Vertraute Fremde

Originaltitel
Quartier Lontain
Land
Jahr
2009
Laufzeit
100 min
Genre
Regie
Release Date
Bewertung
8
8/10
von Volker Robrahn / 25. Mai 2010

Thomas (Pascal Greggory) lebt als recht erfolgreicher Comic-Zeichner mit seiner Familie in Paris. Auf dem Nachhauseweg von einer Messe steigt er versehentlich in den falschen Zug und findet sich in einem kleinen französischen Bergdorf wieder - dem Ort seiner Kindheit. Nach einem kurzen Rundgang durch den Ort und einem Besuch am Grab seiner Mutter bricht er plötzlich zusammen und wacht als 14jähriger Teenager wieder auf. Er befindet sich inmitten seines alten Lebens, alle ehemaligen Freunde und Verwandten sind wieder da und Thomas bleibt nichts anderes übrig als wieder ganz brav zur Schule zu gehen. Seiner Familie fällt zwar auf, dass ihr Sohn seltsam verändert wirkt, erkennt aber natürlich nicht die Wahrheit, sondern vermutet eher, dass der Junge nun wohl etwas schneller als gedacht erwachsen wird. Thomas jedoch genießt diese unverhoffte zweite Jugend und erlangt mit dem Wissen und der Erfahrung eines Erwachsenen schon bald eine ungeahnte Beliebtheit und Erfolg bei den jungen Damen. Im Innersten treibt ihn jedoch etwas ganz anderes um: Er möchte nun endlich erfahren, warum sein Vater die scheinbar so heile Familie damals heimlich über Nacht verlassen hatte. Und er möchte verhindern, dass das wieder geschieht.

Immerhin hat man den Titel der deutschen Veröffentlichung beibehalten, denn sonst würde wirklich gar nichts mehr darauf hindeuten, dass es sich bei diesem auf den ersten Blick rein französischen Film in typisch französischer Kulisse in Wahrheit um die Adaption eines japanischen Manga handelt. "Vertraute Fremde" von Jiro Taniguchi wurde mit diversen internationalen Preisen ausgezeichnet und selbst in Deutschland zum "Comic des Jahres 2007" gewählt. Was hauptsächlich damit zusammenhängt, dass die Werke Taniguchis nur wenig mit dem zu tun haben, was man hierzulande für gewöhnlich mit den Comics aus Fernost verbindet. Keine süßlichen Mädchen-Liebesgeschichten und auch keine Androiden oder Roboter, sondern stattdessen meist ausgefeilte und ruhige Charakterstudien, bei denen den eher klein und unbedeutend scheinenden Alltagserlebnissen der größte Raum eingeräumt wird. Er erzählt Geschichten über das langsame Sterben eines Hundes und den damit einhergehenden Verlust des geliebten Haustieres oder füllt in "Der spazierende Mann" auch mal ein ganzes Buch mit nichts weiter als den detailverliebten Wahrnehmungen seiner Hauptfigur beim Rundgang durch sein Heimatviertel.
Die Erzählweise Taniguchis, der auch mehrere Jahre in Europa gelebt hat, kommt dabei den westlichen Lesegewohnheiten weit mehr entgegen als andere Manga und lässt so auch dieser Kultur ansonsten skeptisch bis ablehnend gegenüberstehende Menschen zu seinen Büchern greifen. Folgerichtig hat man also dann auch in Frankreich die Verfilmung seines bisherigen Meisterwerks in die Hände genommen und die Handlung von den Vororten Tokios in jene von Paris verlegt. Der universellen Geschichte schadet das nicht weiter und nur die mit der Vorlage Vertrauten dürften bei dem Gedanken nun ihrerseits ein wenig fremdeln.

Wobei die Produktion sich durchaus international gibt, denn die Regie übernahm der Belgier Sam Gabarski, der vor drei Jahren mit "Irina Palm" einiges Aufsehen erregte, die Rolle der Mutter wurde mit der deutschen Alexandra Maria Lara besetzt und der Japaner und Autor der Vorlage hat zumindest einen kurzen Cameo-Auftritt als Zuggast. Das als Kulisse für die Handlung gewählte kleine Dorf in den französischen Bergen strahlt dann aber in der Tat durch und durch französisches Flair und eine wohlige Wärme aus, die sich auch prompt auf die gesamte Atmosphäre des Films überträgt. Zudem ist der angesehene Comic-Zeichner (so etwas schließt sich halt in Frankreich nicht aus) in der Verkörperung durch Pascal Greggory genau der kultivierte und etwas unzugängliche Feingeist, den es in unserem Nachbarland durchaus etwas häufiger anzutreffen gibt.
Wobei Greggory nicht allzu viel Zeit bleibt um seiner Figur Konturen zu verleihen, da sie ja recht schnell durch ihre jüngere Version ersetzt wird. Aber auch Léo Legrand als jugendlicher Thomas überzeugt voll und ganz und vermittelt sowohl die Verwirrung, als auch die unglaubliche Freude und Euphorie über die unverhoffte Chance sein Leben noch einmal leben und ihm an entscheidenden Punkten eine andere Wendung geben zu können. Die Szenen im äußerst stimmungsvoll eingefangenen Look der 60er Jahre machen dabei einfach Spaß und wissen zu bezaubern, auch wenn immer wieder zwischen Leichtigkeit und Tragik hin und her gewechselt werden muss, kündigt sich doch der schicksalhafte Abend, an dem der Vater verschwinden wird, immer deutlicher an.

Dass dieser zentrale Aspekt, aus dem die Geschichte letztendlich ihre "Message" und Lehren für das gegenwärtige Leben bezieht, etwas zu lange zugunsten der heiteren Momente beiseite geschoben und dann leider etwas zu abrupt und schnell zu Ende geführt wird, ist so ziemlich das einzige Manko das man dem Film ankreiden kann. In allen übrigen Bereichen hat Garbarski sein Projekt aber vollkommen im Griff, findet stets die richtigen Bilder und Einstellungen und liegt mit dieser Version der Geschichte vom "Erwachsenen im Körper eines Teenagers" meilenweit über dem Niveau vergleichbarer amerikanischer Komödien. Und das ergibt dann eine Adaption, die trotz des äußerlich stark von ihrer Vorlage abweichenden Eindrucks in Wahrheit deren Geist und Aussage fast einhundertprozentig einfängt und deshalb als absolut gelungen bezeichnet werden darf.

Bilder: Copyright

9
9/10

Sehr schöner Film.

Das er sich leider ein bißchen in seinem Tempo verhaspelt und (wie in der Rezension schon angemerkt) dann am Ende etwas abrupt die Richtung und Ton ändert ist ziemlich ärgerlich, ändert aber nichts daran, dass das hier einfach schönes Kino ist. Ausdrücklich empfohlen.

Permalink

5
5/10

Erstaunlich, welche gegensätzlichen Analysen oder Gedanken zu diesem Film in den unterschiedlichen Filmforen und in Feuilletons der Zeitungen zu lesen sind, denn auch nach erneutem Betrachten kann ich den meisten Überlegungen nicht folgen. Wahrscheinlich liegt es aber auch daran, dass ich den Comic von Taniguchi nicht gelesen habe und im allgemeinen auch kein besonderer Freund japanischer Comics bin, mögen sie noch so gut gestaltet und narrativ ausgefeilt sein. Das heißt aber nicht, dass ich gegen Comics bin oder bestimmte (Vor)urteile gegen dieses Genre habe, nein ich liebe die belgisch/französische Tradition der Bande Dessinee ebenso wie Winsor McKay.
OK. Filmisch habe ich nicht viel auszusetzen an der Produktion, das ist ordentlich gedreht, vielleicht etwas zu elegisch in den Bildern und vor allem der Musik und weil er auch wegen des verarbeiteten Stoffes allzu sehr ins Esoterische abrutscht.
Das Behaviour eines Erwachsenen im Körper eines Pubertierenden lag zumindest in der deutschen Synchronisation voll daneben, das passte hinten und vorne nicht.
Nun, ich glaube, dass der Film bestimmt erfreute Zuschauer findet oder gefunden hat, allerdings gebe ich zu bedenken, dass einige Schnitzer allzu ärgerlich waren. Der Bau der Mauer, Belle de Jour und der Vietnamkrieg ist so zeitlich in einer Woche nicht zusammen zu kriegen. Vaters Opel, der ist meines Erachtens zu dieser Zeit in dieser Gegend ziemlich fehl am Platz.
Warum nicht noch ein bisschen mehr Hinweise auf die Resistance und die eigentümliche Freundlin des Vaters, auch diese Hintergründe sind selbst bei bester analytischer Methode recht fragwürdig, wenn es einfach so auf die Leinwand gepinselt wird.

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