Bei "Hard Candy" handelt es sich zweifellos um einen Film, der beim Publikum ein sehr gespaltenes Echo hervorrufen wird. Es lässt sich ganz vorzüglich darüber streiten, welche Moral denn hier vertreten werden soll, es lässt sich aber bestimmt auch genauso argumentieren, dass diese Frage vollkommen überflüssig ist, da diesem Film sowieso jegliche Glaubwürdigkeit fehlt. Unwidersprochen lässt sich aber auf jeden Fall Eines sagen: Dieser Film entfaltet nur dann seine volle Wirkung, wenn man vorher möglichst wenig bis gar Nichts über ihn weiß und sich von der Entwicklung der Handlung komplett überraschen lässt. Daher wird die gewohnte Inhaltsangabe hier nicht nur entsprechend kurz gehalten, sondern auch die deutliche Empfehlung ausgesprochen, sich mit der Besprechung des Films erst dann auseinander zu setzen, nachdem man ihn gesehen hat.
Sofern einen denn das hier überhaupt in Ansätzen interessiert: Nachdem sie sich über einen Internet-Chat kennen gelernt haben, kommt es zum ersten persönlichen Treffen zwischen Hayley und Jeff. ER scheint ein wenig überrascht, aber keinesfalls enttäuscht, dass seine neue Bekanntschaft erst 14 Jahre jung ist, SIE ist erfreut, dass es sich bei ihm nicht um einen typischen Computer-Nerd, sondern um einen recht attraktiven Mann Anfang Dreißig handelt. Für Jeff läuft die Begegnung ausgezeichnet, denn dass Hayley sofort bereit ist mit in sein Haus zu kommen, scheint ihm nur recht. Dort beeindruckt der erfolgreiche Fotograf das junge Mädchen weiterhin mit seinem Charme und einem stilvollen Luxus-Apartment. Als er beginnt, hochprozentige Cocktails zu mischen, muss man sich anscheinend langsam Sorgen um den naiven Teenager in seinem Haus machen.
Oder auch nicht, oder vielleicht eher um den guten Jeff. Denn plötzlich entwickelt sich ein psychologisches Katz- und Mausspiel, bei dem die Rollen keineswegs so klar verteilt sind, wie es zunächst den Anschein hat. Es wird unschön, es wird schmerzhaft, und das nicht nur im erwähnten psychischen Sinne. Ja, diese Geschichte entwickelt sich im wahrsten Sinne des Wortes so unglaublich, dass sie mehrmals haarscharf am Rande dessen verläuft, was man noch ernst nehmen kann. Allerdings weicht die Neigung zum abfälligen Lachen dann doch meist wieder einer gewissen Beklemmung und Unbehaglichkeit. Und vor allem auch einer nicht zu leugnenden Spannung, denn wenn "Hard Candy" eines ganz bestimmt nicht ist, dann ist es vorhersehbar.
Von Versöhnung bis Mord scheint hier jederzeit alles möglich, und dass der Film die Grenze zur Lächerlichkeit dann eben doch nicht überschreitet, liegt einerseits am intelligenten Drehbuch von Brian Nelson, das sich dieser Gefahr sehr bewusst scheint und daher immer wieder gerade noch rechtzeitig die Kurve kriegt, und andererseits natürlich an den beiden Hauptdarstellern, die das Ganze auf ihren Schultern tragen. Wobei die Bezeichnung "Haupt" eigentlich überflüssig ist, handelt es sich bei Ellen Page und Patrick Wilson doch im Grunde genommen um die einzigen Darsteller dieses bemerkenswerten Kammerspiels.
Wem Page in ihrer kleinen Rolle als durch Wände laufende Kitty Pride im letzten "X-Men"-Film aufgefallen ist, der dürfte ob ihrer Verkörperung der perfiden Hayley den Mund vor Staunen kaum noch zu bekommen, denn so etwas hat man wohl noch nicht gesehen. Auch Wilson fiel bislang mit Nebenrollen im "Phantom der Oper" oder der erfolglosen "Alamo"-Neuverfilmung nicht wirklich auf und schafft es hier nun, eine große Portion Sympathie und Mitleid für ein offensichtlich pädophiles Arschloch zu erspielen.
Denn Regisseur David Slade hat diese Low Budget-Produktion, die auch sein Spielfilmdebüt markiert, so gekonnt im Griff, dass es ihm damit gelingt die Gefühle des Zuschauers auf beeindruckende Weise zu manipulieren. Der Versuchung, abwechselnd Sympathie und Zuneigung sowie Hass und Abscheu gegenüber den Protagonisten zu empfinden, kann sich selbst ein abgebrühter Betrachter hier nur schwerlich entziehen. Das verdient einfach Lob, und daher sind die kleinen Schwächen, die dieses nur in Punkto Drehzeit, Ausstattung und Anzahl der Mitwirkenden minimalistische Werk zweifellos auch besitzt, gern verziehen.
Denn wem es gelingt, bei einer derart heiklen Geschichte so gekonnt die an jeder Ecke lauernden Fallstricke zu umschiffen, der sollte dafür von Publikum und Kritik belohnt werden und dies als Ansporn sehen, diesem viel versprechenden Debüt vielleicht bald noch etwas Größeres folgen zu lassen.
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