Die Elenden

MOH (59): 8. Oscars 1936 - "Die Elenden"

In unserer Serie "Matthias' Oscar History" (MOH) bespricht Matthias in jeder Folge jeweils einen der zwischen den Jahren 1929 und 2000 nominierten Oscar-Beiträge aus der Kategorie "Bester Film".

von Matthias Kastl / 11. Juni 2024

Letztes Mal hatten wir in unserer Oscar-Reihe mit “Tolle Marietta“ ja eine eher seichte Handlung vorgesetzt bekommen. Unser heutiger Film möchte sich dagegen an der Zubereitung eines deutlich anspruchsvolleren Rezepts versuchen. Eine erfolgreiche Umsetzung gelingt der Verfilmung von “Die Elenden“ (Les Misérables) allerdings nur zu Teilen und lebt dabei vor allem von der starken Leistung einer Schauspiellegende.

Die Elenden

Originaltitel
Les Misérables
Land
Jahr
1935
Laufzeit
108 min
Genre
Release Date
Oscar
Nominiert "Outstanding Production"
Bewertung
7
7/10

Victor Hugos Roman “Die Elenden“ gilt als eines der am häufigsten verfilmten Werke der Geschichte. Mit einem ersten Kurzfilm ging es bereits im Jahre 1906 los und seit dem folgten über 50 verschiedene Film- und Serienproduktionen. Neben der hochkarätig besetzten Musicalversion von Tom Hooper aus dem Jahre 2012 gilt die 1935 vom Studio MGM in Auftrag gegebene Adaption noch heute als eine der gelungensten Umsetzungen. Insgesamt vier Oscar-Nominierungen im Jahr 1936 (“Bester Film“, “Beste Regie-Assistenz“, “Bester Hauptdarsteller“ und “Bester Schnitt“) scheinen das zu untermauern, doch leider müssen wir hier zumindest ein klein wenig Wasser in den Wein kippen. Gerade in Sachen Inszenierung und Drehbuch entpuppt sich “Die Elenden“ doch auch als etwas schwach auf der Brust, profitiert am Ende aber zumindest immer noch von den Stärken der Buchvorlage und dem Auftritt eines (wie so oft) unglaublich charismatischen Charles Laughton.

Laughton (“Das Privatleben Heinrichs VIII.“, “Ein Butler in Amerika“) spielt dabei in “Die Elenden“ nicht etwa die Hauptfigur, sondern dessen berühmten unerbittlichen Gegenspieler. Der vom Pflichtbewusstsein und Hass auf Gesetzesbrecher besessene Javert arbeitet im Frankreich des frühen 19. Jahrhunderts als Aufseher an Bord einer Sträflingsgaleere. Unter seinem harten Regiment hat an Bord auch der lediglich wegen dem Diebstahl eines einzigen Laib Brotes zu zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilte Jean Valjean (Frederic March, “Liebesleid“) zu leiden. Nur dank der motivierenden Worte eines Bischofs (Cedric Hardwicke) gelingt es Valjean nach seiner Entlassung unter neuem Namen erfolgreich ein neues Leben zu starten. Doch als der inzwischen zum Inspector ernannte Javert wieder dessen Weg kreuzt droht ein kleiner Fehler von Valjean Javerts unbarmherzigen Jagdinstinkt zu aktivieren. Und so beginnt ein Katz-und-Maus-Spiel, das Literaturgeschichte geschrieben hat.
 


Es ist natürlich eine ziemliche Mammutaufgabe den über 1000 Seiten starken Roman von Victor Hugo auf nicht einmal zwei Stunden Zelluloid zu packen. Und leider entpuppen sich am Ende von “Die Elenden“ 108 Minuten dann doch als zu wenig Zeit, um all die interessanten Fäden der Geschichte auf überzeugende Art und Weise miteinander zu verweben. Es beginnt schon damit, dass man relativ schnell in das Abenteuer geworfen wird und Valjean ohne Vorgeschichte das erste Mal direkt bei seinem Gerichtsprozess antrifft. Ein klein bisschen mehr Zeit, um mit dieser Figur warm zu werden, wäre hier schon ganz hilfreich gewesen. Ähnlich zügig geht es dann auch mit der Story weiter, bei der man natürlich vieles sehr knapp halten muss und manche Figur (Gavroche) aus der Buchvorlage sogar komplett geopfert wird.

Im Mittelteil des Filmes wird das Tempo zwar gefühlt auf angenehme Weise wieder gedrosselt, nur um dann gegen Ende wieder deutlich anzuziehen. Im letzten Drittel zeigt sich dann auch die größte Schwäche der knapp bemessenen Laufzeit. Die dortige Romanze zwischen Cosette, der “Adoptivtochter“ Valjeans, und dem Führer der Pariser Studentenbewegung nimmt leider nie so richtig Fahrt auf. Wirklich Zeit beide Figuren oder deren Liebe füreinander zu etablieren hat man nicht, wobei die eher blassen Schauspielleistungen von Rochelle Hudson und John Beal einen auch skeptisch werden lassen, ob mehr Zeit denn hier überhaupt etwas gebracht hätte. So wirkt gerade dieser Teil eher wie ein Fremdkörper in der Geschichte und wenn man es nicht besser wissen würde könnte man glatt meinen, dass unsere Freunde in Hollywood hier für den Erfolg beim Mainstream-Publikum mal schnell eine Romanze hinzugedichtet haben.
 


Glücklicherweise ist “Die Elenden“ aber natürlich viel mehr als nur diese Romanze, schließlich steht im Herzen das große Duell zwischen Valjean und dem manisch gesetzestreuen Javert. Womit wir dann auch zum Positiven kommen, denn glücklicherweise gelingt es der Verfilmung dieses so essentielle Element wirklich gut auf die Leinwand zu bekommen. Zugegeben, es braucht zwar etwas Zeit bis Frederic March sich in der Rolle des Valjean eingegroovt hat. Doch Stück für Stück entwickelt er das nötige Charisma, damit man mit seiner Figur mitfühlt und dessen Verzweiflung angesichts Javerts penetranter Hartnäckigkeit spüren kann. Das wahre Glanzlicht setzt aber sein Gegenüber, denn was Charles Laughton hier wieder einmal auf die Leinwand bringt ist einfach grandios.

Wir wollen natürlich fair sein, Javert ist natürlich schon per se die faszinierendere Figur im Buch. Ein vielschichtiger Bösewicht, dessen Tragik genauso aus einem Werk Shakespeares stammen könnte. Was Laughton aber mit dieser Figur macht ist trotzdem beeindruckend, da er mit Hilfe vieler kleinen Eigenheiten bei seinem Schauspiel hier eine wirklich markante und genauso bedrohliche wie bemitleidenswerte Figur erschafft. Alleine die Szene, in der Javert den ersten Verdacht bezüglich Valjeans neuer Identität schöpft, ist so toll gespielt, dass sie einen voller Vorfreude der nun einsetzenden Jagd entgegenfiebern lässt. Neben Javert gab Laughton ja in unserer Oscar-Reihe schon in “Das Privatleben Heinrichs VIII.“ und “The Barretts of Wimpole Street“ erfolgreich den Bösewicht und doch ähnelt das Schauspiel keiner dieser Figuren einander auch nur im Ansatz. Was für ein vielseitiger und einfach großartiger Schauspieler.
 


Leider kann die Inszenierung von “Die Elenden“ mit diesem funkensprühenden Duell seiner Hauptfiguren nur bedingt mithalten. Manche Szenen wirken zu abgehakt, Übergange teils etwas holprig und die eher statische Inszenierung hätte auch ein klein wenig mehr Schwung vertragen können. So wirkte der Film für mich im Vergleich zu den meisten anderen Oscar-Beiträgen dieses Jahres fast schon verstaubt was seinen Stil anging. Interessanter ist da schon die Lebensgeschichte des Regisseurs, denn der Pole Richard Boleslawski hatte einst als Kavallerist in der Heimat gegen die Bolschewiki gekämpft und Propagandastreifen inszeniert, eher er dem Ruf Amerikas folgte. Über eine Karriere als Regisseur am Broadway landete er schließlich in Hollywood, wo er mit einem Film über die Ermordung Rasputins gleich mal die Wut der russischen Zarenfamilie erntete. Solche wilden Lebensläufe wird man bei Regisseuren heutzutage wohl kaum noch entdecken.

Etwas mehr von dieser Energie hätte dem Film allerdings gut getan, auch weil die Dialoge insgesamt auch etwas klischeehaft daherkommen. Glücklicherweise kommt aber immer wieder  Leben in die Bude, sobald Javert und Valjean die Bühne teilen. Und das große Finish ist dann tatsächlich endlich auch mal lebhaft umgesetzt und kommt sowohl in Sachen Inszenierung als auch Handlung mit ordentlich Wumms daher. Das versöhnt schließlich für so manch hüftsteife Momente und macht “Die Elenden“ insgesamt tatsächlich zu einer guten, wenn auch nicht wirklich herausragenden Buchadaption. Alleine für den Auftritt von Charles Laughton kann man hier aber durchaus eine Empfehlung für den Film aussprechen. Und ehrlich gesagt kann ich es kaum erwarten Laughtons nächsten Auftritt in diesem Oscar-Jahrgang zu sehen, bei dem die Crew eines berühmten Schiffes unter dessen Figur zu leiden hat.

"Die Elenden" ist aktuell als DVD auf Amazon in Deutschland verfügbar. Alternativ ist der Film auch auf der Webseite des Internet Archive kostenlos abrufbar.


Ein (nicht offizieller) Trailer des Filmes
 


Le Chemineau – der erste bekannte Kurzfilm der Buchvorlage aus dem Jahre 1906. Die Handlung beschränkt sich auf den Weg und die Ankunft Valjeans zu Beginn der Geschichte beim Bischof.


Ausblick
In unserer nächsten Folge treffen wir zum zweiten Mal auf das Hollywood-Traumpaar Fred Astaire und Ginger Rogers. Und natürlich wird dabei wieder ordentlich das Tanzbein geschwungen.


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