Im unvergesslichsten Filmjahr der Neunziger,
dem glorreichen 1994, erblickte eine endlose Reihe großartiger
Filme das Licht der Leinwand. Streifen wie „Speed“, „Der König
der Löwen“, „True Lies“, „Vier Hochzeiten und ein Todesfall“,
alles bahnbrechende Werke, die ihre Genres nachhaltig prägen
sollten, und alle nochmals überschattet von dem grandiosen
Zweikampf zwischen „Forrest Gump“ und „Pulp Fiction“. In diesem
Jahr der Superlative entstand ein weiteres Meisterwerk, daß
im Strudel der anderen Meilensteine fast vollständig unterging.
„The Shawshank Redemption“, zu deutsch „Die Verurteilten“, basierend
auf einer Kurzgeschichte von Stephen King, floppte in den Kinos,
gewann bei sieben Nominierungen nicht einen Oscar und wurde
als der große Verlierer dieses Jahres gehandelt. Doch
im Laufe der Zeit fand dieser Film seine Fangemeinde, die so
groß wurde, daß „The Shawshank Redemption“ zeitweise
Platz 1 in der Liste der besten Filme aller Zeiten der „Internet
Movie Database“ belegte. Regisseur und Autor dieses großartigen
Werkes war der damalige Debütant Frank Darabont. Fünf
Jahre später nun machte Darabont seinen zweiten Film. Wieder
basierend auf einer Geschichte von Stephen King, wieder mit
einem Gefängnis als Ort der Handlung, wieder drei Stunden
lang. Und wieder grandios.
Paul Edgecomb ist ein ganz normaler Bewohner eines ganz normalen
Altersheims, der sich jeden Tag für einen langen Spaziergang
aus dem Haus schleicht. Eines Tages sieht er mit den anderen
Bewohnern einen Fred Astaire-Film im Fernsehen, und als dieser
„I’m in heaven“ singt, fängt Paul an zu weinen. Einer Freundin
erzählt er daraufhin die Geschichte, an die ihn dieses
Lied erinnerte. Denn vor sechzig Jahren, während der großen
Depression, war Paul der Chefwächter des Todestraktes in
einem Gefängnis in Louisiana (Fragen, die hier bereits
aufgeworfen werden, z.B. „Wie alt muß der Bursche denn
inzwischen sein?“ werden erst sehr spät beantwortet, denn
sie sind essentiell für den Ausgang des Films).
Todesträkte werden für gewöhnlich „The last mile“
genannt, dieser trägt den Namen „The green mile“, weil
er einen matt-grünen Fußboden hat. Hier arbeitet
Paul, wacht über eine Handvoll Totgeweihter, und versucht,
eine ruhige und entspannte Atmosphäre zu erhalten, in der
sich die Verurteilten auf den Tod vorbereiten können. „We
think of this place like an intensive care unit of a hospital“,
meint Paul. In diesem Sommer stören zwei Dinge seine Ruhe:
Zum einen eine Blaseninfektion, die den unausweichlichen Gang
zur Toilette zu einem unausweichlichen Gang durch die Hölle
macht, zum anderen sein Kollege Percy Wetmore, ein kleines,
fieses Arschloch. Als Neffe der Frau des Gouverneurs könnte
er jeden Job haben, den er will, aber er ist nicht bereit zu
gehen, bevor er nicht einen der Verurteilten „aus der Nähe
braten“ gesehen hat. Ein Sadist und Menschenverachter, für
den die Gefangenen der letzte Dreck sind: „I think of this place
as a bucket of piss to keep rats in.“ Den anderen Wachmännern
ist Percy ein schmerzender Dorn im Auge, aber sie können
nichts gegen ihn tun, denn der Kleine ist eine ganz hervorragende
Petze und nutzt seine Connections gnadenlos aus.
Die Ankunft eines neuen Gefangenen ändert so manches: John
Coffey („Like the drink. Only not spelled the same.“) ist ein
über zwei Meter großer, 150 Kilo schwerer Schwarzer,
ein Koloss von einem Mann, mit einem Blick so weich wie der
eines Babys. Von Anfang an ist klar, daß es sich bei ihm
nicht um einen normalen Gefangenen handelt. Als Paul ihm am
Ende des Begrüßungsrituals fragt, ob er noch etwas
wissen will, erkundigt sich John, ob nachts das Licht ausgemacht
wird. Er fürchtet sich im Dunkeln. Tatsächlich wirkt
John mehr wie ein ängstliches Kind denn wie ein Schwerverbrecher.
In Embryonal-Stellung kauert er sich auf seine Pritsche, ständig
fängt er an zu weinen. Paul kann nicht glauben, daß
es sich bei diesem Mann um den Mörder zweier kleiner Mädchen
halten soll.
Schnell wird klar, daß John’s Schuld nicht sonderlich
eindeutig ist: Er wurde gefunden mit den Leichen der beiden
Mädchen in seinen kräftigen Armen, bitterlich weinend.
Als Schwarzer im Louisiana der dreißiger Jahre hat er
damit bereits sehr schlechte Karten. Selbst sein Verteidiger
(Gary Sinise, Hanks‘ „Leutenant Dan“ aus „Forrest Gump“ in einer
Minirolle) hielt ihn für schuldig, wenn auch aus ganz persönlichen
Motiven. Paul’s leiser Verdacht, daß sein neuer Gefangener
ein ganz besonderer Mensch ist, soll sich bald auf außergewöhnliche
Weise erhärten.
Bis
zu diesem Moment vergeht bereits mehr als eine Stunde, was in
etwa zeigt, wieviel Zeit sich Darabont mit seiner Geschichte
läßt. Wer „The Shawshank Redemption“ gesehen hat,
der weiß, daß er dies nicht ohne Grund tut. Ohne
sonderliche Hast, die Geschichte zu ihren entscheidenden Momenten
voranzutreiben, verweilt Darabont lange beim Alltag seiner Charaktere
und schafft somit eine Nähe zu den Männern auf der
grünen Meile, wie es nur durch lange Beobachtung möglich
ist. Die Figuren gewinnen enorme Substanz, jeder Charakter formt
sich individuell vor den Augen des Zuschauers, bis jede Reaktion,
jede Gefühlsregung absolut plausibel und logisch erscheint.
Dies gilt nicht nur für Paul und John, sondern auch für
die anderen Wachleute, wie Paul’s besten Freund Brutus (David
Morse), die Insassen des Todestraktes, wie den harmlos-gutmütigen
Eduard Delacroix, bei dem man sich mehr als einmal fragt, was
dieser einfache Mann für ein Verbrechen begangen haben
konnte, oder Paul’s Frau Jan (Bonnie Hunt), und nicht zuletzt
für den Gefängnisdirektor Hal Moores (James Cromwell),
der unglaubliche Qualen durchstehen muß, seitdem seine
Ehefrau an einem Gehirntumor erkrankt ist.
Trotz vieler Parallelen zu „The Shawshank Redemption“ haben
wir es hier dennoch mit einem ganz anderen Film zu tun. Während
das erste Werk des Regisseurs in wundervollen Bildern den wahren
Wert von Hoffnung, Freundschaft und Menschenwürde predigte
und seine Zuschauer mit einem herrlichen Gefühl der Freiheit
entließ, macht es uns „The Green Mile“ längst nicht
so einfach. Im Laufe des Films wird man Zeuge von insgesamt
drei Hinrichtungen, wobei speziell die zweite sehr grausam verläuft.
Dennoch geht es in keiner Sekunde des Films um die Rechtfertigung
der Todesstrafe. Sie ist eine gegebene Tatsache, die für
alle Beteiligten unumstößlich feststeht, und wer
auf die grüne Meile kommt, der wird sie lebend nicht wieder
verlassen. „The Green Mile“ tut uns nicht den Gefallen, uns
eine ähnlich positive und angenehme Botschaft mit auf den
Weg zu geben wie sein geistiger Vorgänger, stattdessen
läßt er uns mit einer Geschichte alleine, bei der
es uns, ebenso wie der Freundin des greisen Paul, selbst überlassen
ist, was wir mit ihr anfangen und wie nah wir sie an uns heranlassen.
Ohne etwas über den weiteren Verlauf des Films verraten
zu wollen (der Verleih bittet die Presse sogar ausdrücklich,
nichts über den Ausgang des Films zu erzählen), sei
zumindest erwähnt, daß er sehr spirituelle Dinge
behandelt. Die Bereitschaft, an unerklärliches und übernatürliches
zu glauben, sollte schon vorhanden sein, sonst wird man mit
dieser Geschichte nicht sehr viel anfangen können.
Es ist beinahe schade, daß Frank Darabont nicht mehr Filme
macht, denn auch hier zeigen sich seine erstaunlichen Fähigkeiten
als Regisseur und Autor. Kaum ein anderer Filmemacher unserer
Tage nimmt sich soviel Zeit mit seinen Figuren, und gerade deshalb
mangelt es vielen Filmen an emotionaler Nähe zum Zuschauer.
Man kann sich nicht wirklich einem innerhalb von 15 Minuten
fertig definierten Charakter verbunden fühlen. Darabont
weiß das, und gibt uns nicht nur Zeit, die Figuren zu
erfassen, sondern auch die richtigen Darsteller. Die schauspielerischen
Leistungen sind von enormer Qualität, wobei ein spezielles
Lob an Michael Clarke Duncan gehen muß: Seine Darstellung
des John Coffey ist jenseits von Schauspielkunst, es ist eine
dieser sehr seltenen Leistungen, die dem Wort „Verkörperung“
wirklich gerecht werden.
Trotz seiner Länge von drei Stunden ist „The Green Mile“
keine Minute zu lang. Es gibt so viel in diesem Film zu sehen,
zu hören und zu erleben, daß selbst eine zweiseitige
Zusammenfassung nur einen kurzen Abriß bieten könnte.
Die Brillanz der Vorlage läßt sich in jeder Szene
erahnen, und diese kraftvolle Visualisierung seines
Romans erhebt Stephen King ein weiteres Mal über einen
simplen Bestseller-Autor. Jenseits seiner so beliebten Horrorschinken
führt King ein Dasein als kongenialer Geschichtenerzähler,
der Charaktere von seltener Wahrhaftigkeit zeichnet. Frank Darabont
ist bis dato der einzige Regisseur, der in der Lage scheint,
dies nicht nur zu begreifen, sondern auch umzusetzen.
Ich bin mir nicht sicher, daß alle Fans von „The Shawshank
Redemption“ ähnlich enthusiastisch auf diesen Film reagieren
werden, denn er läßt den Zuschauer mit so mancher
unbeantworteter Frage zurück, und ist generell keine sehr
leichte Kost. In handwerklicher, künstlerischer und emotionaler
Kraft steht „The Green Mile“ dem Erstling seines Regisseurs
jedoch in nichts nach.
Die Oscars werden auch in diesem Jahr unter anderen Filmen aufgeteilt
werden. Aber das ist nicht weiter schlimm. Für manche Werke
ist es besser, wenn sie ein stilleres Dasein als oft vergessene
Perlen der Filmkunst führen. „The Shawshank Redemption“
gelangte so zu einer Bewunderung, die anderen, erfolgreicheren
Filmen verwährt blieb. Es ist durchaus möglich, daß
es „The Green Mile“ ähnlich ergehen wird.
Originaltitel
The Green Mile
Land
Jahr
1999
Laufzeit
182 min
Genre
Regie
Release Date
Bewertung
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