Im Jahre 2001 nahm sich Oliver Hirschbiegel für "Das Experiment" den berüchtigten Gefängnis-Versuch der Stanford University zum Vorbild. Nun folgt mit Dennis Gansels "Die Welle" die nächste deutsche Kinoverfilmung, die ein vor langer Zeit in den USA durchgeführtes psychologisches Experiment wiederaufbereitet. Das ausgerechnet deutsche Filmemacher hierfür so großes Interesse zeigen ist durchaus nachvollziehbar. Genauso wie der Stanford-Versuch setzte sich nämlich auch das Experiment des amerikanischen Geschichtslehrers Ron Jones, welches die Blaupause für "Die Welle" bildet, mit Phänomenen wie Gruppendynamik und blindem Gehorsam auseinander. Begriffe, die uns in Deutschland, historisch bedingt, gleich mal etwas unangenehm zusammenzucken lassen.
Glücklicherweise entwickelt sich das Interesse deutscher Filmemacher an diesen Stoffen aber langsam zu einem Glücksfall für das heimische Kino, denn nach "Das Experiment" ist nun auch "Die Welle" zu einem, von dem etwas holprigen Beginn mal abgesehen, packenden und nachdenklich stimmenden Film geworden. Da kann man dem Trailer dann doch fast uneingeschränkt zustimmen: Ja, sie wird dich mitreißen.
Davon ahnen die Schüler einer deutschen Kleinstadt freilich noch nichts, als sie sich bei einer Projektwoche an ihrer Schule für den Kurs "Autokratie" eintragen. Eher glauben sie, dass die Woche unter dem charismatischen Lehrer Wenger (Jürgen Vogel) deutlich entspannter ausfallen dürfte als bei seinen deutlich unbeliebteren Kollegen. Die Hoffnung scheint zuerst auch bestätigt zu werden, denn Wenger macht einen sehr unterhaltsam klingenden Vorschlag. Wieso nicht einmal eine Woche lang eine Diktatur im Unterricht spielerisch wiederaufleben lassen? Was mit strammstehen beginnt, steigert sich schon bald zu einer richtigen Bewegung, genannt "Die Welle", inklusive Logo und weißem Einheitslook. Während die meisten Schüler, darunter der zurückhaltende Marco (Max Riemelt) und vor allem der einstige Außenseiter Tim (Frederick Lau), von dem neuen Gemeinschaftsgefühl sehr angetan sind, entwickelt sich bei Marcos Freundin Karo (Jennifer Ulrich) schnell Skepsis. Doch ihre Vorbehalte stoßen auf taube Ohren, denn weder Marco noch Lehrer Wenger scheinen zu begreifen, dass die ganze Sache außer Kontrolle zu geraten beginnt.
Es ist kein vollkommen neues Terrain, auf das sich Regisseur Dennis Gansel ("Mädchen, Mädchen") hier wagt. Schon in "Napola - Elite für den Führer" beschäftigte er sich mit der Verführung der Jugend und der Gefahr, die von blindem Gehorsam ausgeht. Wer aber nun glaubt, dass Gansel in alter Routine auch in "Die Welle" immer wieder mit warnendem Zeigefinger "Denkt an das Dritte Reich!" hinausposaunen würde, der liegt falsch. Im Gegenteil, insbesondere am Schluss entscheidet sich Gansel ganz bewusst gegen solch naheliegende Vergleiche, und das obwohl der Mann mit dem Schnauzer im Originalexperiment eine ganz entscheidende Rolle spielte. Vor 40 Jahren wollte Ron Jones seinen Schülern mit Hilfe seines Experimentes die Dynamik hinter der Naziherrschaft veranschaulichen. Als es außer Kontrolle zu geraten drohte brach er das Experiment ab und unterstrich, mit Hilfe eines Filmes über das Nazi-Regime, noch einmal die mögliche zerstörerische Kraft, die von einer solchen Gruppendynamik ausgehen kann.
Gansel verzichtet in seinem Film dagegen fast komplett auf derart direkte Vergleiche mit dem Nationalsozialismus - und das ist auch gut so. Denn nicht nur sind diese Parallelen in der Geschichte so offensichtlich, dass man sie erst gar nicht zu betonen braucht, sie würden auch den Blick auf die Allgemeingültigkeit der Botschaft verstellen - und bei manchem Zuschauer wohl die gleiche Reaktion auslösen wie bei der genervten Schulklasse zu Beginn des Films: "Nicht schon wieder Drittes Reich!". Stattdessen werden die Vergleiche wenn dann nur sehr subtil eingesetzt, Stichwort "Flugblätter".
Dies ist nur eine von vielen weisen Entscheidungen des Nachwuchsregisseurs, dessen neuester Film lediglich zu Beginn eine kleine Schwächephase zu überwinden hat. Man merkt den Machern hier an, dass sie relativ schnell in das eigentliche Experiment einsteigen möchten und so etwas gehetzt in den ersten fünf Minuten gleich mal ein dutzend Figuren etablieren wollen. In der Eile greift man dann natürlich in die Klischeeschublade, aus der dann für die Schulklasse Figuren wie der Streber, der Witzbold, die Alternative und der Schüchterne herauspurzeln, die natürlich auch gleich exakt so aussehen wie sie sich verhalten. Sobald das Experiment dann aber losgeht, drosselt der Film Gott sei dank sein Tempo und die meisten Figuren können sich nun auch aus ihrem Klischeekorsett befreien.
Das nächste Lob ist dann auch nicht weit, denn auch wenn der Film natürlich das Experiment etwas überspitzt darstellt, besitzt er doch die nötige Ruhe und Zeit um das Ganze in einem immer noch sehr realistisch wirkenden Rahmen abspielen zu lassen. Das liegt vor allem daran, dass der Film es exzellent versteht die verschiedenen Motive der Schüler für deren steigende Begeisterung an dem Experiment zu verdeutlichen. Wem zum Beispiel das anfängliche laute Marschieren im Stechschritt lächerlich vorkommt, der ist auf einmal begeistert dabei, wenn Lehrer Wenger an den geräuschempfindlichen Kollegen ein Stockwerk darunter erinnert. Es mag spielerisch beginnen, doch schon bald verführt die "Welle" ihre Beteiligten durch den durch sie erlangten Respekt, neues Selbstbewusstsein und ihr Gemeinschaftsgefühl.
Der Film spielt hier wundervoll mit der Vielzahl an Komponenten, die an der Verführung der Schüler beteiligt sind. Und natürlich auch an der des Lehrers, dessen neues Ansehen ebenfalls nicht spurlos an seinem Ego vorübergeht. Auf den Punkt gebracht, hier ist einfach ein richtig cleveres Drehbuch am Werk. Lediglich einmal, nämlich als Mitglieder der "Welle" in der Stadt "Werbung" für ihre Bewegung machen, wird der Realismus des Ganzen doch ein bisschen in Mitleidenschaft gezogen. Hier kann man sich nur schwer vorstellen, dass nun niemand von Außen dem ganzen Spuk ein Ende setzen würde.
Gut aber, dass dies nicht passiert. So bleibt dem Zuschauer noch eine weitere halbe Stunde packendes Kino. Und ein Schluss, der vielleicht Puristen verärgern wird, doch dessen Abweichung vom Buch durchaus sinnvoll und konsequent ist. Da darf man dann auch Regisseur Gansel noch einmal loben. Nicht nur für das fesselnde Ende, sondern auch dafür, dass der Film nie seinen Schwung verliert und auch noch mit ein paar überzeugenden Montagen aufwarten kann.
Max Riemelt, seinen Hauptdarsteller aus "Napola" und "Mädchen, Mädchen", hat Gansel übrigens gleich mitgebracht. Dieser macht seine Sache auch ordentlich, genauso wie der Rest des jungen Ensembles. Jemanden herauszuheben ist hier allerdings schwierig, stattdessen fassen wir das am Besten mal unter guter geschlossener Mannschaftsleistung zusammen. Das will auch erst mal geschafft sein.
Natürlich thront aber über all dem noch Jürgen Vogel. Dass der ein klasse Schauspieler ist weiß man, und er gibt einem mit seiner Leistung hier wieder einmal keinen Grund das in Frage zu stellen. Seine Figur ist aber auch einfach ziemlich faszinierend und es ist fast schon ein bisschen schade, dass man nicht noch mehr von ihm geliefert bekommt. Insbesondere der sich entwickelnde Konflikt mit seiner Frau, gespielt von der wie immer wundervollen Christiane Paul, hätte noch ein paar zusätzliche Szenen verdient gehabt.
Zusätzliche Szenen hin oder her, "Die Welle" ist packendes Kino geworden, das einen nachdenklich und bewegt aus dem Kinosaal entlässt. Bleibt nur zu hoffen, dass da draußen noch mehr faszinierende psychologische Experimente stattfinden werden. Bei deutschen Filmemachern sind sie auf jeden Fall in sehr guten Händen.
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