Filmszene-Festival-Tagebuch: Das 80. Internationale Filmfestival Venedig

von Marc Schießer / 31. August 2023


Mittwoch, 30. August: Es geht los

Während der Massentourismus von Jahr zu Jahr immer dicht gedrängter seine Bahnen durch die pittoresken Gassen von Venedig zieht, steht der Markusplatz wieder einmal halb unter Wasser, was zu einem ansteigenden Verkauf von Gummi-Überziehern in der Innenstadt und zum dystopischen Kommentar unseres Flugzeug-Sitznachbarn führt: „In 30 Jahren ist von dieser Stadt nichts mehr da.“

Bis es dazu (hoffentlich nicht) kommt, gilt es jedoch einmal mehr die legendären Filmfestspiele der Biennale zu genießen, die eigentlich gar nicht in Venedig selbst, sondern auf der benachbarten Insel Lido stattfinden. Dieses Jahr wird hier der 80. Geburtstag gefeiert und dafür hat man ein, wie ich finde, wirklich außerordentliches Programm zusammenstellen können. In den letzten Jahren hat sich Venedig neben einer der wichtigsten Spielstätten für brandneue Werke der weltweit bekanntesten Regiegrößen auch verstärkt zum Erstaufführungsort für Hollywood-Großproduktionen entwickelt, die von hier aus in die kommende Awards Season geschickt werden. Mit dieser explosiven Mischung steht man dem im Frühjahr stattfindenden Cannes-Festival in kaum noch etwas nach. Und nachdem hier 2019 sogar ein vergleichsweise mainstreamiger Film wie der "Joker" den Hauptpreis abräumen konnte, hat sich der Trend noch einmal verstärkt.

Was uns zum, wie gesagt, sehr interessanten Programm der Jubiläumsausgabe führt. Und das hat es wirklich in sich: Neue Filme von David Fincher, Michael Mann, Sophia Coppola, Yorgos Lanthimos, William Friedkin (RIP), Ryusuke Hamaguchi, Ava DuVernay, Quentin Dupieux und noch so vieles mehr.

Was für mich und meine ebenso filmhungrige Begleiterin, erstmal vor allem eins bedeutet: Planungsstress.

Denn um alles, was Rang und Namen hat und sonst irgendwie interessant klingt, unter einen Hut zu kriegen, müssen wir in diesem Jahr im Durchschnitt vier Filme pro Tag schauen, was einfacher klingt als es ist. Denn natürlich überschneiden sich die Handvoll Screenings jeden Films mit dutzenden anderen und so schiebt man eine ganze Weile Vorführungen im Kalender hin und her, bis man einen einigermaßen zufriedenstellenden Film Marathon Schlachtplan gelangt. Und sich fragt, wie lange es dauern wird, bis die morgens um acht Uhr startenden, und häufig erst nach Mitternacht endenden Vorführungen ihren Tribut fordern werden und man zu einer dieser nervigen Festival-Schnarch-Leichen mutieren wird, denen am besten mit dezenten Tritten in den Sitz begegnet wird.

Davor gilt es sich jedoch erstmal durch das extrem stressige Ticketverfahren zu kämpfen, um sich auch die raren Plätze für jede geplante Vorstellungen sichern zu können, sonst ist der akribisch erstellte Masterplan sofort für die Tonne. Doch dazu an derer Stelle mehr.

Denn die ersten zwei Tage läuft das Festival erstmal ruhig an und so legten wir an unserem Ankunftstag nur „El Conde“ von Pablo Larrain in den Ticketwarenkorb. Die schwarzweiße Netflix-Produktion lässt sich am ehesten als politische Satire im Gewand eines Vampirfilms beschreiben: Der einst real existierende chilenische Diktator Augusto Pinochet lebt hier seit mittlerweile 250 Jahren (er war schon an der Köpfung Marie Antoinettes beteiligt) und stillt seinen unstillbaren Blutdurst neben seinen unzähligen Menschheitsverbrechen auch durch den Konsum unzähliger Menschenherzen. Dafür fliegt er auch gerne mal in seinem Umhang kurz in die Stadt rüber, wie man das halt so macht, als Vampir.


Die Tropes des Vampirfilms werden hier auch durchaus bedient und es geht konstant blutig zu: es werden Köpfe zermatscht, Brustkörbe aufgeschlitzt und Herzen püriert. Alles jedoch immer im Sinne der politischen Allegorie die in ihrer satirischen Gleichsetzung von ausbeutenden, rücksichtlosen Politikern, mit wortwörtlichen Blutsaugern ziemlich eindeutig daherkommt. Weniger eindeutig sind die diversen Anspielungen und Injokes, bei der man schon sehr vertraut mit chilenischer Politik sein muss, um das Gefühl zu haben alles mitzubekommen. Das kann ich für meinen Teil nicht von mir behaupten, was kombiniert mit den endlosen Voice-Overn und ausufernden Diskussionen im Film nicht gerade in einem hohen Entertainmentfaktor resultiert. Jedenfalls für eine schwarze Vampirkomödie. Zumindest ist das ganze aber fantastisch fotografiert und erinnert in seinen kristallklaren Schwarzweiß-Bildern etwas an den Look von Alfonso Cuaróns "Roma". An den Erfolg dieses Netflix-Arthouse-Hits wird „El Conde“ nicht anknüpfen können, dafür ist er zu sperrig und speziell. Trotzdem ist er durchaus einen Blick bei seiner späteren Veröffentlichung auf Netflix wert, allein schon für einige der schönsten und wirklich betörend anmutig umgesetzten Bilder fliegender Menschen, die man im Kino überhaupt je gesehen hat.

Morgen startet der Tag dann mit fahrenden Menschen, genauer gesagt mit Adam Driver als Enzo Ferrari in Michale Manns „Ferrari“. Man darf gespannt sein.

Donnerstag, 31. August: Die schwindende Kraft älterer Männer

Quentin Tarantino kündigt bekannterweise seit Jahren an, dass sein nächster Film sein letzter sein wird, da ihm zu Folge jeder mittelmäßige bis schlechte Film eines durchwachsenen Alterswerkes die Strahlkraft einer bis dahin eindrucksvollen Filmographie empfindlich verringert.

In Venedig kann man den Wahrheitsgehalt dieser These, sowie die zugrundeliegende Vermutung, dass die allermeisten Regisseure im Alter ihren Biss verlieren, auf Herz und Nieren überprüfen. Denn dieses Jahr gibt sich eine ganze Reihe legendärer Altmeister die Ehre. Und der erste, der morgens um 8.30Uhr unseren zweiten Festivaltag eröffnet, ist Michael Mann (Heat, Collateral, The Insider). Für mich persönlich ein ganz Großer, dessen letzte Filme (man erinnert sich hoffentlich nicht an „Public Enemies“) leider schon weit entfernt waren von seinen Großtaten der 80er bis frühen 2000er. Doch das Thema ist wie geschaffen für Mann, denn wieder einmal geht es um ein obsessives Genie, das gnadenlos professionell ist und dabei Leben und Tod riskiert: Enzo „Ferrari“.

Und es bricht mir das Herz, zu berichten, dass Michael Mann nicht zu alter Form zurückgefunden hat (und wahrscheinlich auch nie wieder zurückfinden wird). „Ferrari“ ist maximal irgendwie okay geworden, aber leider vor allem eine unzusammenhängende, unkonzentrierte Nacherzählung von Enzo Ferraris Eheproblemen und einigen losen Vorfällen in seiner Karriere als Rennstallchef. Alle Bemühungen, die beiden Handlungsstränge zu einer fesselnden Erzählung zusammenzuführen, werden durch eine Reihe merkwürdiger Entscheidungen, einige sehr kitschige Szenen, Besetzungsfehltritte (Shailene Woodley als Italienerin?) und einen komplett fehlenden Zug in der Geschichte zunichte gemacht. Das Ganze wirkt sehr distanziert und konstruiert; ich habe überhaupt keine Leidenschaft gespürt, weder von Enzo noch vom Film selbst. Die Dialoge sind oft hölzern, die CGI-Effekte fühlen sich recht billig an, und alle von Manns üblichen stilistischen Markenzeichen (seine spezielle Art der Handkameraarbeit, Fokusracks auf den Ohren und Sonnenbrillen der Charaktere, aggressive Musikeinlagen mit Lisa Gerards Gesang usw.) fühlen sich ziemlich beliebig, hohl und wie ein Echo seiner älteren Meisterwerke an.


Das Schlimmste ist, dass die Rennszenen sehr spärlich gesät und ziemlich banal inszeniert sind. Das Einzige, was den Film vorm kompletten Scheitern bewahrt, ist die unbestreitbare Leinwandpräsenz von Adam Driver und Penelope Cruz, die auch eine Handvoll wirklich starker Szenen bestreiten. Das liest sich alles vielleicht etwas härter, als es der Film objektiv verdient hätte, aber die hohen Erwartungen ob des perfekten Matches zwischen Regisseur und Thema haben ihn leider zu einer frühen (und wahrscheinlich der größten) persönlichen Enttäuschung im Festivalablauf gemacht.

Nach diesem ernüchternden Start in den Tag verlassen wir wild diskutierend den „Sala Darsena“. Meiner Freundin hat der Film nämlich sehr viel besser gefallen und sie war insbesondere von der Darstellung der kühl-geschäftlichen Ehe in „Ferrari“ recht angetan. Die sengende Mittagssonne, die den ziemlich unüblichen, grau-verregneten Himmel unseres ersten Tages abgelöst hat, heizt die Diskussion weiter an, bevor nach wenigen Minuten der nächste Altmeister ruft: Luc Besson und sein „DogMan“.


In dieser spielerischen Variation von „Joker“ liefert Caleb Landry Jones eine beeindruckende Tour de Force als vom Leben gebeutelter, cross-dressender Hundeflüsterer ab. Dabei geht Monsieur Besson, wie bei vielen seiner Filme der letzten Jahre („Anna“, „Valerian“), eher mit dem groben Pinsel vor und arbeitet mit einer oft erprobten Rückblendenerzählstruktur und vielen sehr klischeehaften Nebenfiguren. Bezogen auf seine Hauptfigur und ihre Cross-Dressing-Leidenschaft zeigt er aber eine erstaunliche Wärme und großes Fingerspitzengefühl, was dann doch ans Herz geht. Unterm Strich gewinnt „DogMan“ definitiv keinen Innovationswettbewerb, weiß aber wegen seiner mitreißenden Hauptfigur und Bessons nach wie vor starkem visuellen Talent für die Erschaffung eigener Welten (selbst bei sehr viel kleinerem Budget als zuletzt) durchaus gut zu unterhalten. Der Film ist in den nächsten Wochen unter anderem auch als Eröffnungsfilm des Fantasy Filmfests in vielen deutschen Städten zu sehen.

Sofort geht es wieder raus in die Sonne und in den großen Stress, in einer knappen halben Stunde schnelle Lösungen für den Magen und die Blase zu organisieren. Dabei treffen wir befreundete Filmliebhaber und sofort beginnt einer der größten Freuden des Festivalalltags: der rege Austausch mit den Kernfragen „Was hast du gerade gesehen? / Und wie fandste? / Und was steht als nächstes an?“

Nach sehr leckeren und erfreulicherweise zu sehr moderaten Preisen auf dem Festivalgelände angebotenen Paninis geht es wild durcheinanderredend in den nächsten Saal. Und zu einer Wildcard, denn natürlich will man neben den bekannten Namen und sowieso heiß erwarteten Most-Wanted-Filmen auch etwas entdecken. Die kleinen versteckten Perlen, die noch unbekannten Highlights von Morgen. Und unsere Wahl fällt auf „Stolen“ einen kleinen indischen Thriller, dem sehr lobende Worte von Festivaldirektor Alberto Barbera vorausgingen. Die interessante Prämisse erzählt von einer armen, jungen Frau, deren Baby an einem Bahngleis gestohlen wird und die sich gemeinsam mit einem Bruderpaar, das eigentlich zur Hochzeit der Mutter will, auf die Suche und eine wilde Rettungsmission macht.

Es gibt ein paar interessante Twist and Turns, die leider aber nach der ersten Hälfte eher ins Lächerliche kippen und auch die Actionszenen, in denen indische Dorfbewohner einen SUV mit Metallstangen attackieren und dabei musikalisch untermalt werden, als entstammen sie aus „Mad Max – Fury Road“, zeigen eher die produktionellen Beschränkungen auf, als die Nerven der Zuschauenden zu kitzeln. Trotzdem ein interessanter, kleiner Film, dem ich aber persönlich keine weitere Reise bis zu uns nach Deutschland zutraue.

Da der Filmtag hier überraschend früh endet, wird schnell das nächste Wassertaxi weg vom Lido in die Innenstadt bestiegen, um dort noch ein bisschen Venedig-Altstadt-Atmosphäre aufzusaugen. Um auf Empfehlungen und Konditionsschwankungen einzugehen, wollen wir zu dritt noch einmal das Programm am Kalender optimieren, bevor morgen früh wieder neue Tickets bestellt werden müssen. Nach anderthalb Stunden geben wir auf - man kann eben nicht überall sein und manche Dinge muss man einfach sausen lassen. Auf keinen Fall jedoch eine gute Lasagne mit Blick auf die Grachten und einen blutroten Mond, der wie ein Vorbote des fantastischen und sehr besonderen Films, der uns am nächsten Morgen erwartet, am Nachthimmel aufzieht.
 

 

Freitag, 01. September: Glücksmomente in Serie

Der Wecker klingelt um 6.30Uhr. Es ist Viva-Ticket-Zeit. Über das italienische Karten-Vorverkaufssystem läuft die komplette Reservierung aller Vorstellungen und die Karten für drei volle Tage gehen gleichzeitig online. Regelmäßig bricht das System unter diesem Ansturm komplett zusammen und sorgt für große Frustrationen, Beschwerden und viel Gesprächsstoff unter den Besuchern. „Der kleine Mann“ – eine Animation, die die digitale Warteschlange vorm Kartenkauf untermalt (welche häufig willkürlich zwischen zehn Minuten und anderthalb Stunden hin- und herspringt) – ist vermutlich die meist gehasste „Person“ des Festivals.

Während ich eine Viertelstunde lang dem kleinen Mann beim Spazieren zuschaue, hat meine Freundin mehr Glück und in der gleichen Zeit für uns beide die rund zehn Vorstellungen der nächsten Tage gebucht. Beflügelt von diesem unverschämt reibungslosen Ablauf hüpfen wir aufs Vaporetto und nach zwei schnellen Infusionen des fantastischen italienischen Kaffees in Yorgos Lanthimos neuen Film „Poor Things“.

Und besser kann ein Tag nicht starten, denn dieser einzigartige, saulustige, bewegende, endlos einfallsreiche und zutiefst humanistische Film ist ein absolutes Brett und kristallisierte sich nach den ersten Vorstellungen sofort bei Besuchern und Presse zugleich als Favorit des gesamten Festivals heraus. Da es auf der Seite hierzu noch eine einzelne Rezension geben wird, an dieser Stelle nur so viel: „Poor Things“ wird bei der kommenden Award Season und Oscar-Verleihung eine der Hauptrollen spielen und gerade an Emma Stones wahnsinnig mutiger und dabei extrem einnehmender Performance wird es vermutlich kein Vorbeikommen geben. Leider wurde der deutsche Kinostart gerade ein zweites Mal verschoben, und zwar auf den 08. Februar 2024.

Ein Festival schafft immer auch überraschende und manchmal ungewollte Kontraste, so clasht die sehr moderne Weltanschauung von „Poor Things“ eine halbe Stunde später mit der hoffnungslos altmodischen aus „One from the Heart“ in der Retrospektive. Francis Ford Coppolas kolossaler Flop von 1982 ist aus heutiger Sicht dann vor allem als sehr aufwändiges und auf ganzer Linie gescheitertes Experiment interessant. Aber auch für das Schließen solcher Bildungslücken ist ein Festival ja da.

Das Glück ist uns weiter wohlgesonnenen, denn beim anschließenden Burger-Essen erhaschen wir spontan freigewordene Karten für die anstehende Premiere von Wes Andersons erster Netflix-Kollaboration „The Wonderful World of Henry Sugar“. Der wundervolle Mister Anderson erhält bei diesem Screening den „Glory to the Filmmaker Award“, ist dementsprechend guter Laune, unterschreibt fleißig Autogramme (schon wieder Glück gehabt) und hält nach einer Laudatio seines Komponisten Alexandre Desplat eine wunderbar charmante Rede, die genauso unterhaltsam ist wie seine Filme.

Und das schließt den 40minütigen Kurzfilm mit Benedict Cumberbatch als Henry Sugar mit ein, der wahnsinnig schnell und gewohnt virtuos vom Erwerb einer ungewöhnlichen Superkraft erzählt. Der Film ist der erste von vier Roald Dahl-Kurzgeschichten, die Anderson exklusiv für Netflix adaptiert hat, und wie schon bei „The Fantastic Mr. Fox“ funktioniert diese Kombi absolut perfekt. Und alle Kritiker, die Anderson (meiner Meinung nach zu Unrecht) vorwerfen, die immer gleichen Storys mit den immergleichen Stilmitteln abzuliefern, müssen verstummen angesichts des einzigartigen visuellen Konzepts und des speziellen Tonfalls dieses atemlosen Kleinods. Ab 20. September auf Netflix abrufbar.

Der rote Teppich am Lido liegt mitten im Herzen des Festivalgeländes und lädt dazu ein zwischen den Filmen quasi im Vorbeigehen einen Blick auf Stars und kreischende Fans zu erhaschen. Dieses Jahr bleibt er aber deutlich leerer als sonst, denn wegen des immer noch andauernden Streiks der amerikanischen Schauspiel-Gewerkschaft dürfen nahezu alle US-Filme nicht von ihrem Cast beworben werden. Ausnahmeregelungen haben „Ferrari“ und „Priscilla“ bekommen und natürlich gilt das Verbot von vorneherein nicht für europäische Filme, deren Darsteller und Darstellerinnen nicht in der Gewerkschaft sind. Wie zum Beispiel der dänische Superstar Mads Mikkelsen, der mit seiner charmanten Präsenz die nächste Premiere um 16 Uhr veredelt: „The Promised Land“.

Nikolaj Arcels westernartiges Siedler-Drama erzählt mit ans Herz gehenden Figuren in rauen und gleichzeitig wunderschönen Bildern von den extremen Herausforderungen des… Kartoffelanbaus (!) im Dänemark des 18. Jahrhunderts. Das fühlt sich ein bisschen an wie „There will be Potatoes“ und beinhaltet behutsame emotionale Annäherungen und ein paar deftige Gewaltspitzen. Die klassische, aber sehr gut erzählte Geschichte voller hervorragender dänischer Schauspieler hat das Publikum spürbar von Anfang an im Griff. Und Mikkelsen und das Team dürfen sich beim Einsetzen des Abspanns über wirklich donnernden Applaus und ehrliche Begeisterung bei der obligatorischen Standing Ovation freuen. „Bastarden“ (so der Originaltitel) soll voraussichtlich diesen Herbst in die deutschen Kinos kommen.

Uff, bis hierhin schon ein sehr voller Tag und jetzt heißt es am Abend mal wieder: Altmeister-Time. Roman Polanski lädt ein in seinen „The Palace“ – ein Luxushotel in den Schweizer Alpen, in dem betuchte alte Damen mit Schönheitschirurgen anbandeln, reiche Russen mit ihren Bodyguards Zigarre rauchen, kleine Hunde ins Bett kacken und Mickey Rourke sich mit einer Sektflasche die Perücke vom Kopf spritzt. Das klingt nicht nur wie ein Sat1-Fernsehfilm am Dienstag, es sieht auch genauso aus und fühlt sich so an. Vor vier Jahren mit 86 Lenzen konnte Polanski mit dem gelungenen „Intrige“ noch den Hauptpreis in Venedig gewinnen, jetzt mit 90 hätte er sich diese (vermutlich letzte) Supergurke besser gespart. „The Palace“ ist eine hochpeinliche Angelegenheit und der unglaublich abgestandene Altherrenhumor dieser "Gesellschaftssatire“ kann dem ausverkauften riesigen Saal Darsena kaum einen Lacher abringen. Stattdessen eisige Stille und entsetzte Gesichter. Was ist hier bloß schiefgelaufen? Selbst das angebliche Luxushotel sieht wegen des geringen Budgets eher aus wie eine bessere Jugendherberge. Nach 30 Minuten und einem grauenvoll animierten digitalen Pinguin geben wir auf und schließen uns den zahlreichen Flüchtenden an, die eilig den Saal verlassen. Sorry Roman, aber das war leider ein ganz klarer Punkt für das Tarantino-Argument…
 

Samstag, 02. September: Meisterhafter Maestro

Als die ersten Kritiken das italienische Gangsterdrama des Wettbewerbs „Adagio“ „wie das Staffelfinale einer zehnteiligen Serie ohne Vorkenntnis“ beschreiben, beschließen wir, länger zu schlafen, den Film zu verpassen und stattdessen entspannt um 11.15 Uhr mit dem Biopic des berühmten Komponisten / Dirigenten Leonard Bernstein „Maestro“ zu starten.

Und es sollte der Tag der Überraschungen werden, denn da wir beide mit Bradley Coopers recht kitschigem „A Star is born“ nicht viel anfangen konnten, waren die Erwartungen an die zweite Regiearbeit des Schauspielers nicht besonders hoch. Doch schon während des furiosen Auftakts, in dem sich Bernstein ohne Schnitt in einer dynamischen Kamerafahrt nahtlos von seinem Studentenzimmer in die Konzerthalle schwingt, verfliegt die Skepsis. Cooper gelingt es vor wie hinter der Kamera ausgezeichnet, die übersprudelnde, jungenhafte Energie und das unvergleichliche Talent Bernsteins einzufangen, ohne sich dabei an klischeehaften „Guckt-mal-was-für-ein-Genie-er-ist“-Szenen abzuarbeiten. Strukturell ist der Film zwar recht nah an einem klassischen Biopic, doch der Fokus liegt weniger auf einer Aneinanderreihung aller relevanten Lebensstationen des Musikers, als auf seiner Beziehung zur Schauspielerin Felicia Montealegre (Carey Mulligan). Durch das nuancierte Spiel der Beiden und Coopers inspirierte Regie, die stets zur richtigen Zeit mit großen Gesten auftrumpft oder mit disziplinierter Zurückhaltung die Schauspieler beobachtet, gelingt ein berührendes Portrait einer sehr besonderen Liebe.

Der Film wurde am Lido recht gemischt aufgenommen, doch vielleicht ist Netflix hier endlich der Oscar-Anwärter gelungen, den der Streaming-Konzern schon seit Jahren forcieren will.

Weiter geht es in der Kategorie Orizzonti mit „Tatami“. Der Film ist die erste künstlerische Zusammenarbeit zwischen dem Iran und Israel und positioniert sich deutlich gegen das iranische Regime. Klingt also sowohl hochpolitisch wie auch potenziell sehr fordernd und schwer verdaulich, was erneut überraschenderweise überhaupt gar nicht der Fall ist. Es geht nämlich um eine junge iranische Judo-Sportlerin, die hinter den Kulissen der Weltmeisterschaft vom iranischen Staat genötigt wird, eine Verletzung vorzutäuschen und auszuscheiden, da sie im Finale auf eine israelische Kontrahentin treffen könnte.

Daraus entwickelt sich schon nach wenigen Szenen ein hochspannender Sport-Politthriller, der trotz seiner ideologischen Sprengkraft auch als packender Genrefilm tadellos funktioniert. Ein Ansatz, der für Hauptdarstellerin Zar Amir Ebrahimi schon beim Serienkiller-Politthriller „Holy Spider“ voll aufging. Hier ist sie nun zusammen mit Guy Nattiv auch als Co-Autorin und Co-Regisseurin verantwortlich und man muss den beiden zu ihrem frischen Ansatz, den tollen Figuren, natürlichen Dialogen und der hohen Spannung wirklich gratulieren. Gerade die Chemie und Dynamik zwischen Arienne Mandi als Judo-Weltmeisterschafts-Anwärterin und Zar Amir Ebrahimi als ihre Trainerin lässt das Publikum total mitgehen und beim anschließenden Q&A in euphorische Begeisterungsstürme ausbrechen. E es bleibt zu hoffen, dass wir noch einiges von diesem Geheimtipp des Festivals hören werden.

Sonntag, 03. September: David Fincher in maximaler Dosis

Mit Sicherheit der Tag des Festivals, dem ich am meisten entgegengefiebert habe, denn mein Lieblingsregisseur heißt David Fincher. Nach mehreren Serienprojekten („House of Cards“, „Mindhunter“) und der für ihn ziemlich untypischen Hollywood-History-Lesson „Mank“ präsentiert der Meister in Venedig endlich wieder einen neuen Thriller.

„The Killer“ ist eine weitere Netflix-Produktion, wird jedoch vor dem Streaming-Start am 10. November bei uns ab 27. Oktober zumindest einen kleinen Kino-Release bekommen. Zum Glück, denn natürlich gehören die Filme des so perfektionistischen wie stilbewussten Regisseurs auf die große Leinwand. Mindestens so groß wie die des „Sala Darsenas“ in dem wir uns (mal wieder schon um 8.30 Uhr) voller Vorfreude einfinden.

Aus Vorfreude wird dann zwei Stunden lang pure Begeisterung, denn wir werden nicht enttäuscht. Eine Review wird auf Filmszene folgen, deswegen hier nur kurz und knapp: „The Killer“ ist ein düsterer, abgründiger Trip in die Psyche eines Soziopathen, voller grandioser Bilder und wuchtiger Momente, reiht sich jedoch wie auch schon „Mank“ in Finchers persönliche und sperrige Phase ein und ist definitiv kein Crowdpleaser. Handlung und Charaktere treten soweit es nur geht in den Hintergrund, um Platz zu machen für eine intensive Dekonstruktion des Auftragskiller-Mythos und eine detailverliebte Studie endloser Prozesse und Verhaltensweisen, die dieses Leben so mit sich bringt.

In meiner Euphorie nutze ich quasi alle Vorstellungsmöglichkeiten des Festivals und schaue den Film dreimal hintereinander. Neben der Brillanz des Films fällt mir dabei auch eine interessante Neben-Beobachtung auf. Und zwar wie unterschiedlich das Publikum auf den gleichen Film in drei ausverkauften Vorstellungen reagieren kann: Die frühste Vorstellung hat gefühlt den größten Anteil an jüngeren Leuten und vielen Fans, die heiß auf den Film sind. Verständlich, wer quält sich schon sonst dafür um 6 Uhr aus dem Bett? Dementsprechend ist hier die Stimmung die beste und der feine, subtile und sehr bösartige Humor erntet dutzende Lacher des gesamten Publikums.

Die Mittagsvorstellung ist vor allem gefüllt mit etwas älteren Kritikern und vielen Menschen aus der Branche. Hier funktionieren nur noch die größeren, offensichtlicheren Jokes und lange nicht in derselben Lautstärke wie einige Stunden zu vor. Welche in der abendlichen Premierenvorstellung, in Finchers Anwesenheit, nochmal deutlich reduziert ist. Mit großem Glück ergattern wir in letzter Sekunde zwei Karten auf vivaticket, die von anderen Gästen storniert worden sind und müssen leider miterleben, wie der Film auf dieser großen Galaveranstaltung mit Abstand am schlechtesten mit dem Publikum connectet.

Die Premieren werden vor allem mit italienischen Influencern vollgestopft, die in aufwändiger Abendgarderobe medienwirksam über den roten Teppich schreiten. Leider scheinen sie aber am eigentlichen Film recht wenig Interesse zu haben, zumindest erleben wir um uns herum ständige Blicke aufs Handy, gelangweiltes Stöhnen und so gut wie gar keine Lacher mehr. Die für Venedig obligatorische Standing Ovation fühlt sich dann auch eher pflichtschuldig an und ist den Zuschauerinnen und Zuschauern vielleicht genauso unangenehm wie David Fincher (https://www.youtube.com/shorts/GFg356WAOe8).

Sehr schade, denn draußen vor dem Saal haben sich gefühlt hunderte Fans versammelt, um dem „Fight Club“-Regisseur zuzujubeln und um Autogramme zu bitten. Das größte Fanaufkommen, dass wir, ohne die Beteiligung von Schauspielerinnen und Schauspielern in diesem Jahr am Lido zu sehen bekommen.

Für mich war es auch ein sehr besonderer Moment, eine Person, die mich seit Jahrzehnten in unzähligen Interviews, Audiokommentaren und Making Ofs inspiriert hat, einmal aus nächster Nähe, bei der (für ihn wie gewohnt leicht sarkastischen) Pressekonferenz bewundern zu dürfen.

Die Aufregung und der Schlafmangel fordert dann auch ihren Tribut: Bei Ryusuke Hamaguchis „Drive my Car“-Nachfolger „Evil does not Exist“ (bestimmt einer der Favoriten auf den Regiepreis) fallen mir nach 30 Minuten und einer gefühlt zehnminütigen Einstellung, in denen ein Mann stumm Holz hackt, die Augen zu.

Montag, 04. September: Bescheidener Abschied von einer großen Legende

Viele der ganz großen Banger hatten jetzt ihre Premiere und das Festival wird endlich ein kleines bisschen weniger wuselig. Meine Freundin und ich lassen es auch ruhiger angehen und starten erst mit der Rekordzeit von 14 Uhr und einem ruhigen, herzlichen japanischen Drama namens „Moving (Ohikkoshi)“ aus der Retrospektive.

Der Film von Shinji Sōmai erzählt aus der Sicht eines kleinen Mädchens von der Scheidung ihrer Eltern und das auf wunderbar einfühlsame und magisch-realistische Art und Weise. Ein ganz toller Film, den Wettbewerbs-Teilnehmer Ryusuke Hamaguchi wortreich auf japanisch einführt. Leider verstehen wir davon kein Wort, da die Übersetzung ausschließlich auf italienisch erfolgt, was für einige lange Gesichter und überforderte Google-Translator Anfragen sorgt.

Danach ist wieder Altmeister-Time angesagt: der erst sehr kürzlich verstorbene und legendäre William Friedkin („The Exorzist“, French Connection“, „Sorcerer“) kann der Premiere seines TV-Courtroom-Dramas „The Caine Mutiny Court-Martial“ traurigerweise nicht mehr persönlich beiwohnen. Sehr schade, denn seine bekanntermaßen provokanten Interviews hätten den ansonsten sehr unaufgeregten Film definitiv bereichert.

So ist „Caine Mutiny“ eine klassische Gerichts-Story und wirkt mehr wie eine Theater-Aufzeichnung als wie ein wirklicher Film. Trotz des billigen TV-Looks inszeniert Friedkin den Fall routiniert und die durchweg guten Schauspieler haben sichtlich Freude an den geschliffenen Dialogen von Bühnenautor Herman Wouk. Die letzte Szene kommt etwas sehr plump daher, trotzdem kann der Film Fans des Genres über die Lauflänge ganz gut bei der Stange halten. Doch obwohl er zwar kein Ärgernis wie Polanskis „The Palace“ geworden ist, muss man schon konstatieren, dass er, ohne die Tatsache, der letzte Film von William Friedkin zu sein, kaum das Interesse eines Festivals wie der Biennale hervorrufen könnte.

Ähnliches vermuteten wir auch für Woody Allens „Coup de Chance“, den wir uns deswegen gespart haben, doch ebenfalls zu den Überraschungen des Festivals muss gezählt werden, dass die Kritiken zum ersten rein französischen Werk des 87-jährigen erstaunlich positiv ausfielen und von seinem besten Film seit 15 Jahren sprechen.

Vermutlich hat Allen damit das Altmeister-Duell des Lidos gewonnen. Trotzdem ist die eingangs erwähnte Tarantino-These vom schwachen Alterswerk ehemaliger Regie-Legenden bei diesem Festival um einige prägnante Beispiele länger geworden. Die Folgerung, dass die schwachen bis peinlichen Filme den Legendenstatus stark beschädigen, bekommt jedoch nicht meinen Zuspruch. „Rosemarys Baby“ und der „Exorzist“ sind immer noch genauso gut wie zuvor. Und der Gedanke, dass diese ehemaligen Revolutionäre bis in ihre 90er ihrem Beruf und ihrer Passion nachgehen wollen und können, ist kein so schlechter.

Dienstag, 05. September: Sofia Coppola, betörend wie immer

In der Retrospektive konnte man beobachten, wie Francis Ford Coppola 1982 eher unbewusst eine aus heutiger Sicht ziemlich toxische Beziehung schilderte, im Wettbewerb widmet sich Tochter Sofia dem Thema in „Priscilla“ ganz bewusst. Die Beziehung zwischen Priscilla und Elvis Presley bietet der Filmemacherin eine willkommene Möglichkeit das Hauptthema beinahe all ihrer Filme zu variieren: eine Frau im goldenen Käfig, die große Langweile der Gefangenschaft, aber auch der ewige Glanz der Gitterstäbe.

Priscilla lernte den damals 24-jährigen King 1959 in Westdeutschland kennen, als sie gerade einmal 14 Jahre alt war. Das schwierige Ungleichgewicht dieser Beziehung und die trotzdem nicht zu leugnende aufrichtige Liebe gehen in dem von A24 (das Studiologo wurde euphorischer beklatscht als jede Person auf diesem Festival) produzierten Drama Hand in Hand. Das ist von Coppola gewohnt sensibel und voller Mitgefühl für Priscillas Situation inszeniert, fügt ihrem Schaffen aber auch keine nennenswerten neuen Aspekte hinzu. Jacob Elordi als Elvis ist solide und vor allem ein interessantes Gegenstück zu Austin Butlers überdrehter Performance in Baz Luhrmans ebenso überdrehtem „Elvis“, während Cailee Spaeny in der Titelrolle eine enorm charismatische Entdeckung ist. Außerdem sind der Soundtrack, die stilvolle Kostüm- und Ausstattungsarbeit, sowie das Feiern unzähliger Details der Weiblichkeit wie immer eine Augenweide. Die beste Szene des Films zeigt dann wie Priscilla mit geplatzter Fruchtblase auf den Krankenwagen wartend in aller Seelenruhe künstliche Wimpern anlegt und dabei einfach nur ikonisch wirkt.

Ikonisch möchte auch „Day of the Fight“ von Schauspieler und John Huston-Enkel Jack Huston sein. Das Boxerdrama aus der Orizzonti-Kategorie über den letzten Tag im Leben eines dem Tod geweihten Boxers (Michael Pitt) ist dabei aber extrem stereotyp erzählt und von Anfang bis Ende in einem kitschigen Score ertränkt, so dass man das Gefühl hat, den klischeehaftesten Sportfilm aller Zeiten zu sehen. Daran können auch die schicke schwarz-weiß Fotografie und die guten Schauspieler (Steve Buscemi, Ron Perlman, Joe Pesci – alle in kleinen Gastrollen zu sehen) nichts ändern.

Nach diesem ernüchternden Erlebnis kann sich das Dunkel des Kinosaals nicht mehr gegen die Verlockung des strahlenden Wetters durchsetzen und wir verbringen den restlichen Tag am Strand. Das man in nur wenigen Schritten die dicht beieinander liegenden Kinosäle des Festivalgeländes hinter sich lassen und gegen feinen Sand und ein erfrischendes Bad im Meer austauschen kann, gehört für mich ganz sicher mit zum Zauber der Filmfestspiele von Venedig.
 

Mittwoch, 06. September: Zum Ende nochmal ordentlich gelacht

Bereits drei Tage vor Schluss und der großen Preisverleihung heißt es für uns Abschied nehmen, denn unser letzter Festivaltag ist gekommen. Ava DuVernays „Origin“ aus dem Wettbewerb erweist sich leider schon nach wenigen Minuten als thesenhaftes Politkino in seiner anstrengendsten Form. Das Drehbuch reiht dabei scheinbar wahllos Erlebnisse der wahren Pulitzerpreisträgerin Isabel Wilkerson und wissenschaftliche Diskurse ihrer Rassismus-Forschung aneinander und lässt dabei keinerlei Interesse an konventioneller Dramaturgie erkennen.

Nach 30 Minuten schließe ich mich den zahlreichen Walkouts an und genieße stattdessen noch einmal die einzigartige Atmosphäre des Festivalgeländes. Die schneeweißen Steine, knallroten Kinos, grünen Bäume und die überall spürbare Cinephile verleihen dem Lido einen wahrhaft magischen Anstrich. Wie so oft checkt man nach dem Weg ins Freie beinahe unbewusst auf dem Handy, wie die ersten Reaktionen der Welt auf die brandneuen Filme ausfallen. Im Falle von „Origin“ scheine ich nicht viel verpasst zu haben, der Film belegt den letzten Platz des internationalen Kritikerspiegels.

Nach einer letzten fantastischen Pizza beenden wir unsere persönliche Festival-Experience mit einem Komödien-Double-Feature, das als unfassbar-unterhaltsamer Abschluss nicht perfekter hätte ausfallen können:

Richard Linklaters „Hit Man“ (ja, der zweite Film im Wettbewerb, der von einem Auftragskiller handelt – eine Tatsache, auf die sich die internationalen Journalisten gieriger stürzen als wir auf die Pizza) ist die wirklich umwerfend witzige Geschichte eines Uni-Professors, der in seinem Nebenjob vorgibt Auftragskiller zu sein, um so zukünftige Mörderinnen und Mörder für die Polizei dingfest zu machen. Der vor allem aus einer Nebenrolle aus „Top Gun 2“ bekannte Glen Powell gibt in zahlreichen Verkleidungen und mit unwiderstehlichem Charisma die Titelrolle und dürfte damit schnell zu einem wachechten Star aufsteigen.

Der clevere und immer wieder überraschende Plot entwickelt sich mit dem Auftreten der ebenso wunderbaren Adria Arjona, als potenzielle Kundin des falschen Hitmans, immer mehr zu einer Romcom, wie wir seit langem keine mehr gesehen haben. Die Beiden haben nämlich eine aufregend-knisternde Chemie und versprühen einen Sex-Appeal der die Temperatur im Pala-Biennale gefühlt um einige Grad ansteigen lässt. Das Publikum ist sichtlich verzaubert von dem prickelnden Treiben des ungleichen Paares, und das grandiose Finale des immer verzwickter werdenden Verwechslungsplots erntet das erste Mal bei diesem Festival donnernden Szenenapplaus. Diese an die Werke Billy Wilders erinnernde, virtuos geschriebene finale Konfrontation bringt die diversen Handlungsstränge des Films in einer großen Comedy-Szene wahnsinnig elegant und himmelschreiend witzig zu einem Abschluss und darf schon jetzt zu den besten des Jahres gezählt werden.

Danach hat Quentin Dupieux („Monsieur Killerstyle“, „Incredible but true“, „Rubber“) die Ehre unseres letzten Venedig-Films und liefert mit „Daaaaaali!“ wie erwartet ab. Seit etwas über zwanzig Jahren wechselt der französische Künstler nun schon regelmäßig vom DJ-Pult seines Musiker-Alter Egos „Mr. Oizo“ auf den Regiestuhl surrealistischer Komödien, bei denen eine Prämisse abgedrehter ist als die nächste. Mit seinen stets locker aus der Hüfte geschossen wirkenden Filmen über gigantische Fliegen, verführerische Lederjacken, mörderische Autoreifen oder entführte Hunde hat der Erschaffer des „Flat Beat“ einen enorm spezifischen Stil kultiviert, dessen Eigenständigkeit und Unverwechselbarkeit ihn mittlerweile zum Glück auch auf große Festivals wie Venedig führt (wenn auch leider nicht in den Wettbewerb).

Und natürlich ist auch sein neuster Streich kein klassisches Biopic über Salvador Dali, sondern, na ja, komplett absurder, dadaistischer Surrealismus, der immer zwischen totalem Quatsch und absoluten Genie hin und her pendelt.

Die vielen „A“s des Titels stehen für die verschiedenen französischen Schauspieler (u.a. Jonathan Cohen, Giles Lelbouche und Alain Chabat) die den berühmten spanischen Künstler scheinbar ohne erkennbaren Grund abwechselnd und auf extrem überzogene Weise verkörpern. Und damit fängt der Wahnsinn gerade erst an. Allein der Eröffnungsgag, in dem Dali auf dem Weg zu einem Interview scheinbar minutenlang einen 20 Meter langen Flur entlang geht, ließ das Publikum gleichermaßen in Lachsalven explodieren oder ungläubig mit dem Kopf schütteln. Allem Blödsinn zum Trotz, gelingt es Dupieux aber durchaus etwas vom Wesen Dalis in seinem gewohnt exzentrischen Film zu transportieren und macht mit seiner Mischung aus künstlerischem Anspruch und purem Entertainment den, wie immer, sehr kurzen Film zu einem genussvollen Abschied.

So beflügelt lassen wir die Nacht bei guten Drinks und ausgelassener Atmosphäre in der Festival-eigenen Campari Bar ausklingen und sagen leise „Ciao Ragazzi, Venezia“– bis zum nächsten Jahr!

Zum Ende des Festivals wurde am 09. September schließlich dem favorisierten "Poor Things" von Giorgos Lanthimos der Goldene Löwe als Hauptpreis des Festivals verliehen. 


Mal wieder seit langer Zeit ein wunderschöner und persönlicher Festivalbericht! Bitte, Bitte mehr davon! Habe mich jeden Tag darauf gefreut und war Anfangs sogar etwas enttäuscht als die einzelnen Tage auf sich warten liessen.
Ich weiss das im Zeitalter von Social Media und insbesondere YouTube die "normale" Kinowebsite einen schweren Stand hat. Aber meiner Meinung nach stellt Ihr hier mit eurem Konzept mittlerweile eine wirklich Marktlücke dar. Bestimmte Filmseiten wie z.B. *starts.de ergehen sich mittlerweile in drögen und reisserischen News die sich bei näherer Betrachtung lediglich als als Fernseh- oder Streamingtipp entpuppen . Echte News über Drehbüchern, ein wenig Gossip oder neuen Produktionen, leider Fehlanzeige (wie wäre es den bei euch mit einer News Sektion, einer echten!). Nach dem es hier im Laufe der letzten Jahre recht ruhig geworden ist, könnte man doch mal wieder über eine Neubelebung einer tollen Website nachdenken. Die Fan-Base habt Ihr bestimmt! Liebe Grüße Christian

Permalink

Antwort auf von Christian Daniel

@Christian Daniel: Danke für dein schönes Lob und dass du uns solch eine große Fan-Base zutraust. Es ist aber ja nicht ohne Grund etwas ruhiger geworden auf unserer Seite in den letzten Jahren. Filmszene.de ist immer noch das, was es immer war - ein Hobbyprojekt einiger filmbegeisterter Leute, die aber auch älter werden und wegen Familie, Arbeit etc. immer weniger Zeit dafür haben. Aufwendige Veränderungen wie eine News-Sektion wird es daher leider nicht geben. Dafür fehlen uns definitiv die Zeit und auch die Mittel. Auch wenn wir deine Hoffnung also deutlich dämpfen müssen, bleibst du uns hoffentlich trotzdem weiter als begeisterter Leser erhalten. Solch ein Feedback wie das von dir freut uns jedenfalls immer sehr und ermuntert uns, trotz geringer Zeit dennoch mit der Seite weiterzumachen.  

Permalink

Auch von meiner Seite ein großes Lob für diesen ausführliche Festivalbericht. Sehr schön zu lesen dieser aus persönlicher Sicht beschriebene Festivalbesuch.

Bleibt zu hoffen, daß es die meisten Festivalhighlights hier in’s Kino schaffen. Der Zugriff auf „The Wonderful World of Henry Sugar“ scheint ja zumindest direkt über Netflix bereits möglich.

Permalink

Neuen Kommentar hinzufügen

Der Inhalt dieses Feldes wird nicht öffentlich zugänglich angezeigt.

Klartext

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
  • Website- und E-Mail-Adressen werden automatisch in Links umgewandelt.
CAPTCHA
Diese Aufgabe prüft, ob du menschlich bist um Bots zu verhindern.