Der Mann mit der Kamera

Originaltitel
Chelovek s kinoapparatom
Jahr
1929
Laufzeit
68 min
Genre
Regie
Bewertung
von Frank-Michael Helmke / 20. Juni 2010

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"Der Mann mit der Kamera" beginnt mit einem wegweisenden Hinweis, und den einzigen Schrifttafeln, die man in diesem Stummfilm zu sehen bekommen wird:

Dem Zuschauer zur Beachtung: Dieser Film ist ein Experiment der filmischen Vermittlung sichtbarer Ereignisse. Ohne Hilfe von Zwischentiteln, ohne Hilfe eines Drehbuchs, ohne Hilfe des Theaters (ohne Schauspieler, ohne Bühnenbild usw.). Diese experimentelle Arbeit versucht, eine internationale, absolute Kinosprache zu schaffen, basierend auf der völligen Unabhängigkeit von der Sprache des Theaters und der Literatur.

Man kann sicher nicht behaupten, dass Dziga Vertov nicht ambitioniert war. Vielleicht sogar zu ambitioniert, selbst für seine Zeit und sein Land. Vertov gehört zu der Generation russischer Filmemacher, die in den Jahren nach der Oktoberrevolution 1917 das Medium als Propagandainstrument nutzten und dabei die Möglichkeiten und Grammatik des Kinos soweit verfeinerten und weiterentwickelten, dass die heute gebräuchliche Filmsprache zu bedeutenden Teilen auf das Wirken dieser Künstler zurückgeführt wird. Der Anspruch, neben der neuen Weltordnung auch ein neues Kino zu schaffen, ermöglichte für kurze Zeit eine uneingeschränkte Experimentierfreiheit, in der alles ging, und auch alles versucht wurde.
Dass der berühmteste Vertreter dieser Ära Sergej Eisenstein ("Panzerkreuzer Potemkin") und nicht Dziga Vertov ist, liegt in der Tatsache begründet, dass Vertovs Ambitionen selbst für seine revolutionäre Zeit eine Spur zu revolutionär waren. Er verabscheute das künstliche Erzählen, das Kino als Ort der Fiktion, das mit Schauwerten und Schmonzetten die Sinne seines Publikums vernebelte und von der Wirklichkeit ablenkte (in Anlehnung an Marx hätte er es wohl als "Opium fürs Volk" bezeichnet). Dass Eisenstein seine Filme narrativ inszenierte, selbst wenn es agitatorische Verfilmungen revolutionärer Ereignisse waren, war für Vertov letztlich nicht akzeptabel. Für ihn gab es nur die Realität als Sujet, und die Aufgabe des Films war es, durch die Wiedergabe dieser Realität Bedeutung zu erzeugen, einzig durch die Montage der Bilder.
Montage - das ist das große Schlüsselwort im Schaffen dieser russischen Filmemacher und ihr entscheidender Beitrag zur Filmgeschichte. Sie suchten und fanden Wege, wie durch die Aneinanderreihung von Bildern neue Aussagen entstanden, wie also der Filmschnitt zum eigentlichen bedeutungstragenden Element der Filmsprache wurde. Ein simples Beispiel: der Filmlehrer Lev Kuleshov schnitt in einem berühmten Experiment eine neutrale Aufnahme eines Schauspielers mit dem Bild eines Suppentellers, eines Kindes und einer alten Frau im Sarg gegen. Die Zuschauer lobten anschließend die subtile Darstellung des Schauspielers der Gefühle Hunger, Freude und Trauer.
Assoziative Bildkompositionen dieser Art waren das hauptsächliche Mittel des russischen Revolutionskinos, und niemand entwickelte seine Möglichkeiten so radikal weiter wie Dziga Vertov. Als leidenschaftlicher Anhänger Lenins begann er seine Karriere mit Kino-Wochenschauen über den kommunistischen Alltag in der neuen Sowjetunion, und schuf mit seiner Gruppe "Kinoki" (vornehmlich bestehend aus ihm, seinem Bruder und Kameramann Michail Kaufman sowie Vertovs Frau Jelisaweta Swilowa am Schnittpult) zunehmend experimentelle und radikale Bildcollagen, deren mannigfaltigem Bedeutungsspektrum kaum noch zu folgen war.

Vertovs Versuch, eine absolute Kinosprache zu entwickeln und das Medium dadurch komplett unabhängig von seinen Artverwandten Theater (Dramaturgie) und Literatur (Narration) zu machen, ist von daher gescheitert, als dass das Kino in seiner heutigen Ausprägung genau das ist, was Vertov immer bekämpft hat. Seine revolutionären Film-Ideen gingen damit ebenso unter wie die revolutionäre Idee des Kommunismus, die er so glühend verfocht (mit der Machtübernahme Stalins wurde Vertovs eigenständige Arbeit von staatlicher Seite immer mehr behindert und schließlich ganz untersagt, da die Funktionäre seine Filme nicht verstanden und daher für potentiell gefährlich erachteten). Dennoch verbleibt Vertovs Opus Magnum "Der Mann mit der Kamera" jenseits all seines politischen und agitatorischen Subtextes als ein epochaler Meilenstein der Filmgeschichte, weil er auf meisterhafte Weise neu definierte, was mit diesem Medium alles möglich ist.

Strukturell fängt der Film den Verlauf eines Tages in einer sowjetischen Großstadt ein (Vertov drehte in Moskau, Odessa und Kiew), von der schlafenden Ruhe der Morgenstunden über das geschäftige Treiben der Arbeitszeit bis hin zur abendlichen Freizeitgestaltung. Die ersten Szenen etablieren bereits die durchgängigen Themen und Motive des Films: Autos, Züge und Maschinen dominieren die Szenerie, sinnbildliche Vertreter für die unaufhaltsame Arbeitskraft des kommunistischen Volkes. In dieser Hinsicht kann man in viele Bilder und Kompositionen des Films politische Interpretationen hineinlesen, doch Vertov beschränkt die Aussagen seiner Montagen nicht aufs rein ideologische, sondern kreiert eine nicht enden wollende Reihe unterschiedlichster Symbole und Metaphern, die den Zuschauer immer wieder staunen lassen. In jeder Einstellung, in jedem Schnitt kann hier ein zu entdeckender Subtext lauern, verschiedene Sequenzen des Films stehen in Beziehung zueinander und bauen aufeinander auf, und daher kann man sich "Der Mann mit der Kamera" wohl auch hundertmal ansehen und immer noch etwas Neues entdecken. Der amerikanische Kritiker J. Hoberman bezeichnete den Film (für ihn der beste aller Zeiten) als ein Werk, dass man nur einmal zu sehen braucht, um es zu begreifen, aber an einem Schnittpult studieren muss, um es vollständig zu verstehen.

Tatsächlich kann und wird man sich in der unglaublichen Bilderflut von "Der Mann mit der Kamera" (der vielleicht am dichtesten geschnittene Film überhaupt) beim ersten Ansehen verlieren, ohne auf die tieferen Bedeutungen und Aussagen zu achten - vielleicht auch, weil Filmtheorie und politische Ideologie, die ihm zugrunde liegen, heutzutage längst überholt sind. Was jedoch nicht zu übersehen ist - und das macht den Film auch heutzutage noch einzigartig - ist seine Huldigung des filmischen Entstehungsprozesses selbst und die damit einhergehende Involvierung des Zuschauers in sein Handwerk. Der titelgebende Kameramann ist quasi der Hauptdarsteller und "Held" des Films: Immer wieder zeigt Vertov Aufnahmen des Kameramanns (sein Bruder Michail) bei der Arbeit, erklärt dem Zuschauer auf diese Art, wie die zum Teil spektakulären Bilder, die er gerade gesehen hat, zu Stande kamen, und etabliert den Kameramann gleichzeitig als wagemutigen Teufelskerl, der zugunsten einer tollen Aufnahme manch halsbrecherisches Risiko auf sich nimmt. Doch nicht nur das: Vertov filmt auch die Kamera selbst, ihr Innenleben, den Weg des Zelluloids durch den Apparat, nimmt den Zuschauer mit in den Schneideraum, schaut seiner Frau bei ihrer Arbeit am Schnittpult über die Schulter, und zeigt schließlich auch die fertige Filmspule im Projektor während einer Kinovorstellung, in der das Publikum quasi sich selbst sieht, denn auf der Leinwand läuft "Der Mann mit der Kamera".

Vertov durchbricht hier nicht nur die Wirkung des Films als Illusion, indem er sogleich die Erzeugung der scheinbar magischen Bilder zeigt; er zieht seine Zuschauer richtig gehend in den Film hinein, indem er geradezu zum Mitmachen animiert. Man mag unwillkürlich an das Punkrock-Credo denken, dass man zum Musik machen nicht mehr braucht als eine Gitarre und drei Akkorde. So scheint hier auch Vertov zu sagen: Dies ist ein Film, und so macht man ihn. Nun geh los und mach es selbst. Wenn der Film schließlich zu seinem finalen Crescendo ansetzt, bis zu fünf Bilder übereinander legt und in einen atemlosen Schnittrhythmus verfällt, scheint er geradezu zu rufen: Es passiert soviel da draußen, ich schaffe es gar nicht alleine, das alles einzufangen. Komm und hilf mir! Man kann es sich fast vorstellen, wie es gewesen sein muss, "Der Mann mit der Kamera" 1929 zu sehen und das Kino mit dem Wunsch zu verlassen, Filmemacher zu werden. Genau genommen kann einem das auch noch heute passieren.


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