr beeindruckender und reichte 2007 von Breakdance und Puppenspiel bis hin zum Theaterstück. Die Rahmenbedingungen waren also wie gewohnt erfreulich - es bleibt wie immer die Frage: War die Filmauswahl ähnlich gut gelungen?

Am Eröffnungsabend standen zwei sehr unterschiedliche Manga-Verfilmungen auf dem Programm, die allerdings eine Gemeinsamkeit hatten: Männer kamen nur in Nebenrollen vor. "Strawberry Shortcakes" von Hitoshi Yazaki erzählt von vier Single-Frauen in Tokio, doch etwaige "Sex and the City auf japanisch"-Assoziationen würden der Ausrichtung des Films nicht gerecht werden. Von einem Freundinnen-Quartett kann hier jedenfalls nicht die Rede sein - es kennen sich überhaupt nur je zwei der Endzwanzigerinnen, und letztendlich sind alle vier eher als Einzelkämpferinnen auf der Suche nach einem erfüllten Leben oder wenigstens dem richtigen Mann. Yazakis Film ist ohne große Brüche zu gleichen Teilen ernst wie humorvoll und zeichnet sich durch eine angenehm entspannte Erzählweise aus, die man schon an vielen anderen japanischen Dramödien zu schätzen gelernt hat. Unaufgeregt zeigt "Strawberry Shortcakes", wie die Hauptfiguren den verschiedensten - mal alltäglichen, mal existentiellen - Herausforderungen begegnen, vermeidet Klischees und Melodramatik und deutet ganz am Ende dann doch die Aussicht auf eine Freundschaft zwischen den vier jungen Frauen an. Zweifellos ein hübscher Film, der sich allerdings die Frage gefallen lassen muss, ob ein derartiger Stoff unbedingt eine Lauflänge von zwei Stunden überschreiten muss.

Wo die meisten Festival-Zuschauer eines Films wie "Strawberry Shortcakes" ohne einen Blick ins Programmheft vermutlich nicht auf die Idee kämen, dass hier ein Manga verfilmt wurde, sind die Comic-Wurzeln bei Issei Odas "Arch Angels" kaum zu übersehen: Drei Freundinnen, die sich auf einem Mädchen-Internat kennen gelernt haben, kämpfen mit Superkräften gegen das Böse und werden dabei von einem unsagbar mies animierten CGI-Hund (wirkt wie eine sehr frühe Vorstudie für den "Scooby Doo"-Realfilm) unterstützt - das klingt nicht unbedingt nach einer Shakespeare-Adaption. Klarer Fall: "Arch Angels" ist total bescheuert. In seinen besten Momenten immerhin unterhaltsam bescheuert, aber definitiv und ohne jeden Zweifel total bescheuert. 
Natürlich nimmt sich der Film keinen Deut ernst, die Optik ist mit voller Absicht comichaft-künstlich, und auch das recht schnuckelige Hauptfiguren-Trio schaut man sich eine Weile ganz gern an. Spätestens nach der Hälfte der Laufzeit kann man aber nur noch mit größtem Wohlwollen über die kaum nachvollziehbare Geschichte, die extrem preisgünstig wirkenden Computerbilder und die ungelenk inszenierten Actionszenen hinwegsehen. "Ungelenk" trifft den Gesamteindruck von "Arch Angels" eh am besten: Dieses windschiefe Konstrukt lässt jegliche narrative Kohärenz vermissen und lohnt sich vermutlich höchstens für Zuschauer, die sich bereits am bloßen Wiedererkennen von Manga- und Anime-Motiven in einem Realfilm erfreuen können. Wie viel Spaß die Umsetzung derartiger Vorlagen machen kann, hat Hideaki Anno vor ein paar Jahren mit dem prächtig gelungenen "Cutie Honey" bewiesen. Bei "Arch Angels" schießt einem hingegen mangels ausreichender Japanisch-Kenntnisse irgendwann nur noch eine englische Formulierung durch den Kopf: A bloody mess.

Wie der Titel schon andeutet, stehen auch beim dreigeteilten Horrorfilm "Unholy Women" die Damen im Vordergrund. Die Episoden eins und drei warten leider nur mit sattsam bekannten und nicht mehr sonderlich aufregenden Japan-Grusel-Elementen auf, präsentieren diese mal greller ("Rattle Rattle" von Keita Amemiya), mal subtiler ("The Inheritance" von Keisuke Toyoshima), sind aber letztendlich nicht besonders erwähnenswert. Glücklicherweise verbirgt sich zwischen diesen beiden Standard-Beiträgen aber eine echte Perle, nämlich der begnadet bizarre Kurzfilm "Steel" von Takuji Suzuki: Sekiguchi ist ein junger Mann, der in einer kleinen Werkstatt arbeitet. Als sein Chef ihn fragt, ob er nicht mal mit seiner Schwester ausgehen wolle, sagt er nach kurzem Zögern zu, muss beim ersten Date allerdings irritiert feststellen, dass die gesamte obere Körperhälfte seiner Begleiterin in einem schweren Jutesack steckt... Schon allein dieses zentrale Motiv der Frau im Sack ist wunderbar absurd und einprägsam, und Suzuki macht aus dieser Ausgangssituation ein groteskes Kleinod zwischen Slapstick und Körperhorror, das im Kurzfilmformat genau passend aufgehoben erscheint. Wie Sekiguchi fragt sich der staunende Zuschauer nach dem Grund dieser seltsamen Gewandung und was wohl unter dem groben Material vor sich gehen mag - die Andeutungen, die der Film macht, geben zweifellos Anlass zur Beunruhigung. Man kann "Steel" durchaus als originelle und konsequente Bebilderung männlicher Urängste vor dem fremden weiblichen Körper auffassen, in jedem Fall gibt es hier ein echtes Juwel des etwas anderen Kinos zu entdecken, mal witzig, mal trashig, mal verstörend und durchgängig faszinierend.

 

Eine ebensolche Entdeckung war um 1990 auch "Tetsuo", das Langfilm-Debüt eines gewissen Shinya Tsukamoto, der knapp 20 Jahre später als wohl prominentester Gast in Frankfurt sein neues Werk "Nightmare Detective" vorstellte. Eine mysteriöse Selbstmord-Serie, bei der die Opfer wie von Sinnen auf sich eingestochen haben, lässt die zuständigen Ermittler ratlos zurück. Schließlich wendet man sich zur Lösung des Falls an den titelgebenden ‚Nightmare Detective' (gespielt von Ryuhei Matsuda), einen jungen Mann, der in die Träume anderer Menschen eindringen kann. Die Abgründe, die er dort vorfindet, bringen jedoch nicht nur ihn in große Gefahr... In seinen Motiven unterscheidet sich Tsukamotos Film nicht allzu sehr von vielen anderen J-Horror-Beiträgen und variiert einige bekannte Elemente, wie z. B. die Rolle des Internets und von Mobiltelefonen als Verbreiter unheilvoller Botschaften. Das hier gezeigte Japan-Bild ist allerdings ganz besonders finster: Kommunikation findet fast nur noch über die genannten Medien statt und dient dann oft der Verabredung zum gemeinsamen Suizid. Überhaupt sind so ziemlich alle Figuren selbstmordgefährdet, inklusive des wenig heldenhaften, passiven bis apathischen Traum-Detektivs, über den man leider nur wenig erfährt, so wie man die wenig ausgeprägte Figurenzeichnung eh zu den Schwachpunkten des Films zählen muss. 
Doch selbst wenn "Nightmare Detective" unter rein inhaltlichen Gesichtspunkten nur als leicht überdurchschnittlicher Genre-Beitrag durchgeht, macht ihn allein seine Umsetzung mehr als sehenswert. Kein Zweifel: Das hier ist ein ‚echter' Tsukamoto, auch wenn der Regisseur in einem für seine Verhältnisse eher Mainstream-orientierten Umfeld arbeitet. Allein die hyper-aggressive, von einem entsprechenden Sound-Design unterstützte Bildsprache einiger Sequenzen macht den Film zu enorm eindrucksvollem ‚physischen' Kino, das durchaus an die frenetische Energie von Tsukamotos wildem Frühwerk erinnert. Ebenfalls typisch für den Regisseur ist der Kontrast zwischen derartig rasenden Schnitt-Attacken und den ruhigen, faszinierend-fremdartig wirkenden Großstadt-Bildern, die den angemessen düsteren Hintergrund für eine Geschichte voller Lebensmüder abgeben. Der wieder mal tolle Soundtrack von Chu Ishikawa trägt ebenfalls zum gelungenen Gesamteindruck von "Nightmare Detective" bei, so dass man den beiden von Tsukamoto bereits angekündigten Fortsetzungen erwartungsfroh entgegen blicken kann, zumal dort hoffentlich auch die Titelfigur etwas mehr Substanz bekommen wird.

Eine ganz ähnliche Figur wie der ‚Nightmare Detective' steht im Mittelpunkt von Satoshi Kons neuem Anime "Paprika": Dr. Atsuko Chiba arbeitet als Psychotherapeutin mit einer revolutionären Maschine, die es ihr erlaubt, die Träume ihrer Patienten zu betreten und zu beeinflussen. Als dieses Gerät gestohlen und vom unbekannten Dieb für unheilvolle Zwecke missbraucht wird, muss sich Atsuko in Gestalt ihres Traum-Alter-Egos ‚Paprika' auf den gefährlichen Weg ins nicht mehr von ihr kontrollierbare Unterbewusstsein der Schlafenden machen... Dieser Stoff, der zu Beginn noch ein wenig an Tarsem Singhs "The Cell" erinnert, ist bei Satoshi Kon erwartungsgemäß in den besten Händen. Schließlich hat dieser Regisseur bereits seit seinem Debüt "Perfect Blue" immer wieder bewiesen, wie viel Freude er daran hat, die vermeintliche Realität möglichst originell aufzubrechen, und außerdem ist die Gattung des Animationsfilms zur Bebilderung surrealer Traumwelten natürlich per se ganz besonders gut geeignet. Und "Paprika" enttäuscht keineswegs, sondern verblüfft durchgängig mit einem sagenhaften Einfallsreichtum und einer Bildgewalt, die selbst Kons bisheriges Werk verblassen lässt, zumal hier sein animationstechnisch sicherlich aufwändigster Film vorliegt. Da darf ruhig mal das "Nippon Connection"-Programmheft zitiert werden, das mit vollem Recht jubiliert: "Ein visuell überwältigendes Meisterwerk, dem nur noch Staunen entgegenzubringen ist." 
Bei aller Begeisterung über diese mitreißende Achterbahnfahrt durch die verschiedensten Bildarchive von Mythologie bis Popkultur übersieht man fast, dass Kons Film keineswegs nur ein ausgelassenes Fest für die Augen ist, sondern durchaus eine nähere inhaltliche Auseinandersetzung rechtfertigt. "Paprika" thematisiert das Verhältnis von Realität und Illusion nicht allein in der Opposition von Wachen und Träumen, sondern spricht auch von den von Menschen fabrizierten künstlichen Welten im Internet und ganz speziell vom Medium Film. Hier finden sich einige sehr schöne Szenen über die Parallelen zwischen Traum und Kinoerlebnis, die als Beispiele für gelungene Selbstreflexivität ohne allzu aufgesetzte "Bin ich nicht wahnsinnig clever?"-Attitüde durchgehen. Interessant ist auch der Konflikt zwischen der Psychotherapeutin, die einen erwachsenen, verantwortungsvollen Umgang mit der neuen Technologie einfordert, und den Entwicklern eben dieser Geräte, die als kindlich-unbekümmerte Geek-Genies gezeichnet werden. Kons Film bietet einige thematische Ansätze, die so spannend sind, dass man sie gerne etwas deutlicher ausgearbeitet gesehen hätte, allerdings lässt einem die Wucht des Bilderrausches zumindest bei der ersten Sichtung kaum Gelegenheit zum längeren Nachdenken. Nun ist ein enormer Überwältigungsfaktor gewiss nicht der schlimmste Vorwurf, den man einem surreal angehauchten Anime-Spektakel machen kann, von daher bleibt festzustellen, dass Satoshi Kon mit "Paprika" den hohen Erwartungen souverän gerecht werden kann und seinen Status als derzeit vermutlich interessantester Animationsfilmer - nicht nur innerhalb Japans -zementiert.

Nicht ganz auf derartig schwindelerregendem Niveau, aber mehr als ansprechend präsentierte sich auch der zweite große Anime-Kinofilm des Festivals: In "Tekkon Kinkreet" von Michael Arias müssen die beiden Straßenkinder Black und White ihr Revier in der Megacity ‚Treasure Town' gegen die Yakuza und andere Rivalen verteidigen. Richtig bedrohlich wird die Lage aber erst, als ein gigantischer Vergnügungspark ihrem Viertel ein neues Gesicht geben soll... Das Regiedebüt des "Animatrix"-Produzenten beeindruckt besonders durch die äußerst liebevoll gestaltete und sehr detailliert gezeichnete Riesenstadt, die weit mehr als nur dekorativen Hintergrund darstellt, sondern durchaus als heimlicher Hauptdarsteller durchgeht. Trotz des leicht futuristischen Szenarios verkneift man sich hier die üblichen Sci-Fi-Straßenschluchten mit düsterer "Blade Runner"-Architektur und wartet mit originellen, farbenfrohen Bildern auf, in denen sich der Zuschauerblick nur zu gerne verliert. 
In Sachen ‚Worldbuilding' kann "Tekkon Kinkreet" also schon mal überzeugen, und auch der Zeichenstil, der bei den eher kantigen Figuren mit ihren kleinen Augen zum Einsatz kam, hebt sich durchaus angenehm vom üblichen Anime-Look ab - bemerkenswert, dass gerade bei einem Film über zwei junge Waisen auf die im japanischen Zeichentrickfilm so gern verwendete Kindchenschema-Optik verzichtet wurde. Die Plot-Ebene bietet eine gelungene und durchaus frisch wirkende Mischung bekannter Genre-Elemente vom Yakuza-Film bis zum Superhelden-Comic und lässt genügend Raum, auch die eine oder andere Nebenfigur mit mehr Hintergrund als erwartet auszustatten. Die wuchtigen Action-Szenen packen beherzt zu, wobei "Tekkon Kinkreet" aber nie den Fehler einiger anderer Big-Budget-Animes begeht, den Spektakel-Regler soweit nach rechts zu drehen, dass man sich als Zuschauer irgendwann übersättigt oder erschlagen fühlt. Für Animationsfans lohnt sich der Besuch in ‚Treasure Town' also allemal - schon allein für die Stadtbesichtigung.

 

Mit Katsuhiro Otomos "Mushishi" war auch das neue Werk eines der weltweit bekanntesten Anime-Regisseure Teil des Festival-Programms, allerdings hatte sich der "Akira"-Schöpfer diesmal für das Medium Realfilm entschieden, um den Manga von Yuki Urushibara auf die Leinwand zu bringen. Die Kenntnis jener Vorlage dürfte eine gute Voraussetzung für den Genuss von Otomos Spielfilm sein, denn ohne Vorwissen fühlt man sich dort bald ähnlich verloren, als wäre die Untertitelung vergessen worden. "Mushishi" erzählt eine Geschichte aus dem alten Japan, in dem der ‚Bugmaster' Ginko durchs Land zieht und die Leute von Krankheiten heilt, die von den ‚Mushi' - mysteriösen, insektenähnlichen Geisterwesen - verursacht werden. Soweit die gar nicht mal uninteressante Ausgangssituation, aus der Otomo mit fast schon meditativer Bedächtigkeit einen weitgehend unverständlichen Plot entwickelt, bei dem man irgendwann resigniert aufhört sich zu fragen, worum's denn hier bitteschön eigentlich geht. 
Dabei bietet "Mushishi" durchaus Anlass zum Lob, denn die mit großem Ernst und in schönen Naturbildern präsentierte Welt wirkt in ihrer hermetischen Fremdartigkeit zunächst recht reizvoll, und die Konsequenz und Kompromisslosigkeit, mit der der Regisseur dem ruhigen, beinahe spirituell wirkenden Tonfall seines Films treu bleibt, nötigt einem schon einen gewissen Respekt ab. Möglicherweise wollte Otomo nach seinem reizüberflutenden Anime-Spektakel "Steamboy" bewusst einen sehr stillen, langsamen Nachfolger schaffen - das ist ihm zweifellos gelungen, doch wenn man als Zuschauer dafür auf jeglichen Unterhaltungswert verzichten muss, mag man ihm zu dieser Leistung nicht so recht gratulieren. Wie gesagt: Vielleicht braucht man einfach Vorkenntnisse für "Mushishi". Vielleicht erschließen sich einem dann die Figuren des Films und ihre Ziele. Vielleicht erkennt man so etwas wie eine Dramaturgie, und es wird dann vielleicht sogar richtig spannend. Wer weiß. Wenn man sich aber einfach nur unvorbereitet den neuen Film von Katsuhiro Otomo anschaut, kommt man enttäuscht wieder raus und wünscht sich, man hätte vor der Vorstellung ein Glossar in die Hand bekommen.

Als ebenfalls sehr eigenwillig und nicht ganz leicht zugänglich erwies sich "Faces of a Fig Tree", die erste Regiearbeit der in Japan sehr populären Schauspielerin Kaori Momoi, die ihren Film persönlich in Frankfurt vorstellte. Für die hier erzählte Geschichte der Familie Kadowaki hätte man sich auch durchaus einen traditionell-minimalistischen Inszenierungsstil à la Ozu vorstellen können, doch die Debütantin entschied sich für ein unbekümmertes, neugieriges Spielen mit dem Medium Film und seinen Erzählformen. Dies äußert sich in einem sehr ausgeprägten Gestaltungswillen und einem besonderen Augenmerk für auffällige Farben, außergewöhnliche Bildkompositionen und elektronisch-chillige Musik auf der Tonspur. "Faces of a Fig Tree" wirkt ein wenig so, als habe Momoi bei ihrem ersten Platznehmen auf dem Regiestuhl einfach mal ganz viel ausprobieren und möglichst viele zum Teil sehr unterschiedliche Elemente (wie z. B. fluchende CGI-Ameisen) unterbringen wollen. Erstaunlicherweise wirkt der Film auf seine ganz spezielle Art aber durchaus rund, und der sehr eigenwillige, skurrile Humor, mit dem einige Schicksalsschläge bei den Kadowakis präsentiert werden, vermag ebenfalls zu gefallen. Eine Bewertung von "Faces of a Fig Tree" fällt schwer: Als Film für die Augen und den Kopf ist er mit seinem verschrobenen Stil gewiss sehenswert, sich emotional involviert zu fühlen, wird dem Zuschauer dank der ungewöhnlichen Erzählweise jedoch nicht gerade leicht gemacht. Die hier bereits mehrfach betonte Eigenwilligkeit ist bestimmt die größte Qualität, aber vielleicht auch eine kleine Schwäche von Momois Regiedebüt.

Vergleichsweise konventionell oder zumindest etwas vertrauter wirkte da die Welt des kleinen Dorfes, aus der in "The Matsugane Potshot Affair" von Nobuhiro Yamashita berichtet wird. Den mitleidlos-entspannten Blick auf einen ländlichen Kleinstadt-Mikrokosmos kennt der regelmäßige "Nippon Connection"-Besucher schon aus "No One's Ark" vom selben Regisseur, doch diesmal wird's sogar richtig kriminell: Dorfpolizist Kotaro muss nicht nur eine Fahrerflucht mit Todesfolge aufklären, sondern stellt schnell fest, dass er und seine Familie auch in die zunehmend wüster anmutende Geschichte verstrickt sind... "The Matsugane Potshot Affair" ist zu Beginn wie ein Puzzle angelegt, so dass es ein wenig dauert, bis man die Verbindungen zwischen den Kleinstadt-Bewohnern durchschaut, doch dann eröffnet sich ein unterhaltsames Panorama menschlicher Schwächen mit einigen sehr komischen Szenen. Yamashita erzählt derart ruhig und lakonisch, dass man zunächst kaum merkt, wie böse der Film eigentlich ist - gerade die zunehmend paranoid agierende Hauptfigur kommt am Ende an einen Punkt, der Komödienhelden zumeist erspart bleibt. Bei aller subtilen Bosheit insgesamt ein netter Film, der aus dem "Nippon Connection"-Programm aber nicht unbedingt herausragt, gerade weil er doch ziemlich typisch für die in Frankfurt gerne gezeigten Beiträge ist. Was allerdings auch bedeutet, dass er sich mit seinem unverändert gemächlichen Tempo im letzten Drittel ein wenig zieht und ruhig etwas kürzer hätte ausfallen dürfen.

Der Regisseur von "La Maison de Himiko" ist ebenfalls kein Unbekannter für Dauergäste des Festivals, denn Isshin Inudo war bereits 2004 mit "Josee, the Tiger and the Fish" Teil des Programms. Konnte er damals mit einem angenehm unverkrampften Film über ein behindertes Mädchen überzeugen, zog er 2007 das Publikum mit den Bewohnern eines schwulen Altenheims auf seine Seite. Das "Maison de Himiko" gehört dem Vater von Saori (hinreißend bockig gespielt von Kou Shibasaki), die es ihm nie verziehen hat, dass er ihre Mutter nach seinem Coming Out als Drag Queen verlassen hatte. Inzwischen liegt Himiko jedoch im Sterben, und nach einigem Zögern nimmt seine in chronischen Geldnöten steckende Tochter den ihr angebotenen Job in seinem Heim für alternde Homosexuelle an.
Falls das Thema gleichgeschlechtliche Liebe in Japan tatsächlich noch als heikel gelten sollte, eignet sich die widerwillige, durchaus homophobe Saori natürlich besonders gut als Identifikationsfigur in einem Film voller schwuler alter Männer. Dass die Tochter letztendlich die Entscheidung ihres Vaters zu akzeptieren lernt und Freunde im ‚Maison' findet, wird kaum einen Zuschauer überraschen, dies macht ihre Eingewöhnungsphase und ihre Begegnungen mit den zum Teil sehr schräg und eigensinnig, aber immer würdevoll dargestellten Heimbewohnern jedoch nicht weniger witzig und unterhaltsam. Gerade in seiner ersten Hälfte funktioniert Inudos Film ganz prächtig als warmherziges Feel-Good-Movie voller liebenswerter Figuren, über deren Hintergründe man gerne mehr erfährt. Potentiell rührselige Szenen werden hier nur sehr zurückhaltend dargeboten, was zwar grundsätzlich lobenswert erscheint, manchen Momenten aber vielleicht auch eine größere emotionale Resonanz verwehrt. 
Überhaupt kommt "La Maison de Himiko" in der zweiten Hälfte deutlich ernster und ruhiger daher und versandet dann leider ein wenig. Man kann es gewiss respektabel finden, dass sich der Film eben nicht nur als gutgelauntes Spaß-Vehikel versteht, allerdings vermisst man doch etwas den einstigen Schwung, zumal nach der vollzogenen Wandlung der nun vorurteilsfreien Hauptfigur dramaturgisch ein wenig die Luft raus ist. Die trotz dieser Einwände unbestreitbaren Crowd-Pleaser-Qualitäten der munteren alten Herren beweist aber schon der Gewinn des diesjährigen "Nippon Cinema Awards", bei dem das Frankfurter Publikum unter allen Deutschlandpremieren des Festivals abstimmen konnte.

 

 

Ebenfalls für diesen mit 2000 Euro dotierten Preis nominiert war "Love on Sunday" von Ryuchi Hiroki, der bereits im Vorjahr mit "It's only Talk" ein Glanzlicht des Programms abgeliefert hatte. Diesmal hatte der persönlich anwesende Regisseur eine Teenager-Lovestory mitgebracht, die sich höchst erfreulich von verkitschten Schmonzetten wie "Crying out Love, in the Center of the Worldabheben konnte: Bevor Akira am folgenden Tag ihre Heimatstadt in Richtung Tokio verlassen wird, möchte sie ihrem langjährigen Jugendfreund Nao gestehen, was sie wirklich für ihn empfindet. Gerade als sie ihm ihr Herz ausschütten will, berichtet er ihr jedoch voller Stolz, dass er jetzt mit der bei allen Jungs hoch im Kurs stehenden Tamaki zusammen sei. Deren Ex-Freund Gaku wiederum bekundet großes Interesse an Akira... 
Wie die Jugendlichen in den letzten paar Stunden vor Akiras Abreise mit diesem komplizierten Liebesgeflecht umgehen, ist gerade aus der Sicht des erwachsenen Betrachters oft sehr amüsant, doch "Love on Sunday" nimmt die Gefühle und Nöte seiner Figuren hundertprozentig ernst und macht sie dem Zuschauer oft schmerzhaft nachvollziehbar. Gerade weil der formal eher schlicht, einfach und bescheiden wirkende Film auf das manipulativ-verlogene Beschwören ganz großer Momente verzichtet, gelingt ihm ein sehr hohes Maß an emotionaler Wirkung. Die vier ausgezeichneten Jungdarsteller tragen ebenfalls zur starken Involvierung des Zuschauers bei, denn sie dürfen hier Figuren spielen, die genau deshalb so glaubhaft und überzeugend wirken, weil sie eben auch mal hinterhältig und eigennützig agieren, um ihre Ziele im Beziehungsgerangel zu erreichen. Wo man gerade bei den engelsgleich gezeichneten Mädchen der erwähnten Kitsch-Blockbuster wie "Crying out Love" nur noch ungläubig mit dem Kopf schütteln mag, geht einem der Liebeskummer dieser ‚echten' Teenager wirklich zu Herzen. 
Dabei soll nicht verschwiegen werden, dass "Love on Sunday" durchaus seine leicht konstruiert wirkenden Elemente hat und mit seinem bittersüßen "Ab morgen wird alles anders sein"-Szenario à la "American Graffiti" oder "Dazed and Confused" auch ein wenig den in japanischen Schnulzen sehr beliebten Nostalgie-Faktor bedient. Im direkten Vergleich mit Hirokis deutlich nüchternerer Thirty-Something-Geschichte "It's only Talk" kommt seine Teenagerromanze vielleicht etwas idealisierend daher, doch "Love on Sunday" funktioniert einfach hervorragend und ist gewiss einer der schönsten Coming-of-Age-Filme der letzten Jahre.

Mit gleich zwei seiner Werke war Regisseur Sion Sono dieses Jahr bei "Nippon Connection" vertreten: In der Digital-Video-Produktion "Into a Dream" muss sich der TV-Serien-Darsteller Mutsugoro nicht nur mit neidischen Theaterkollegen, diversen Frauengeschichten und einer Geschlechtskrankheit rumschlagen, sondern findet sich manchmal auch unvermittelt in verschiedenen Traumwelten wieder, in denen Personen aus seinem Leben z. B. als Terroristen auftauchen. Das Spiel mit den verschiedenen Erzählebenen ist zwar ganz nett anzuschauen, steht jedoch nicht im Mittelpunkt von "Into a Dream", den man viel eher als Schauspielerfilm denn als ausgeklügeltes Mindfuck-Movie begreifen sollte. Die Geschichte wirkt nicht sehr geschlossen, doch Sono konzentriert sich eh lieber auf oft ziemlich lange Takes, in denen seine Darsteller wirklich gefordert werden und zum Teil sehr aus sich herausgehen müssen. Gerade die Dialog-Szenen, in denen die Videokamera einfach nur beobachtend drauf hält und die Interaktion der Figuren einfängt, sind die Highlights eines Films, dessen Regisseur sich sehr gut im hier gezeigten Künstler-Milieu auszukennen scheint. Das mag jetzt alles nach schwerer Kost mit minimalem Unterhaltungspotential außerhalb der japanischen Kleindarsteller-Szene klingen, doch "Into a Dream" ist bei aller Mainstream-Ferne durchaus spannend, und speziell einige Gespräche zum Thema (Un-)Treue sind überraschend witzig geraten.

Der kleinen, locker hingeworfen wirkenden Digital-Produktion stand mit Sonos zweitem Festival-Beitrag ein echter Brocken gegenüber: Mit dem mehr als zweieinhalbstündigen "Noriko's Dinner Table" schließt der Regisseur an seinen wohl bekanntesten Film "Suicide Circle" (aka "Suicide Club") an, liefert jedoch keine einfache Fortsetzung ab, sondern vertieft einige der dort angerissenen Themen auf höchst interessante Weise. War der Vorgänger über weite Strecken ein kryptisches Durcheinander zwischen diffuser Medien-Paranoia, trashigem Splatter und tausend weiteren Ideen und Einflüssen, schlägt Sono hier einen deutlich anderen Weg ein. Mit viel Zeit und massivem Voice-Over-Einsatz erzählt der Regisseur von der schüchternen Noriko, die von zuhause abhaut, um in Tokio ein ihrer Ansicht nach seelenverwandtes Mädchen zu treffen, das sie über eine obskure Website kennen gelernt hat. Dies ist jedoch nur die Ausgangssituation eines Films mit vier Hauptfiguren, denen jeweils ein Kapitel gewidmet ist und die am Ende in einem sehr ungewöhnlichen Szenario zusammenkommen. 
Nicht nur wegen der schon aus "Suicide Circle" bekannten Selbstmord-Thematik liegt ein Vergleich mit Tsukamotos "Nightmare Detective" nahe, denn auch "Noriko's Dinner Table" wirft einen sehr pessimistischen Blick auf das menschliche Miteinander zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Die jugendlichen Hauptfiguren verdienen sich ihr Geld z. B. als ‚Mietfamilien' für einsame Menschen, doch trotz derart böser, nicht mal sehr weit hergeholt wirkender Einfälle verkneift sich Sono diesmal allzu grelle Exploitation-Ausflüge und geht in vergleichsweise ruhigem und gemäßigtem Tonfall zu Werke. Wie die anderen Filme des Regisseurs ist "Noriko's Dinner Table" nicht leicht greifbar, nicht alles geht glatt auf. Es fällt schwer, ihn auf ein Thema oder gar auf eine Aussage zu reduzieren, was man in diesem Fall jedoch eher als Qualität und Zeichen für inhaltlichen Reichtum denn als Makel ansehen sollte. Trotzdem fällt auf, dass fast alles um den Aspekt "Identität" kreist, speziell um die Identitätsfindung junger Menschen und um die verschlungenen Wege, die die Figuren gehen, um eine Rolle zu finden, mit der und in der sie leben können. 
Leichte Unterhaltung sieht gewiss anders aus, doch "Noriko's Dinner Table" ist die knapp 160 Minuten Aufmerksamkeit voll und ganz wert und belohnt den Zuschauer mit einem fesselnden, intensiven Filmerlebnis, dem man im Festivaltrubel leider kaum den erforderlichen Raum zur reflektierenden Nachbetrachtung einräumen kann. Da man aber wegen solch außergewöhnlicher Filme ja überhaupt erst Festivals besucht, grämt man sich nicht lange über derartige Luxusprobleme und freut sich stattdessen lieber auf den nächsten April in Frankfurt.

 


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