Am 14. August 2003 vermeldeten die Nachrichten den Tod von Helmut Rahn, dem Schützen des legendären Siegtreffers zum 3:2 im Finale der Fußball-Weltmeisterschaft 1954. Am nächsten Tag fand in Hamburg die erste Pressevorführung von "Das Wunder von Bern" statt, Sönke Wortmanns "Verfilmung" dieses historischen ersten Hochgefühls des Nachkriegsdeutschlands. Diese traurige Parallelität der Ereignisse zeigt, dass sich dieses Ereignis wirklich in den Bereich der Geschichte begeben hat: Die Generation der Zeitzeugen beginnt langsam zu verschwinden. Was zurückbleibt, ist die großartige Legende eines völlig unerwarteten Außenseitererfolges, von der Rückkehr eines zerrütteten und zerbombten Landes an die Weltöffentlichkeit, von Fritz Walters treffendem Urteil: "Wir sind wieder wer."
Es war mehr als ein Fußballtitel, und deshalb beschränkt sich Sönke Wortmann in dieser Filmadaption - die Erfüllung eines persönlichen Kindertraumes - auch nicht mit der Nacherzählung der Ereignisse um und innerhalb der deutschen Nationalmannschaft, sondern konzentriert seinen Film hauptsächlich auf die Essener Familie Lubanski, die mit ihren fünf Mitgliedern als Querschnitt für die Befindlichkeit der deutschen Nachkriegsbevölkerung fungiert: Vater Richard (Peter Lohmeyer) kehrt nach elf Jahren aus russischer Kriegsgefangenschaft heim, und findet seine Frau Christa (Johanna Gastdorf) als unabhängige Kneipen-Betreiberin, seinen älteren Sohn Bruno als überzeugten Jung-Kommunisten und Tochter Ingrid als lebensfrohen Teenager wieder. Der Jüngste, Matthias (Louis Klamroth), ist seinem Vater zwar am ähnlichsten, hat aber als leichtestes Opfer am meisten unter den Schwierigkeiten seines Vaters zu kämpfen, mit all den Neuerungen und Veränderungen in seinem Leben klar zu kommen. Einziger Lichtblick in Matthias' Leben ist der Fußball: Als emsiger Taschenträger seines Idols, dem lokalen Stürmerstar Helmut Rahn von Rot-Weiß Essen, fiebert Matthias der anstehenden WM in der Schweiz entgegen, für die Bundestrainer Sepp Herberger (Peter Franke) einen nicht immer harmonischen Haufen an Nationalspielern zusammengeführt hat.
Ein weiterer Subplot um den Sportjournalisten Ackermann (Lucas Gregorowicz aus "Lammbock"), der mit seiner wohlhabenden jungen Gattin Annette statt in die Flitterwochen zur
Es ist nicht leicht, aus dem vorhandenen Stoff einen wirklich runden Film zu machen, und leider scheitert "Das Wunder von Bern" daran auch: Die parallelen Plots um Vater und Sohn Lubanski und die deutsche Elf harmonieren nicht, vor allem, wenn man als Zuschauer eigentlich letzteren sehen will, aber hauptsächlich ersteren vorgesetzt bekommt. Dennoch hat sich Wortmann in dieser sehr aufwendigen Produktion viel Mühe gegeben, durch hohe historische Detailnähe ein akkurates und genaues Bild der Zeit zu vermitteln - und zumindest das gelingt vorzüglich. Vom Bier zur Musik (als man gerade anfing, "Band" statt "Kapelle" zu sagen), vom waschechten Lumpen-Ball über die frisch von Adi Dassler erfundenen Schraubstollen hin zur Brieftaube, die brandaktuelle Fußballergebnisse bringt, atmet "Das Wunder von Bern" die leicht idealisierte, aber dennoch authentische Luft der frühen 50er Jahre.
Ebenso authentisch sind die deutschen Auswahlkicker: Der wilde Dialekt-Mix im Trainingslager vermittelt schön den Straßenfußballer-Charakter der damaligen Elf, Jungs von nebenan und noch keine Vermarktungsobjekte mit PR-Berater. Besonderer Bonus: Wortmann besetzte die Nationalspieler nicht mit fußballernden Schauspielern, sondern mit schauspielenden Fußballern - alle Darsteller von Fritz Walter, Max Morlock, Toni Turek und Co. haben in der Realität schon in höheren Klassen gekickt. Das beabsichtigte Resultat tritt ein: Endlich mal ein Sportfilm, der auch nach echtem Sport aussieht, und nicht wie der Versuch eines Schauspielers, beim laienhaften Kicken möglichst professionell zu wirken. Was "Das Wunder von Bern" aber auf besonders eigenwillige Art interessant macht, ist die Tatsache, dass dies wohl der amerikanischste deutsche Film aller Zeiten ist. Soll heißen: Wortmann versucht sich hier an einem Genre, in dem es nicht um die Darstellung des Milieus geht (wie z.B. in "Fußball ist unser Leben" oder dem hervorragenden "Nordkurve"), sondern um die Überhöhung des sportlichen Triumphs zu einem Mythos. Und für so etwas gibt es hierzulande faktisch keine Vorbilder - dafür aber mehr als genug amerikanische Streifen (vornehmlich über Baseball) an denen man sich orientieren kann. Und so kriegt man hier wirklich alles serviert, was zum amerikanischen Sport-Formelkino dazugehört: breiter, emotionaler Sound vom Symphonieorchester; vielsagende Blicke in entscheidenden Momenten, natürlich in Zeitlupe; der Held, der erst sich selbst besiegen muss, bevor er Großes vollbringen kann; und am Ende fährt man sogar durchs ländliche Idyll in den Sonnenuntergang. Kurz: Wortmann lädt mehr Pathos in "Das Wunder von Bern", als man in einem deutschen Film überhaupt für möglich gehalten hätte.
Abgesehen von dem befremdlichen, aber durchaus interessanten Erlebnis, einen deutschen Film zu sehen, der sich wie ein amerikanischer anfühlt, soll das aber nicht heißen, dass es nicht funktionieren würde, denn das tut es. Was wiederum auch am Thema liegt: Es gibt nicht viele Ereignisse in der deutschen (Sport-)Geschichte, die sich für unreflektierte, pathetische Mythenbildung eignen, aber der WM-Sieg 1954 gehört ganz sicher dazu. Spätestens, wenn in den Schlussminuten im mit digitalen Zuschauermassen nachgestellten Wankdorf-Stadion zu Bern der Original-Kommentar von Herbert Zimmermann zitiert wird ("Boszik hat den Ball … verloren diesmal gegen Schäfer, Schäfer nach innen geflankt, aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen … Rahn schießt! …. Tor! Tor! Tor! Tor!") und man diesen auswendig mitsprechen kann, spätestens dann kann's eigentlich gar nicht mehr pathetisch genug sein. Ja, das ist Geschichte. Ja, das ist Mythos. Punkt. "Das Wunder von Bern" ist ein für deutsche Verhältnisse sehr umfangreiches Großprojekt (in hiesigen Maßstäben so etwas wie "Pearl Harbor" - nur besser), und stellt daher ein gewisses Risiko dar. Allerdings ist das Thema auch gut genug gewählt und umgesetzt, um ausreichendes Echo zu garantieren. Der Film ist keine brillante Meisterleistung, vermag jedoch (fast) alles zu leisten, was von ihm zu erwarten war. Qualitativ keine Konkurrenz für "Goodbye, Lenin!", könnte "Das Wunder von Bern" trotzdem der zweite große einheimische Volltreffer dieses Jahres werden. Zu wünschen ist es ihm zumindest. Denn dann wären wir vielleicht auch im Kino wieder wer. |
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