Der Junge und der Reiher

Originaltitel
Kimitachi wa dô ikiru ka
Land
Jahr
2023
Laufzeit
124 min
Genre
Release Date
Bewertung
8
8/10
von Matthias Kastl / 9. Januar 2024

Als vor zehn Jahren Hayao Miyazaki seinen Rückzug aus dem Filmgeschäft erklärte ging weltweit ein Seufzen durch die Filmgemeinde. Schließlich kann kaum ein anderer Filmemacher auf eine derart tadellose Filmografie zurückblicken wie der japanische Anime-Regisseur. Ob “Prinzessin Mononoke“, “Spirited Away - Chihiros Reise ins Zauberland“ oder “Das wandelnde Schloss“, egal was der Meister mit dem von ihm mitgegründeten Studio Ghibli auch anfasste, es wurde fast ausnahmslos zu purem Kinogold. Mit großen Künstlern und einem entspannten Rentnerdasein ist das ja aber oft so eine Sache und so kündigte Miyazaki schon drei Jahr später wieder seinen Rücktritt vom Rücktritt an. Das Ergebnis davon präsentiert uns der inzwischen 83-jährige nun nach sieben Jahren Arbeit mit “Der Junge und der Reiher“ und liefert (wen überrascht es) einen gelungen Epilog auf seine eindrucksvolle Karriere – auch wenn der Film nicht ganz die Perfektion früherer Meisterwerke erreicht.  

Gespickt mit allerlei Parallelen und Anspielungen auf sein eigenes Leben erzählt Miyazaki in “Der Junge und der Reiher“ die Geschichte von Mahito (deutsche Stimme: Laurin Lechenmayr), der im Pazifikkrieg als Kind bei einem Luftangriff auf traumatische Weise seine Mutter Hisako verliert. Im folgenden Jahr heiratet sein Vater Shoichi (Manou Lubowski) überraschend Natsuko (Laura Maire), die Schwester seiner Mutter, und entscheidet mit seinem Sohn zu dieser aufs Land zu ziehen. Dort fühlt sich Mahito allerdings so gar nicht heimisch, fremdelt er doch stark mit der inzwischen bereits schwanger gewordenen Natsuko. Noch dazu scheint ihn ein mysteriöser Graureiher (Thomas Wenke) zu verfolgen und in einen mysteriösen alten Turm in der Nachbarschaft locken zu wollen. Mahito ahnt dabei nicht, welch seltsame und gefährliche Reise dort schon bald für ihn beginnen wird.  


Eine Reise, die sich (wie es sich für Filme von Miyazaki gehört) natürlich als großes und phantasiereiches Abenteuer entpuppt, mit genauso heiteren wie düsteren Momenten. Und obendrauf natürlich mit diesem speziellen Miyazaki-Gefühl, einer faszinierenden Mischung aus Wärme und Traurigkeit, die sich wie Tau über die ganze Geschichte und deren Figuren legt. Wie immer bei den Werken von Studio Ghibli sind die Animationen natürlich über alle Zweifel erhaben und mit soviel Liebe und Phantasie gestaltet, dass man sich in ihnen am liebsten verlieren möchte. Und das bezieht sich nicht alleine auf die mit viel Detailreichtum und oft spannenden Widersprüchen ausgestatteten Locations, wie einem von Pflanzen überwucherten alten Schiff, das ruhig auf dem Ozean treibt. Wenn zu Beginn mehrere ältere Haushälterinnen ihren Auftritt haben, dann zeigt der Film auch meisterhaft, wie man ohne viele Worte interessante Charaktere generiert. In dem man nämlich alleine durch das Aussehen, den Gang und die Gestik jede dieser Figuren auf liebevolle Art ihre ganz eigene Persönlichkeit verpasst.

Natürlich wimmelt es hier auch wieder nur so von kreativen und meist grotesken Kreaturen, denn natürlich ist bei Miyazaki ein Graureiher nicht einfach nur ein Graureiher. Und so kommen dann endlich auch mal Sittiche die Chance in einem Film die Rolle von Bösewichten zu übernehmen. Neben manch abstrus wirkenden Gesellen ist aber natürlich auch wieder Platz für einige starke Frauenfiguren womit wir uns auch wieder in durchaus vertrautem Studio Ghibli Terrain bewegen. Aber so ein kleines Best-of zum Abschluss möchte man dem Meister ja nicht verwehren und so sind es auch wieder einmal ein paar kleine weiße Wesen (die Waldgeister aus “Prinzessin Mononoke“ lassen grüßen), die den Film mit ihrer niedlichen Präsenz beehren.


Im Vergleich zu manch anderen seiner Filme wirkt Miyazakis “Der Junge und der Reiher“ aber auch manchmal ein wenig sprunghafter und fast überladen, da schnell spürbar wird, dass man hier eine sehr epische Parabel über Leben, Wirken und Tod erzählen möchte. Nicht von ungefähr stellt der viel besser passende japanische Originaltitel übersetzt ja auch die Frage “Wie lebst du?“. Dabei trägt die Geschichte einige autobiographische Züge von Miyazaki, der zum Beispiel ebenfalls als Kind während des Krieges Tokyo verlassen musste. Die deutlichste Parallele zu dessen Leben findet sich aber in einer Figur, die am Schluss ebenfalls dem Ende ihres kreativen Schaffens ins Auge blicken muss. So wird “Der Junge und der Reiher“ dann auch zu einer Abschiedserklärung von Miyazaki an das eigene Wirken und sorgt so natürlich noch einmal für eine zusätzlich kleine Träne in den Augen seines treuen Publikums.    

Doch trotz dieser sehr persönlichen Botschaft kann der Film nicht ganz die Höhen vieler seiner Vorgänger erreichen. Zu episodenhaft wirkt die Geschichte im Vergleich zu Miyazakis großen Meisterwerken. So gehen die einzelnen Teile gefühlt manchmal etwas unrund ineinander über, so dass der Film sich hin und wieder emotional etwas selbst ausbremst. Wie schon gesagt passiert hier sehr viel und gerade die Fülle an Metaphern, die auf einen einprasseln, kann dann doch auch etwas erdrückend sein – bei aller Liebe für Interpretationsspielraum. So fühlt es sich an als ob man teilweise sich ein klein wenig überhebt. Zugleich werden auch die Motive der Hauptfigur mit der Zeit etwas unklarer und schwerer nachvollziehbar, so dass die Identifikation mit Mahito nicht zu 100 Prozent immer gelingt. So schöpft der Film, bei all seiner Klasse, sein emotionales Potential am Ende leider nicht komplett aus.


Aber diese Kritikpunkte sollen nicht darüber hinwegtäuschen, dass Miyazaki hier natürlich trotzdem ein wirklich schöner Schwanengesang gelingt und in dem Film mehr Kreativität, Liebe und Hingabe steckt als in den meisten anderen Vertretern dieses Genres. Mit inzwischen 83 Jahren dürfte angesichts der langen Produktionszeiten dieser Filme für Miyazaki aber nun wohl wirklich Schluss sein. Angesichts der Tatsache, dass dieser Film ursprünglich aber gar nicht existieren sollte wollen wir an dieser Stelle aber keine Tränen vergießen, sondern mit einem glücklichen Lächeln Danke sagen für diesen letzten bittersüßen und schönen kreativen Ritt.

Bilder: Copyright

9
9/10

Disney sollte sich von Ghibli Studio eine Scheibe abschneiden, denn so werden gut animierte Filme gemacht.

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